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Ein nacktes Haus schwitzt Mörtel
Neue Zürcher Zeitung

In Zürich wagt eine kleine Villa die Balance zwischen roher Materialität und präziser Eleganz. Als eines von über hundert Häusern ist es nächstes Wochenende auch von innen erfahrbar.

26. September 2019 - Sabine von Fischer
Nicht alle Häuser tragen ein Kleid, manche sind einfach nackt. Wann ein Haus fertig ist, folgt keiner starren Regel, sondern vor allem dem ästhetischen Sinn von Bauherrschaft und Architekten. Und die waren in der Laune, etwas in Zürich noch nie Gesehenes zu realisieren: eine Fassadenhaut, an der die Arbeit des Bauens am Material ablesbar ist, und zwar nicht nur an den Oberflächen, sondern dreidimensional, als Relief.

Das Haus Alder in Zürich Wipkingen zeigt seine rohe Haut mit allen ihren Poren und Pickeln, Falten und Narben. So zeichnen sich auf den Betonflächen von Sockel und Dachgeschoss die Kanten, Kratzer und Linien der Schalungsplatten ab, und die Backsteine stossen mit ihrem Gewicht und ihrer Form den Mörtel so aus den Fugen, dass er herausquillt und ein unregelmässiges, grobes, textil anmutendes Netz über die erdig-rötliche Fassade legt. Die ungewohnte Komposition der Materialien ist ein Statement und verfehlt ihre Wirkung nicht. Fachwelt und Publikum sind gleichermassen verblüfft.

Ein Palazzo mit «Pflüder»

Die Dreiteilung der Fassade in Sockel, Obergeschosse, Dachkante reiht das Haus in den klassischen Kanon der Architektur ein. Wie ein Palazzo wendet sich die Fassade zur Strasse, nur eben eigenwillig. Der Betonfuss des Gebäudes springt zurück und wird strassenseitig so schmal, dass es zu balancieren scheint. Der Dachaufbau ist ebenfalls betonschwer und zeichnet in einer künstlerischen Interpretation der Baugesetze schräge Linien um das skulpturale Volumen. Präzise geschnittene Betonkanten und die scharfen Linien der Fensterrahmen aus Chromstahl bilden die Fassung: Dazwischen spannt sich die nackte Gebäudehaut.

In dem Moment, nachdem die Backsteine des Doppelmauerwerks in den Mörtel gelegt worden waren und bevor die verdrängte Masse abgezogen worden ist, ist die äussere Fassade fest und hart geworden. Aus den Fugen zwischen den gebrannten Quadern quillt nun für immer der «Pflüder», wie die Architektin Gabrielle Hächler den erstarrten Mörtelschlamm nennt. «Brut», ein erstarrter Augenblick mitten im Bauprozess – aber die Dreiteilung und die feinen Chromstahlkanten verraten, dass die Komposition dieses Hauses exakten Absichten folgt.

Familiengeschichten weiterspinnen

Nicht nur Wagemut und Experimentierlust, auch Erinnerungen haben dieses Haus inspiriert. Auch aus den Fugen zwischen den Backsteinen des väterlichen Ateliergebäudes in Lenzburg, wo Gabrielle Hächler aufgewachsen war, quoll der Mörtel heraus. Der Architekt Pierre Zoelly, Freund der Bildhauerfamilie, hatte nie verraten, wo er die Idee gefunden hatte.

Und auch der unbehandelte Beton ist eine Kindheitserinnerung, auch aus einem Elternhaus, demjenigen ihres Partners Andreas Fuhrimann, dessen Eltern die Schweizer Architektur der Nachkriegszeit mitgeprägt haben.

Diese Affinität für einfache, ausgefallene Materialien teilt das Architektenpaar mit der Bauherrschaft, die seit fast dreissig Jahren in einem geerbten Häuschen am Hang des Waidbergs unmittelbar neben dem Altersheim Trotte wohnte. Das vormalige Arbeitereinfamilienhaus der Firma Escher-Wyss aus dem Jahr 1919 war der dreiköpfigen Familie zu eng geworden.

Konventionen zu hinterfragen, ist für die Bauherrschaft auch sonst Teil ihres Alltags: Er befasst sich als Anwalt regelmässig mit Design- und Urheberrechten, sie trug auch schon den Dichtungsring eines Dampfkochtopfs als Halskette zur Arbeit. Das Paar nahm die Herausforderung, ein eigenes neues Haus zu bauen, als Initialzündung, die Architektur überhaupt zu überdenken. Dass es zu Ende geführt werden konnte, ist sicher auch dem Umstand zu verdanken, dass Nachbarn und Bewohner sich bereits Jahrzehnte kannten und so nur die Hüllen, aber nicht die Menschen neu für das Quartier waren. Und dass der Neubau um einiges grösser ist als der Vorgänger, relativiert sich am Alterszentrum Trotte in seinem Rücken, das bereits alle Empörung über zu viel Grösse auf sich zog.

Aussen kantig, innen fliessend

Die Gleichzeitigkeit des provokativ Rohen und der exakten Form ist ein Balanceakt, den die Architekten Gabrielle Hächler und Andreas Fuhrimann mit ihren Mitarbeitern schon viele Male ausgeführt haben, diesmal sogar prominent mitten in der Stadt.

So ungeschliffen wie sich das Haus mit seinen absichtlich nicht nachbearbeiteten Oberflächen nach aussen wendet, so harmonisch fliesst die Raumsequenz innen vom Boden bis unters Dach, und dann sogar noch weiter hinaus und hinauf über zwei Aussenterrassen. Die Wohnung ist eine einzige Abwicklung von ineinander übergehenden Räumen über fast 300 Quadratmeter auf vier Geschossen, verbunden über eine sich hinaufdrehende Treppenskulptur. Einzig Schiebetüren modulieren den Übergang der offenen Zonen zu den zwei Schlafzimmern, konventionelle Türen mit Scharnieren gibt es nur zu den Balkonen, den Toiletten und am Haupteingang im Betonsockel. Lachsrot legt sich der Storenstoff über die Fenster und der Farbanstrich über die Nassbereiche im Bad, in einer radikalen Einfachheit und doch vielschichtig, nämlich in der Assoziation des Hauses zum Körper und der Wände zur Haut.

Kein Gewand, sondern nackte Haut

Brutalismus war der Name, unter dem der High-Tech-Optimist und Hippie-Architekturtheoretiker Reyner Banham die rohen Betonriesen der Nachkriegszeit zusammenfasste – etwa zur gleichen Zeit, als die Werbung die nackte Haut entdeckte und Models ihre Hüllen fallen liessen. Nicht nur Menschen, auch Häuser haben die Ästhetik der nackten Haut entdeckt, in der Architektur sogar ganz ohne Make-up und mit einer Überhöhung der Flüssigkeiten, die aus den Poren dringen.

Über Hülle, Gewand und Bekleidung gibt es in der Architektur viel mehr Theorien als über die Nacktheit. Bis auch diese Theorien Regale füllen, muss noch viel Mörtelschweiss zwischen Backsteinen hervorquellen und als erstarrter «Pflüder» die Sehgewohnheiten irritieren. Und vielleicht passiert dies rascher, als man denkt, denn schliesslich bedeutet ressourcenschonendes und materialgerechtes Bauen auch, sich auf die Natur der Dinge zu besinnen.
Open House: Ein Wochenende lang offene Türen

Weil sich Häuser und Räume erst beim hautnahen Besuch und in der Begehung erschliessen, öffnen am kommenden Wochenende über hundert Zürcher Bauwerke ihre Türen. Während Open House Zürich am 28. und 29. September können in privaten und öffentlichen Gebäuden Führungen gebucht werden. Darunter sind das Hauptgebäude der Neuen Zürcher Zeitung an der Falkenstrasse 11 wie auch zahlreiche in unserer Zeitung besprochene Häuser, das neueste unter diesen das Haus Alder in Zürich Wipkingen. Für die vollständige Liste siehe openhouse-zuerich.org/orte. Zu früheren NZZ-Texten zu «Open Houses» des kommenden Wochenendes gibt es unten eine Reihe von Links.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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