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Zurück gibt es keines: das Regierungsprogramm und die Architektur
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Ein neues Jahrzehnt, eine neue EU-Kommission, eine neue Regierung. Wie kann die Vision einer Architektur aussehen, die dieser neuen Ära angemessen ist? Und kommt jetzt der radikale Umbau, den nicht nur die Fridays-for-Future-Generation erwartet?

21. Januar 2020 - Christian Kühn
Manche Jahrhunderte brauchen etwas länger. Der Historiker Eric Hobsbawm sprach vom langen 19. Jahrhundert, das von 1789 bis 1914 gedauert hätte, eine Verkettung von Ereignissen von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg. Auch das 20. Jahrhundert scheint ein langes gewesen zu sein, eines, das seine Problemlagen und Ideologien noch weit ins 21. Jahrhundert hineintragen konnte. Obwohl die Grenzen des Wachstums schon in den frühen 1970er-Jahren Thema waren, hat die Welt weitergelebt, als gäbe es diese Grenzen nur in der Theorie.

Im Moment verdichten sich die Anzeichen, dass wir wirklich in einem neuen Jahrhundert angekommen sind: Die Klimakatastrophe ist kein abstraktes Szenario mehr, sondern harte Realität. Selbst wenn die Erderwärmung für die australischen Flächenbrände nur Brandbeschleuniger und nicht Ursache war, werden sich die Bilder eines brennenden Kontinents als Auftakt eines neuen Zeitalters ins kollektive Gedächtnis einprägen. Sie suggerieren eine Dringlichkeit, die alle Lebensbereiche erfasst. Architektur, Städtebau und Raumplanung sind dabei gleich mehrfach betroffen. Sie sind wesentliche Mitverursacher der Erderwärmung: Beim Bauen kommen Materialien zum Einsatz, die mit hohem Energieaufwand hergestellt werden. Häuser müssen geheizt und – immer öfter – gekühlt werden. Ihre Haltbarkeit ist begrenzt, und statt recycelt zu werden, landet Bauschutt zum überwiegenden Teil auf der Deponie. Auch der Verkehr ist ein indirekter Effekt von Stadt- und Raumplanung. Je disperser die Siedlungsräume, desto größer die Abhängigkeit vom Individualverkehr.

Die neue Regierung verdankt ihre Existenz zu einem guten Teil den Folgen dieser Entwicklung. Ihre Ankündigung, ab 2030 Strom ausschließlich aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen und Österreich bereits im Jahr 2040 „klimaneutral“ zu machen, zehn Jahre früher als die EU in ihrem „Green Deal“, ist nur mit radikalen Maßnahmen umzusetzen. Um diese Versprechen einzulösen, müsste die Regierung – zugespitzt formuliert – fünf Jahre lang konsequent an ihrer Nicht-Wiederwahl arbeiten und dabei Fakten schaffen, die nicht mehr reversibel sind. Es ist daher kein Wunder, dass das Regierungsprogramm bei den Maßnahmen unschärfer ist als bei den Zielen. Was das Programm als „Phase-out-Plan für fossile Energieträger in der Raumwärme“ beschreibt, läuft auf den stufenweisen Verzicht auf Öl- und Gasheizsysteme hinaus, der spätestens 2035 abgeschlossen sein soll. Für den ländlichen Raum soll ein „weitgehend stündliches Angebot“ an Mobilitätsservices geschaffen werden, das klassische ÖV-Komponenten mit Sammeltaxis und Sharing-Plattformen verbindet.

Ein weiteres raumbezogenes Kernthema sind die Biodiversität und ihre Bedrohung durch immer stärkere Bodenversiegelung. Im Kapitel Umwelt- und Naturschutz findet sich ein Abschnitt über „Zukunftsfähige Raumordnung“, der einen Zielpfad zur Reduktion des Flächenverbrauchs auf 2,5 Hektar pro Tag bis 2030 inkludiert, ein Viertel des aktuellen. Erreicht werden soll das durch eine aktive Bodenpolitik und Stärkung der Ortszentren, wie sie die Österreichische Raumordnungskonferenz seit Jahren empfiehlt, sowie durch eine generelle Förderung der Baukultur, entsprechend den Baukulturellen Leitlinien des Bundes und den Empfehlungen des dritten österreichischen Baukulturreports.

Dort, wo die öffentliche Hand als Bauherrin auftritt, soll sie Vorbildwirkung entfalten: Die Regierung verspricht im Neubau verpflichtende PV-Anlagen und einen „Niedrigstenergiestandard“, dazu eine Sanierungsrate von drei Prozent und verbindliche Leitlinien für ökologisch vorbildhafte Sanierung. Für den Bereich des Bildungsbaus soll ein neuer Schulentwicklungsplan in Abstimmung mit Ländern und Gemeinden entstehen, unter Berücksichtigung pädagogischer und ökologischer Ziele. Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern soll generell auf die Erreichung der Klimaziele hin orientiert werden, etwa in der Wohnbauförderung. Dazu heißt es im Abschnitt zum Thema Wohnen: „Vergabe von Wohnbaufördermitteln nur noch unter der Voraussetzung, dass umweltschonend gebaut wird“. Nachverdichtung soll Vorrang vor dem Neubau auf der „grünen Wiese“ erhalten, eine neue Wohnraumpolitik Wohnraum leistbarer machen, die Bildung von Eigentum erleichtern und Mieten günstiger gestalten, wofür eine umfassende Reform des Wohnrechts versprochen wird. Dass ein leistbarer genossenschaftlicher Mietwohnungsbau und nicht die private Eigentumsbildung der Kern des erfolgreichen österreichischen Modells der Wohnbauförderung ist, sollte bei dieser Reform nicht vergessen werden.

So richtig es ist, die Politik des nächsten Jahrzehnts konsequent auf Entkarbonisierung auszurichten, so wenig lassen sich Architektur und Städtebau auf ihren Beitrag zur Reduktion des CO2-Ausstoßes in die Atmosphäre reduzieren. Als künstlerische Disziplinen müssen sie auf eine neue Ära auch formal reagieren und nach räumlichen Antworten auf die Fragen der Zeit suchen. Jedes Bau- oder Planungsprojekt stellt implizit die Frage nach dem „guten Leben in einer gerechten Gesellschaft“. Diese Frage ist heute besonders brisant, weil die Mechanismen des Klimawandels unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit herausfordern. Wenn man die Verantwortung für die Klimakatastrophe an der Gesamtmenge CO2 misst, die seit Beginn der industriellen Revolution vor 250 Jahren in einer Region durch Verbrennung in die Atmosphäre gelangt ist, und diese Menge auf die heute dort lebenden Menschen aufteilt, zeigt sich ein beschämendes Bild: Hätte ein Bewohner Äthiopiens ein „Kilogramm Verantwortung“ zu tragen, kämen auf einen Inder 23, auf einen Chinesen 95, auf einen Österreicher 400 und auf einen Bewohner der USA 816 Kilogramm (ourworldindata.org). „Climate Justice. Now“ lautet folgerichtig der Slogan der Fridays-for-Future-Bewegung.

Wie kann die Vision einer Architektur aussehen, die dieser neuen Ära angemessen ist? Sie wird den Charakter des Vorläufigen, Suspendierten haben müssen, geplant von Menschen, die gelernt haben, die Präzision von Raumfahrtingenieuren mit der Geduld von Gärtnern zu kombinieren. Mit den angekündigten radikalen Schritten bewegt sich die EU bezüglich „Climate Justice“ zumindest in richtige Richtung. Dabei geht es nicht einfach um Vorbildwirkung. Es geht um die moralische Legitimation für die nächsten Schritte: Schaffung eines „Climate Club“, wie ihn der Nobelpreisträger William D. Nordhaus vorgeschlagen hat, der den gesamten Handel mit Volkswirtschaften, die sich keine oder weniger ambitionierte Klimaschutzziele setzen, moderaten Zöllen unterwirft. Nach den vielen „letzten“ Chancen, die scheinbar ungestraft verpasst wurden, könnte mit solchen Lösungen eine geregelte Transformation gelingen. Das Alternativszenario wäre eine Welt, in der die wichtigsten Gebäude Mauern, Bunker und Festungen sind.

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