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Wer zahlt die Krise?
Der Standard

In einem offenen Brief werden Vermieterinnen und Hauseigentümer zur Verantwortung gezogen. Sie sollen in Härtefällen Mietern unter die Arme greifen. Auch langfristige Wohnrechtsreformen werden gefordert. Ein Aufruf.

18. April 2020 - Wojciech Czaja
Die Corona-Krise konfrontiert uns mit einer Realität, die wir in dieser Form noch nie zuvor erlebt haben“, sagt Simon Andreas Güntner. Der deutsche Soziologe ist Professor an der TU Wien und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Raumsoziologie und Fragen des urbanen Zusammenlebens. „Entsprechend neu und ungewohnt ist die derzeitige Definition des Wohnens, das sich durch die Überlappung mit zusätzlichen Funktionen wie etwa Schule und Arbeit vollkommen verändert. Wir müssen uns damit arrangieren, dass die Wohnung nun mehr ist als bloß der Ort des persönlichen Rückzugs. Wir müssen das Wohnen neu lernen.“

Doch während die einen damit beschäftigt sind, ihre Wohnung umzubauen und coronatauglich zu machen (das Architekturzentrum Wien hat dazu sogar einen Instagram-Aufruf unter dem Hashtag #WieWirCoronaWohnen gestartet), fürchten die anderen schlichtweg um ihre Existenz. Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und der plötzliche Entfall von Umsätzen und selbstständigen Lebensgrundlagen führen in tausenden Fällen zu prekären Situationen.

Die Folge sind Mietrückstände, finanzielle Mittellosigkeit und manchmal sogar auslaufende Mietverträge, die laut dem viertem Covid-19-Bundesgesetz zwar in beiderseitigem Einvernehmen zwischen Mieter und Vermieter verlängert werden „können“ – aber eben nicht müssen. In Härtefällen kann der Vermieter den befristeten Vertrag beenden – und das in einer Zeit, in der Wohnungssuche, Übersiedelung und Möbelbeschaffung de facto unmöglich durchzuführen sind.

„Die kurzfristigen Maßnahmen und wirtschaftlichen Konsequenzen rund um die Corona-Krise machen die schon seit langem bestehende Problematik Wohnen jetzt umso deutlicher“, sagt die Wiener Architektin Gabu Heindl, die an der Architectural Association (AA) in London unterrichtet. „Mit den 1994 eingeführten Lagezuschlägen und Befristungen, die heute gang und gäbe sind und die die Mieterinnen alle drei Jahre vor potenzielle Wohnungslosigkeit stellen, wenn sie nicht den Mund halten und laufende Mieterhöhungen in Kauf nehmen, was wiederum zu Mietexplosionen am privaten Wohnungsmarkt führt, wurde das Mietrechtsgesetz mehr und mehr prekarisiert.“ Und das Problem ist kein geringes: Allein 2017 wurden 70 Prozent aller privaten Wiener Mietverträge befristet abgeschlossen.

Um auf die bestehenden Missstände hinzuweisen, die in der Corona-Krise mitunter zu Ausweglosigkeiten führen, verfasste Heindl gemeinsam mit Bettina Köhler, Stadtforscherin und Sozialwissenschafterin an der Universität Wien, einen offenen Brief mit dem Titel Wer zahlt die Krise? , der dieser Tage über mehrere Print- und Onlinemedien publikgemacht wurde. Mehr als hundert Wissenschafter, Architekturschaffende und Universitätsprofessorinnen haben sich dem Brief mit ihrer Unterschrift angeschlossen.

Problem Befristungen

Zu den darin geäußerten Forderungen zählen unter anderem die Stärkung der Mittel und Kapazitäten von Frauenhäusern, die Öffnung von Hotels, Airbnb-Apartments und leerstehenden Wohnungen für Wohnungs- und Obdachlose, die Aussetzung von Kündigungen und Mieterhöhungen während der Corona-Krise sowie klare Regelungen zu Mietzinsreduktionen und Mietenerlässen als Alternative zu den im Bundesgesetz dargestellten Mietstundungen, die mit bis zu vier Prozent verzinst werden dürfen und die die Mieter mittelfristig sogar noch stärker belasten.

„Wohnen ist wie Bildung, Arbeit und Gesundheit ein Menschenrecht, doch in der Corona-Krise ist dieses Menschenrecht noch stärker gefährdet“, sagen Heindl und Köhler. „Der Umstand, dass wir immer mehr Wohnraum in die Hände von Fonds, internationalen Konsortien und institutionalisierten, gewinnorientierten Großbesitzverwaltern übergeben, macht das Einfordern dieses Grundrechts nicht gerade einfacher, aber umso wichtiger.“

Auch Martin Orner, Obmann und Geschäftsführer des gemeinnützigen Bauträgers EBG, selbst Mitunterzeichner des Briefs, meint: „Wir haben in der Corona-Krise mit Ausfällen zu rechnen, und es stellt sich die Frage, wie wir diese finanziellen Lasten fair verteilen. Es kann nicht sein, dass die Verluste von den Schwächsten in der Gesellschaft getragen werden müssen, während die Gewinne bei den Reichsten unangetastet bleiben. Daher braucht es eine Regelung, wie auch Vermieterinnen und Grundstückseigentümer ihre soziale Verantwortung wahrnehmen.“ Für in Not geratene Vermieter schlagen die Autorinnen im offenen Brief die Errichtung eines Härtefonds vor.

„Die Corona-Krise macht nichts anderes, als schon lang bestehende Problemlagen zuzuspitzen“, kontert Barbara Ruhsmann, Obfrau des Forums Wohn-Bau-Politik. „Ich glaube allerdings nicht, dass es hilft, wenn jetzt alle in denselben Debattenmustern verbleiben wie in den letzten Jahrzehnten auch schon. Fruchtbarer wäre es, unsere Wohnpolitik überhaupt gründlich zu überdenken, das Mietrechtsgesetz zu reformieren und – wie im türkis-grünen Regierungsprogramm angekündigt – die Expertise der Bevölkerung in Form von Enqueten und Bürgerkonvents einzubeziehen.“

Selbstredend, dass der offene Brief auch in der Immobilienwirtschaft nicht nur auf Zustimmung stößt. „Gerade die privaten Immobilieneigentümer haben schon im Zuge der Regelungen der Gewerbemieten eine immense Belastung zu spüren bekommen“, sagt Sandra Bauernfeind, Vorstand des Österreichischen Verbands der Immobilienwirtschaft (ÖVI). „Daher sind wir um einen offenen Dialog zwischen Vermieter und Mieter bemüht – allerdings ohne weitere zusätzliche legistische Regelungen.“ Martin Prunbauer, Präsident des Österreichischen Haus- und Grundbesitzerbundes (ÖHGB), meint: „Private Immobilieneigentümer leisten einen großen Anteil an der Gesamtinvestitionssumme im Bau- und Baunebengewerbe und erweisen sich als stabiler Konjunkturmotor für die heimische Wirtschaft. Diesen Menschen jetzt noch mehr wegzunehmen ist eindeutig der falsche Weg.“

Die Diskussion ist eröffnet

Und Kaspar Erath, Obmann des Vereins zur Revitalisierung und architektonischen Aufwertung der Wiener Gründerzeithäuser, äußert sich auf Anfrage des ΔTANDARD: „Ernährung und Gesundheit sind auch ein Grundrecht. Niemand kommt auf die Idee, die Supermärkte und Apotheker zu attackieren und zu fordern, Lebensmittel und Arzneien im Härtefall kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Warum also beim Wohnen? Wenn das so weitergeht, dann können wir am besten gleich alle enteignen und eine riesengroße österreichische Kommune machen!“

Die Diskussion ist eröffnet. Der offene Brief mit Forderungen an die private Immobilienwirtschaft und längst überfälligen Fragen der Risikoverantwortung und Verteilung auf der einen Seite sowie die Ängste und Gegenwehrmechanismen der privaten Wohnungsvermieter und ihrer Interessensvertretungen auf der anderen Seite zeigen vor allem eines auf – dass die Bundesregierung in Sachen Wohnrecht und Mietrechtsgesetz in und nach Corona einige dringend anstehende Hausaufgaben zu erledigen hat.

„Wir müssen verstehen“, sagt Bernd Rießland, Vorstandsmitglied der Sozialbau AG und Obmann des Österreichischen Verbands gemeinnütziger Bauvereinigungen (GBV), „dass der österreichische Staat in der Corona-Krise kein Bösewicht ist, sondern lediglich in unser aller Interesse als Organisator und Manager mit entsprechenden Corona-Maßnahmen agiert, weil es ja auch unser aller Interesse ist, diese Pandemie so gut wie möglich zu überstehen. Daher ist es auch nötig, dass sich jeder mit seinen zur Verfügung stehenden Ressourcen in dieser Krise beteiligt – die Armen wie die Reichen, die Mieter wie die Vermieter, die Privaten wie die Gemeinnützigen.“

Wie lautet der so oft gehörte Corona-Slogan? „Gemeinsam schaffen wir das!“ Aus dieser notgedrungenen Arbeitsgemeinschaft ist niemand ausgenommen.

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