Artikel

Atemübungen für die Zukunft
Der Standard

In den letzten Wochen haben wir uns an dieser Stelle dem Thema Wohnen gewidmet. Doch wie wollen wir morgen und übermorgen eigentlich arbeiten? Das oberösterreichische Unternehmen Grüne Erde zeigt vor, wie es gehen könnte. Ein Besuch vor Ort.

25. April 2020 - Wojciech Czaja
Im Winter, wenn die erste Schneeflocke fällt“, sagt Maria Kainrad, „starren wir alle wie gebannt in unser bewaldetes Atrium, und jetzt in der Corona-Krise, wo wir in der Produktion ausnahmsweise Schichtbetrieb eingeführt haben, damit wir uns aus dem Weg gehen können und nicht so nah beisammensitzen müssen, sehen wir, wie sich die Laub- und Nadelbäume in den Abendstunden orangerot färben und wie die Sonnenstrahlen in den Glasscheiben reflektiert werden. Schaut einfach nur wunderschön aus.“

Kainrad, 55 Jahre alt, ist Teamleiterin in der Schneiderei. Gemeinsam mit ihren 20 Mitarbeiterinnen in der Abteilung sitzt sie zwischen Nähmaschinen, Dampfbügelgeräten und schrankgroßen, radgetriebenen Spulen, auf die Fäden, Garne und naturfarbene Baumwollstoffe aufgewickelt sind. Doch anders als in anderen Fabriken ist sie nicht Gefangene in irgendeiner gesichtslosen Industriehalle mit Dämmpaneelfassade und Trapezblechdecke, die einzig und allein dem Prinzip der Kosteneffizienz folgt, sondern arbeitet in einem mittlerweile preisgekrönten Holzbau – mit Blick auf eines von insgesamt 13 begrünten Atrien, die wie sinnliche Luft- und Pflanzenwürfel aus dem rund 9000 Quadratmeter großen Gebäude ausgestanzt sind.

Die Rede ist vom neuen Schauraum und Produktionsstandort des oberösterreichischen Unternehmens Grüne Erde. Hier, im abgeschiedenen Almtal, eine spazierende Viertelstunde vom Bahnhof Viechtwang entfernt, kann man nicht nur Möbel und Wohnaccessoires kaufen und nebenbei in der Geschichte der 1983 gegründeten Firma schmökern, sondern auch den insgesamt 50 Arbeiterinnen und Arbeitern in der Polster- und Matratzenproduktion bei ihren einmal feinstofflichen, einmal kräftezehrenden Handgriffen über die Schulter schauen.

„Der alte Produktionsstandort war viel zu klein und seit Jahren schon veraltet“, erinnert sich Reinhard Kepplinger, Geschäftsführer und Co-Eigentümer der Grünen Erde. „Daher war klar, dass wir früher oder später expandieren müssen. Auf diesem Grundstück in Pettenbach, auf dem sich einst die Fabrikationshalle eines Küchenherstellers befand und wo wir daher keinen einzigen Quadratmeter Land zusätzlich versiegeln mussten, fand sich die perfekte Gelegenheit. Das war die Geburtsstunde unserer neuen Homebase, die wir nun Grüne-Erde-Welt nennen.“

Daniel-Düsentrieb-Wahnsinn

Kepplinger, ein Gentleman-Lächeln im Gesicht, sieht aus, als wäre er einem Zegna- oder Jil-Sander-Katalog entsprungen, doch unter den edlen Tüchern schlägt sein Herz für Filz, Wolle, Ökolatex, bienengewachstes Holz und eigens gezüchtetes Kapok, dessen wolkig-flaumige Samenfasern als vegane Alternative zu Federn und Daunen verwendet werden. Hinzu kommt eine Portion Daniel-Düsentrieb-Wahnsinn, denn das gesamte Möbelprogramm von Grüne Erde kommt ohne ein einziges Stück Metall aus, ohne Schraube und ohne Scharnier, und besteht daher aus teils traditionellen, teils selbstentwickelten Steckverbindungen und mechanisch beweglichen Details.

„Diesen Geist“, sagt Architekt Klaus Klaas Loenhart, „galt es, in das Gebäude zu übersetzen.“ Loenharts Herz ist nicht minder grün beschaffen, ist er mit seinem Grazer und Münchner Büro Terrain doch derjenige, der auf der Expo 2015 in Mailand den mit 56 Bäumen und fast 13.000 Stauden bewaldeten Österreich-Pavillon Breathe.Austria entwarf und in Anlehnung daran das Grüne-Erde-Haus als Breathing Headquarters bezeichnet.

„Auf Metall kann man auf der Baustelle freilich schwer verzichten“, so Loenhart, „daher haben wir uns die Frage gestellt, wie wir die Radikalität und ökologische Kompromisslosigkeit dieses Unternehmens auf den Maßstab der Architektur übertragen können – und haben beschlossen, auf erdölbasierte Produkte zu 98 Prozent zu verzichten.“ Die einzigen zwei Ausnahmen sind die Heizschläuche im Boden und die Gummidichtungen in den Fenstern und Türen.

Das Resultat dieser ressourcenschonenden Bemühungen ist ein Holzbau mit hohen, aussteifenden und zugleich schallschluckenden Holzkassetten an der Decke sowie tragenden, weiß lasierten Fichtenstützen, die einem eigens entwickelten Algorithmus folgen und daher wie zufällig verteilt im Raum stehen. Die ehemalige Betonhalle des Küchenproduzenten wurde zermalmt und zermahlen und führt nun als recycelter Zuschlagstoff in der Fundamentplatte ein Weiterleben nach dem Tod. Das Dach ist mit einer Kautschukdichtung abgeschlossen, darüber befindet sich eine fast flächendeckende Fotovoltaikanlage, gekühlt und geheizt wird mittels Geothermie.

Die Zukunft der Arbeit

Die 13 Lichtatrien schließlich, die 13-mal unterschiedlich bestückt und bepflanzt sind und auf diese Weise die verschiedensten Rohstoffquellen der Grünen Erde sichtbar machen, sind nicht nur Lichtspender, sondern dienen auch zur sommerlichen Querlüftung. Große Öffnungsflügel machen die winzigen Miniaturwälder spür- und riechbar. „Es ist ein schöner Job an einem tollen Ort, aber den ganzen Tag lang zu arbeiten hat trotzdem etwas Ermüdendes“, sagt Maria Kainrad. „Wenn man dann plötzlich den Nadelwald und die blühenden Sträucher riecht, sobald man die Fenster aufmacht, ist das schon ziemlich lässig.“

Die Grüne-Erde-Welt, ein Kooperationsprojekt von Klaus Klaas Loenhart und dem Linzer Architekturbüro Arkade, wurde mit dem Oberösterreichischen Holzbaupreis 2019 ausgezeichnet. Mit einem Baubudget von rund 1100 Euro pro Quadratmeter ist es nicht nur gelungen, die Werte des Unternehmens, die sich sonst in flauschigen Alpakadecken, kirschkerngefüllten Kissen und handgestreichelten Massivholzmöbeln manifestieren, auf den Maßstab XXL zu übertragen (alles gutes Marketing, keine Frage), sondern auch Wertschätzung gegenüber Mensch und Natur zur Geltung und zum Ausdruck zu bringen.

„Wissen Sie, wir sind Arbeiterinnen. Und ich kann Ihnen ehrlich sagen, dass uns in der Gesellschaft da draußen nicht immer der größte Respekt entgegengebracht wird“, sagt Kainrad. „Hier arbeiten zu dürfen fühlt sich an, als würden wir in einem hellen Wohnzimmer mit Terrazzoboden und grünen Balkonen sitzen. Die Corona-Krise macht die anstrengenden Jobs, die die Gesellschaft am Laufen halten, plötzlich sichtbar – ob das nun Supermarktkassierinnen, Straßenarbeiter oder Fachkräfte in einem regionalen oberösterreichischen Unternehmen sind.“

Die aktuelle Ausnahmesituation auf der ganzen Welt bietet Gelegenheit, innezuhalten und die Werte unserer zum Teil uninspirierten und unmenschlichen Bauproduktion, die statt des Menschen oft nur die Moneten in den Mittelpunkt stellt, zu überdenken. Wie wollen wir in Zukunft wohnen, wie wollen wir lernen, wie wollen wir arbeiten? Zum Beispiel so.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: