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Happy Hour
deutsche bauzeitung

Baugruppenprojekt Gleis 21 in Wien (A)

Hinter dem neuen Wiener Hauptbahnhof stehen viele uninspirierte Wohnkisten von gemeinnützigen und freifinanzierten Bauträgern. Im einheitlichen Häusermeer fällt ein Wohnprojekt jedoch erfreulich aus der Reihe: Das »Gleis 21« von einszueins architektur setzt Lebenslust eins zu eins in Baukultur um. Unser Wien-Korrespondent hat es bei einem seiner Stadtspaziergänge eingehend für uns erkundet.

8. Juni 2020 - Wojciech Czaja
Die Cafés und Restaurants sind seit Wochen geschlossen, auch hier im Sonnwendviertel hinter dem neuen Wiener Hauptbahnhof, wo in den letzten Jahren auf dem Areal der ehemaligen Fracht- und Verschubgleise ein ganzes Stadtviertel für fast 20 000 Einwohner aus dem Boden gestampft wurde. Die Gassen, Straßen, Fußgängerzonen wirken ausgestorben, wie dieser Tage fast überall auf der Welt. »Hinsetzen darfst dich nicht, aber zum Mitnehmen und Spazierengehen kann ich Dir gern ein frisches Semmerl mit Ziegenkäse ­machen, wennst magst«, sagt Sabine Anreiter, vor ihr eine Theke voller Köstlichkeiten aus Tirol, Kärnten, Oberösterreich. Der Greißlerladen »Bio Mio« in der Bloch-Bauer-Promenade ist nicht nur ein schönes, wohlriechendes Geschäftchen, sondern auch ein Ersatz für den Kaffeehaus-Tratsch, für das sogenannte Plauscherl.

»Weißt, ich wohne und arbeite im gleichen Bezirk, zehn Gehminuten voneinander entfernt«, sagt die 58-Jährige, »aber zwischen meinem Wohnort und meiner Arbeitsstätte liegen Welten. Man geht ein paar Blocks und ist plötzlich in einer vollkommen neuen Stadt. Im alten Favoriten leben viele Migranten, es geht wild und chaotisch zu. Im neuen Favoriten aber verwirklicht sich die gehobene Mittelschicht, bestehend aus Lehrern, Journalisten und Akademikern, und baut sich ihr kleines, feines Paradies. Noch fehlt mir die Lebendigkeit. Aber dafür bin ich beeindruckt, wie gut sich die Menschen hier vernetzen. Es ist, als würde über der Stadt, wie in einem kleinen Dorf, ein unsichtbares Spinnennetz von privaten und beruflichen Kooperationen liegen.«

Erfreulicher Einzelgänger

Ein Produkt genau solch feinmaschiger Netzwerkarbeit liegt wenige Meter weiter stadtauswärts. Am Nachbargrundstück befindet sich ein für diese Gegend untypisches Wohnhaus, das aus dem Häusermeer aus schicken, reduzierten, minimalistischen Einheitswohnbauten in Architekturweiß und Architekturgrau heraussticht: Das sogenannte Gleis 21, Produkt einer 66-köpfigen Baugruppe, macht mit seinem kanariengelben Sockel, seiner warmen Holzfassade, seinen blauen und türkisen Fenstern und seinem irgendwie zusammengestrickten Laubengang aus Sichtbeton und verzinktem Stahl auf den ersten Blick schon gute Laune.

»Der offene Laubengang ist wirklich etwas rough«, sagt Patrick Herold, der mit seiner Frau Birgit und dem zweijährigen Sohn Leo im ersten Stock wohnt, eine Eckwohnung am freistehenden Treppenhaus, ein Gespräch zwischen Straße und Balkon wie dereinst zwischen Romeo und Julia. »Aber dafür bietet er viel Fläche und Flexibilität. Der Gang ist so breit, dass man ihn selbst fast schon als eine Form solidarischen Wohnens bezeichnen könnte. Manche ­Bewohner parken hier ihre Kinderwagen, andere haben ein kleines Sofa draußen stehen, und es gibt sogar Leute, die am Abend ihren Esstisch hinausstellen und ihre Nachbarn auf ein paar Tapas einladen.« Nach einer Weile dann, keine Essenseinladung zwar, aber immerhin: »Magst raufkommen und dich etwas umschauen? Ich mach dir auf!« ›

Planen in der Baugruppe

Gleis 21, ein Kooperationsprojekt des Bauträgers Schwarzatal, des Kärntner Holzbauunternehmens Weissenseer und des auf Baugruppen und Partizipationsprojekte spezialisierten Wiener Architekturbüros einszueins, ist ein Holzhybridbau mit 34 Wohnungen auf insgesamt 4 000 m² Nutzfläche. Außerdem gibt es Bibliothek, Werkstatt, Saunahaus, Fitnessraum, eine großzügig verglaste Waschküche, eine Gemeinschaftsküche auf dem Dach, eine private Musikschule im Souterrain, ein paar anmietbare Mini-Apartments für Gäste und Flüchtlinge sowie ein leider noch schlummerndes Restaurant, für das man noch einen Betreiber sucht. Besonders stolz sind die Bewohner – 46 Erwachsene, 20 Kinder – auf den großen Veranstaltungssaal im EG, der u. a. vom Wiener Stadtkino bespielt und vom berühmten Burgtheater als Dependance und Off-Space genutzt wird. Vor der Corona-Krise gab es Lesungen, Filmvorführungen, Tanzveranstaltungen, zuletzt ein komplett ausverkauftes Jazzkonzert.

»Sowohl in der Planungsphase als auch jetzt im Betrieb«, sagt Patrick, »war die gesamte Baugruppe in kleine Projektgruppen unterteilt. Die einen haben sich um die Farben und Materialien gekümmert, die anderen um die Konzeption der Gemeinschaftsflächen, wiederum andere um das wirtschaftliche Finanzierungs- und Betriebsmodell.« Auch heute noch ist jeder erwachsene Hausbewohner angehalten, zehn bis 15 Stunden pro Monat in die Hausgemeinschaft zu investieren – so z. B. in die Vermietung und Bespielung des Veranstaltungssaals sowie in die Pflege der projekteigenen Webseite.

»Arbeitsstunde, haben wir uns gedacht, würde so ernst und mühsam klingen. Daher sprechen wir lieber von Happy Hour. Das passt gut zum Happy Feeling dieses Hauses.«
Auch die Architekten selbst, inzwischen zu regelrechten Meistern soziokratischer Baugruppen-Moderation herangereift, erinnern sich mit größtem Vergnügen an die Planungszeit zurück. »Der Aufwand ist enorm, und manchmal braucht man Nerven wie Stahlseile«, sagt Projektleiterin Annegret Haider. »Aber am Ende kriegt man mehr Energie zurück als man investiert hat. Die Zufriedenheit derer, für die man plant, ist eine der schönsten Befriedigungen, die man als Architektin erleben kann.« Die langjährige Erfahrung zeigt, dass die Wohnzufriedenheit in Baugruppenhäusern deutlich höher ist als in klassischen Miet- und Eigentumswohnungen, die am Markt erhältlich sind. Für die Projekte von einszueins, so hört man, so liest man, trifft das insbesondere zu.

»Das Schöne ist«, sagt Architekt Markus Zilker, einer von insgesamt drei Partnern im Büro, »dass wir mit Menschen arbeiten, die Wohnen nicht nur als Ware, sondern in erster Linie als sozialen Raum und als Lebenskultur verstehen. Das schlägt sich natürlich auch in der architektonischen Gestaltung, in den unterschiedlichen Nutzungselementen sowie im Einsatz von materiellen Ressourcen nieder. Einer der wichtigsten Eckpfeiler dieses Projekts von der allerersten Stunde an war die Entscheidung, dass das Haus konstruktiv und atmosphärisch als Holzbau bzw. Holzhybridbau errichtet werden soll.«
Die Wahl fiel auf einen massiven, vertikalen Betonkern, in dem die Küchen, Sanitärräume und aussteifenden Scheiben untergebracht sind sowie auf Geschossdecken und Fassaden aus vorgefertigten Holzmodulen. Das Anschlussdetail von Holzverbunddecke und Betonlaubengang mittels Isokorb, erzählt Zilker, war eine technische Entwicklung von einszueins und Weissenseer und kam in dieser Form weltweit erstmals zum Einsatz. Andere konstruktive Details hingegen, so wie etwa die Anschlusspunkte zwischen Unterzug, Geländer und Entwässerungsmaßnahmen würden eher den Weg in die Fibel der Herzen als ins Bauhandbuch für Ingenieure finden.

Noch einmal drei Stockwerke in die Höhe. Die luftige Erschließung macht die Begehung nicht nur coronatauglich, sondern sorgt auch für ein gewisses Urlaubsflair: Fahrräder, Blumenkästen, hölzerne Kisten mit selbstgenähten Sitzkissen. Und immer wieder stehen die Fenster offen, die Menschen in ihren Küchen, ein Hallo aus der Tiefe des Raums. Im letzten Stock, direkt unter der kollektiven Dachbibliothek wohnt der Wiener Radio- und Zeitungsjournalist Michael Kerbler.

»Das Gleis 21 wird nicht jedem gefallen«, sagt er. »Muss es aber auch nicht. Diejenigen, die genauer hinsehen, werden darin nicht nur ein fröhliches, berührendes Wohnhaus für 64 Individualisten und Gemeinschaftsmenschen erkennen, sondern auch die Erkenntnis haben, dass Architektur gleichermaßen aus materieller Hardware und sozialer Software besteht. Das Gleichgewicht der Kräfte in diesem Projekt ist einfach perfekt. Kann schon sein, dass sie mich hier im Holzpyjama raustragen werden. Aber jetzt geht es mal darum anzukommen, sich ein neues Grätzel anzueignen und ein Stückerl Stadt in den nächsten Jahren ordentlich zu beleben. Es ist viel zu tun. Warst schon ­unten beim Bio Mio?«

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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