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Das ist der Homo Urbanus
Der Standard

Mit dem Film-Dekathlon „Homo Urbanus“ ist den französischen Filmemachern Ila Bêka und Louise Lemoine ein wortloses Meisterwerk gelungen. Einblicke in die Alltagskultur zehn global bekannter Städte.

1. August 2020 - Wojciech Czaja
Perücke, Elfenohren, düster geschminkte Augen, Peace bis in die Fingerspitzen und über den Schultern ein textiles Hybrid aus Schulmädchen und Marineoffizier. So sieht er aus, der Homo Urbanus Tokyoitus. Der Homo Urbanus Shanghaianus wiederum sitzt auf einem Stuhl auf dem Gehsteig, vor ihm ein Spiegel um den Laternenmast gebunden, und bekommt gerade die Haare geschoren. Und der Homo Urbanus Rabatius liegt mit seinen Menschenkollegen mit Vorliebe auf der Hafenmole und trocknet seinen Körper, bevor er von anderen, weniger freundlichen Menschenkollegen ein paar Minuten später an Armen und Beinen geschnappt und in den Atlantik geschmissen wird.

Die Filmserie Homo Urbanus der beiden französischen Filmemacher Ila Bêka und Louise Lemoine ist alles andere als eine didaktische Analyse über die globale Lebenskultur im urbanen Raum. Sie ist vielmehr eine emotionale, feinstoffliche Collage aus Blicken und Momenten, eingefangen in zehn Städten weltweit, die mit großem Schmunzeln und herzerwärmender Neugier unterschiedliche Charakteristika urbaner Koexistenz sichtbar macht – vom grauen St. Petersburg im klirrend kalten Winter bis zum hitzebrütenden Doha, wo die im Film porträtierten Protagonisten mit größter Anstrengung die Lebensdauer jedes einzelnen Grashalms zu verlängern trachten.

Eine Ode an die Differenz

„Wir haben keinerlei wissenschaftlichen Anspruch, wir wollen die Dinge einfach nur so zeigen, wie sie sind“, sagt Louise Lemoine im Interview mit dem Standard, „charmant, chaotisch und manchmal auch haarsträubend irrational.“ Unter den bislang 30 Architektur- und Stadtdokumentationen finden vor allem ungeahnte, zum Teil liebevoll voyeuristische Blicke hinter die Kulissen des Bauens und Benützens von Bauwerken, dargestellt aus der Sicht von Putzfrauen, Kanalarbeitern und Feuerwehrmännern. „Unsere Filme sind niederschwellige Liebeserklärungen an die Differenz von Mensch, Stadt und Kultur. Sie richten sich an jeden, der gerne beobachtet und Details entdeckt.“

Zwischen Sakura und Vespa

Homo Urbanus, Resultat von drei Jahren Dreharbeit auf vier Kontinenten, nahm seinen Lauf auf der Agora-Biennale 2017 in Bordeaux. Seit letztem Monat, mit allen sichtbaren Spuren der globalen Corona-Pandemie gespickt, ist der letzte Film im Kasten. Aktuell ist das rund zehnstündige Werk – eine reine Videoausstellung ohne Plan, ohne Fotografie, ohne Architekturmodell – im Architekturzentrum Arc en Rêve in Bordeaux zu sehen. Im Herbst wird man die Filmserie im Rahmen der Ausstellung Living the City im ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof genießen können.

Manche der insgesamt 571 Minuten sind dokumentarische Bestätigungen bereits bekannter Bilder. Etwa wenn der Homo Venetianus mit Koffern, Einkaufstaschen und neonpinken Überschuhen gegen die Acqua Alta am Markusplatz ankämpft. Wenn der Homo Kyotoitus inmitten von zartrosa Kirschblüten seine Picknickdecke ausbreitet und die alljährliche Sakura feiert. Oder wenn der Homo Neapolitanus mit der Vespa zwischen Kinderwagen hindurchmanövriert und wenig später die Füße einer traurigen Marienstatue küsst.

Andere Bildstrecken wiederum – und das macht Homo Urbanus zum sowohl wertvollen Filmdokument als auch sinnvollen Substitut für die heuer definitiv nicht stattfindende Fernreise – erzählen neue Details an der Schnittstelle zwischen Habitus und Mentalität: Wie geht man in Bogotá mitten in der Rushhour mit einem fehlenden Gullydeckel auf der Straßenkreuzung um? Wie werden in Seoul riesige Mengen von Schuhen und Klamotten durch die Gänge enger Indoormärkte transportiert? Und wie schafft man es in Schanghai, frischgewaschene Bettlaken zwischen parkenden Autos zum Trocknen auszubreiten?

„Es ist faszinierend, wie die Menschheit imstande ist, sich unterschiedlichen Kulturen und unterzuordnen und ihre ganz eigenen urbanen Codes zu entwickeln“, sagt Louise Lemoine, die mit ihrem Partner Ila Bêka an der Architectural Association (AA) in London unterrichtet. „Man ist kreativ, passt sich an und erfindet sich von Ort zu Ort neu.“ In den Filmen, die keinerlei Dialoge oder Off-Kommentare beinhalten, sucht man vergeblich nach Wertungen. Im Fokus liegt die „Poesie des Alltags“, wie dies die beiden Filmemacher ausdrücken.

Der andere Canal Grande

Einzig in Doha, Hauptstadt von Katar, sommerliche Höchstwerte jenseits der 45 Grad Celsius, schwingt zwischen den Szenen eine nonverbale, fast schon zermürbend zynische Kritik mit. Asiatische und afrikanische Gastarbeiter wässern den Rasen und reinigen die Straßen von herbeigewehtem Sand, als wollte man die Launen der Natur besiegen können. Wenn im künstlich angeschütteten Venedig und Pseudo-Murano wenig später italienische Klänge aus den Lautsprechern dringen, hier die Rialto-Brücke, dort eine elektrische Gondel, keine Menschenseele weit und breit, dann möchte man lachen und weinen zugleich. Louise Lemoine: „Die soziale Bühne namens Stadt hat eben viele Facetten.“

„Homo Urbanus. 10 films et 10 villes du monde“, im Architekturzentrum Arc en Rêve, Bordeaux. Zu sehen bis 11. Oktober 2020.

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