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Zu Hause bei den Freuds
Spectrum

Nicht nur Touristenmagnet, sondern auch Ort der Forschung: Nach 18 Monaten Umbau und Erweiterung eröffnet das Sigmund Freud Museum mit neu gestalteter Ausstellung in der Berggasse in Wien-Alsergrund.

28. August 2020 - Christian Kühn
Berggasse 19, ein Gründerzeithaus. Wir läuten bei Dr. Freud, der natürlich nicht da ist. Fast 50 Jahre lang hat er hier mit seiner Familie gewohnt, von 1891 bis 1938. Freud ist nicht da, weil er 1938 aus Wien vertrieben wurde. Die Möbel, die berühmte Couch, die Bilder: Soweit noch erhalten, befinden sie sich in London, ein großer Teil seines Schriftnachlasses ist in den USA.

Wer etwa nach der Lektüre von Carl E. Schorskes „Fin-de-Siècle Vienna“ in die Berggasse pilgert, um dort nach Spuren dieser Zeit zu suchen, wird nicht viele entdecken. Das Gründerzeithaus hat den Krieg zwar gut überstanden, auch das Treppenhaus befindet sich praktisch im Originalzustand. Die Freud'sche Wohnung im Mezzanin ist aber nur im Grundriss erhalten; die Bewohner und Nutzer der vergangenen 80 Jahre haben sie vom historistischen Ambiente gründlich gesäubert. Seit dem Jahr 1971 ist hier ein Museum eingerichtet. Freuds Tochter Anna war bei der Eröffnung anwesend, und sie schenkte dem Museum einige originale Möbelstücke, einen Teil von Freuds Sammlung antiker Figuren sowie signierte Ausgaben und Erstausgaben aus seiner Bibliothek.

Das Museum konnte sich über die Jahre im Haus ausbreiten: Im ersten Stock über der Freud'schen Wohnung sind eine Bibliothek, ein Veranstaltungsraum und Büros untergebracht. Eine umfassende Neugestaltung erfolgte schrittweise zwischen 1989 und 1996 nach Plänen von Wolfgang Tschappeller, der dem gründerzeitlichen Bestand seine eigene, dekonstruktivistische Formensprache entgegensetzte, während in einigen Räumen versucht wurde, den früheren Zustand nach alten Fotografien zu rekonstruieren.

Das leicht surrealistische Ergebnis hätte Freud vermutlich sogar interessiert. Nachdem ihn Salvador Dalí im Londoner Exil besucht hatte, notierte Freud, dass er die Surrealisten bisher für absolute Narren gehalten hätte, die unleugbare formale Meisterschaft des jungen Spaniers mit den treuherzig fanatischen Augen hätte ihm aber doch „eine andere Schätzung nahegelegt“. An Problemen wie der mangelnden Barrierefreiheit konnten Tschappellers Interventionen aber nichts ändern.

Unter der 2014 neu bestellten Direktorin Monika Pessler wurde 2017 ein Wettbewerb für eine umfassende Neugestaltung des Museums ausgeschrieben. Zur Aufgabe gehörten Café, Shop und Garderoben, die Herstellung von Barrierefreiheit und ausreichenden Fluchtwegen, aber vor allem die Frage, wie sich die Adresse Berggasse 19 als „Ursprungsort der Psychoanalyse“ vermitteln ließe. Im Wettbewerb schlossen sich drei der geladenen Architekturbüros zu einem Team zusammen: Hermann Czech, Bettina Götz und Richard Manahl – die zusammen als ARTEC firmieren – und der Südtiroler Architekt Walter Angonese. Gemeinsam entwickelten sie das Grundkonzept; in der weiteren Planung zogen sich Angonese ganz und ARTEC weitgehend zurück. Ihren Wettbewerbserfolg verdankten sie der Idee, das Museum als zwei Sphären zu denken, die zwar getrennt, aber ineinander geschachtelt sind: einerseits die räumliche Präsenz des authentischen Orts, andererseits die immaterielle Präsenz der Freud'schen Gedankenwelt. Letztere wird ausschließlich in Vitrinen präsentiert, die frei im Raum stehen; an den Wänden findet sich dagegen nur Information zur früheren Nutzung und zur Gestalt der jeweiligen Orte.

Obwohl die Räume auf den ersten Blick „leer“ wirken, haben sie einiges zu erzählen, auch Aspekte, die im Enthusiasmus für das Wien um 1900 oft unter den Tisch fallen. So gibt es einen winzigen Raum zwischen Wohnung und Ordination, in dem das Stubenmädchen der Freuds jeden Abend auf einer Bank ihr Bettzeug ausbreitete. Nach einem eigenen Zimmer zu fragen hätte sie sich, wie sie später berichtete, „nicht getraut“. Auch der Schlafraum der Freuds könnte aus einer Traumsequenz stammen: Er hat nicht weniger als vier Türen in angrenzende Räume, zu denen auch der Schlafraum von Freuds Schwägerin Minna Bernays gehörte, die das Freud'sche Schlafzimmer durchqueren musste, um ihr eigenes zu erreichen. Spekulationen über dieses familiäre Binnenverhältnis gab es schon zu Freuds Zeit. Die räumliche Konstellation ist aber eher ein Indiz für andere Vorstellungen von Privatheit und Intimität.

Die einzige, seit den 1980er-Jahren bestehende Rekonstruktion – das Wartezimmer – wurde als Teil der neuen Ausstellung belassen. In den anderen Räumen wird die Vergangenheit über Fotos in Erinnerung gerufen, vor allem solche, die Edmund Engelman 1938 in der Wohnung aufgenommen hat. Am authentischen Ort betrachtet, aktivieren diese Bilder die Einbildungskraft. Da reichen ein paar freigelegte Nagel- oder Farbspuren an der Wand, um eine Bespannung oder eine farbige Fläche lebendig werden zu lassen.

Im Behandlungsraum erfährt man, dass die Couch verschoben wurde, als Freud auf einem Ohr ertaubte und seine Sitzposition wechselte. Dass die Patienten von beiden Standorten aus Blick in einen grünen Hof mit großen Bäumen hatten, lässt sich vor Ort überprüfen. Die Flügeltüren zu Freuds unmittelbar anschließendem Arbeitszimmer waren immer geöffnet, was auf die Verbindung von psychoanalytischer Theorie und Praxis schließen lässt, aber auch an der fehlenden Heizung im Arbeitszimmer gelegen haben mag. Die kleine Armee antiker Figuren auf Freuds Schreibtisch, die auf den Schreibenden zumarschieren, muss man sich anhand von Fotos vorstellen. Der am Fenster aufgehängte Spiegel, der den Blick in den Hof zum Blick auf sich selbst macht, ist dagegen in natura erlebbar.

Wo in diesem Museum der Rundgang beginnt, ist nicht festgelegt. Der Werdegang Freuds wird eher im privaten Teil der Wohnung vermittelt, die ausgereifte Theorie der Psychoanalyse in der Ordination. Im Weg von Vitrine zu Vitrine entsteht eine mentale Landkarte, die eher eine Seekarte ist: jede Vitrine eine Insel, die zum Landen einlädt. Czech hat dafür gesorgt, dass man sich an diese robusten Vitrinen gerne anlehnt und aufstützt und auf dem Rundgang auch zum Weiterlesen wiederkommt.

Verschwunden ist glücklicherweise die bisherige Totemstele in der Berggasse, die mit dem Schriftzug „Freud“ Besucher anlocken sollte. Die Nummer 19 muss man finden – der Hauseingang ist der Haupteingang ins Museum. Der barrierefrei erreichbare Shop mit Café daneben tarnt sich mit einer großen Markise als Wiener Gasthaus und ist mit glänzend rot gestrichener Kappendecke nach allen Regeln der Czech'schen Raumkunst gestaltet. Hier landet auch die neue, interne Treppe, der die ehemalige Küche der Freud'schen Wohnung weichen musste. Diese Treppe verbindet alle Geschoße und lässt das Freud-Museum als jene Institution erscheinen, die es mit seinen 20 Mitarbeitern ja längst sein sollte: nicht nur Magnet für Touristen, sondern auch ein Ort der Forschung mit internationaler Strahlkraft.

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