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Mit Anergie in die Zukunft
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Die Weichen für die „Grüne Revolution“ sind gestellt. Auch in Wien wird die Energiewende durch den Umstieg auf alternative Energieformenerfolgen: durch „Grünes Gas“ und durch die Nutzung von Geothermie, Solarkollektoren und Fotovoltaik in Anergienetzen.

20. November 2020 - Christian Kühn
Es wird ernst. Überall in Europa werden die Weichen für die „Grüne Industrielle Revolution“ gestellt. Großbritannien, das bereits Anfang des Jahres angekündigt hatte, den Verkauf von neuen Pkw mit Verbrennungsmotoren ab 2035 zu verbieten, hat soeben angekündigt, diese Frist auf 2030 vorzuverlegen. Die Nutzung alter Fahrzeuge soll zwar weiterhin möglich sein; allerdings werden zusätzliche, für die Einfahrt in die Stadtzentren anfallende Mautgebühren die Lust aufs „Gasgeben“ deutlich verringern. Dass Rechtspopulisten mit neoliberalem Kern wie Boris Johnson auf sich aufmerksam machen, indem sie kaum erreichbare Ziele nochmals verschärfen, ist nicht überraschend. Dominic Cummings, der seit Kurzem geschasste Chefberater des Premiers, verkörperte die Ideologie dahinter: massive staatliche Investitionen in die Grundlagenforschung, Freisetzung der Innovationskräfte, technische Durchbrüche, entfesselte Wirtschaft.

In der Praxis dürfte die „Grüne Revolution“ wohl weniger spektakulär sein und am ehesten im Rahmen einer neuen Infrastrukturpolitik gelingen, die das Zusammenspiel staatlicher und privatwirtschaftlicher Aktivitäten optimiert. Das gilt auch fürs Bauen, das für rund ein Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich ist, wenn man nicht nur den Energiebedarf fürs Heizen und Kühlen von Gebäuden berücksichtigt, sondern auch jenen für die Herstellung und den Transport von Baumaterialien. Zur Erreichung der Klimaziele braucht es auch keine technologischen Durchbrüche, sondern die intelligente Kombination bestehender Technologien zu einem effizient vernetzten System.

Die Stadt Wien hat der Energieraumplanung bereits 2014 ein Kapitel im Stadtentwicklungsprogramm 2025 (StEP 2025) gewidmet, das die zuständige Magistratsabteilung für Energieplanung zum Anlass nahm, ein Fachkonzept zum StEP zu entwickeln, das 2019 fertiggestellt und vom Gemeinderat beschlossen wurde. Energieraumplanung ist die Verbindung von Stadt- und Energieplanung, indem sie die räumliche Dimension von Energieverbrauch und Energiegewinnung verknüpft. Sie befasst sich mit der Festlegung des geeigneten Maßes an baulicher Dichte, den Potenzialen der Nutzungsmischung (die von der Nutzung von Überschüssen aus der Industrieproduktion bis zur Verkehrsreduktion in der 15-Minuten-Stadt reichen) sowie der Ressourcensicherung für erneuerbare Energieträgern, die im bereits dicht bebauten Stadtgebiet neue Flächenansprüche für Energie-Infrastruktur stellen.

Seit der jüngsten Novelle erlaubt die Wiener Bauordnung auch die Festlegung von spezifischen Energieraumplänen, die für Neubauten die Nutzung von Fernwärme oder alternativen Systemen, wie der Nutzung von Erdwärme, vorschreiben. Derzeit hat die Stadt solche Pläne für den 8., 9., 18. und 19. Bezirk verordnet, nicht unbedingt Bezirke, in denen es massive Neubauaktivitäten gibt. Wenn Österreich das EU-Ziel einer Dekarbonisierung bis 2050 erreichen möchte, wird auch der Bestand verändert werden müssen. Die Jahreszahl 2050 klingt nach ferner Zukunft; die EU hat die Mitgliedstaaten allerdings aufgefordert, sich Zwischenziele für die Jahre 2040 und 2030 zu setzen, womit wir praktisch in der Gegenwart angekommen sind. Grob geschätzt ginge es für Wien unter anderem darum, einen substanziellen Anteil der derzeit 416.000 mit Erdgas versorgten Haushalte auf andere Energiequellen umzupolen, etwa indem bis 2030 in Summe 260.000 Gasthermen auf alternative Energieformen umgestellt oder ersetzt werden. Das könnte einerseits durch „Grünes Gas“ erfolgen, also ein neues biogenes „Stadtgas“, andererseits durch die Nutzung von Geothermie, Solarkollektoren und Fotovoltaik in sogenannten „Anergienetzen“. In solchen Netzen zirkuliert ein Wärmeträgermedium, meist Wasser, bei Temperaturen von fünf bis 18 Grad; die für die Heizung nötigen Temperaturen werden über Wärmepumpen und Erdsondenspeicher erreicht, wobei Flächenheizsysteme wie etwa Fußbodenheizungen aufgrund der nötigen niedrigen Temperaturen zu bevorzugen sind. In der Sanierung auf diesem Weg reicht es also nicht, Gasthermen durch ein anderes Gerät zu ersetzen; es geht um das System Haus in seiner Gesamtheit.

Dass dezentrale, karbonfreie Energieversorgung auch in der für Wien typischen gründerzeitlichen Stadt möglich ist, beweist das Pilotprojekt „Smart Block Geblergasse“ im 17. Bezirk. Die Architekten Angelika und Johannes Zeininger haben hier ein baufälliges Gründerzeithaus erworben und mit dem Nachbarhaus als gemeinsame Startzelle saniert und jeweils um zwei Geschoße aufgestockt. Die Energieversorgung erfolgt komplett über ein System von Erdwärmesonden, Wärmepumpen und hybriden Solar- und Fotovoltaikanlagen. Das Besondere an der Lösung ist, liegenschaftsübergreifend und schrittweise im Zuge anstehender Haussanierungen einen ganzen Baublock energetisch als Anergienetz zu betreiben. Eine zweite Besonderheit besteht darin, dass die 18 rund 100 Meter tief in die Mergelschichte gebohrten Erdsonden nicht nur zur Heizung im Winter, sondern auch zur Kühlung im Sommer ohne CO2-Emissionen zum Einsatz kommen. Durch die sommerliche solare Nachladung der Bohrungen entsteht über den Jahresverlauf ein energetischer Kreislauf. Die Begleitforschung hat gezeigt: Das Konzept hält, was es verspricht. Auch unter beengten Platzverhältnissen ist ein Anergienetz realisierbar. Bei der Umstellung gründerzeitlicher dicht bebauter Stadtteile müssten allerdings Erdsonden zur Vollversorgung auch in den Erdkörpern unter den Straßen ermöglicht werden.

Das Projekt beweist, dass „umfassende Sanierung“ nicht nur Technik, sondern auch ein neues Lebensgefühl in der dicht bebauten Stadt bedeutet. Balkone, Pawlatschen und Terrassen erzeugen in einem Gründerzeitblock eine soziale Dichte, aus der echte Nachbarschaften entstehen können, wenn die Architektur sie fördert. Das schließt Sentimentalitäten ein: Trotz der Hightech-Ausstattung haben die Architekten in den Bestandsgeschoßen eine modernisierte Form der traditionellen Kastenfenster beibehalten. Die Technik in diesem Haus integriert sich wie selbstverständlich ins Ganze. Dass die Stadt Wien dezentrale Anergienetze mit Zuschüssen von bis zu 30 Prozent der Gestehungskosten fördert, ist wichtig. Eines sollte sie aber nie vergessen: Häuser sind keine Maschinen, sondern Lebensräume.

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