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New York im Delirium?
Neue Zürcher Zeitung

Ein Kultbuch von Rem Koolhaas in deutscher Übersetzung

Zwei Wolkenkratzer räkeln sich im Bett. Die Bettdecke ist hinuntergestrampelt, die Nachttischlampe ist der Arm der Freiheitsstatue, und der Blick hinaus geht auf das Häusermeer Manhattans. So sieht das Logo zu einem Klassiker der Architekturtheorie aus: dem 1978 veröffentlichten «retroaktiven» Manifest «Delirious New York» von Rem Koolhaas, in dem der Einfluss metropolitaner Kultur auf die Architektur analysiert wird. Die erste Auflage von 15 000 Exemplaren war schnell vergriffen. Weil sie nicht wieder aufgelegt wurde, avancierte die holländische Raubkopie langsam zum Kultbuch. Nach 16 dürren Jahren ohne geregelten Lesenachschub hob die zweite Auflage im komplett neuen Layout, aber mit unangetastetem Text das Buch 1994 erneut ins Bewusstsein der interessierten Öffentlichkeit. Nun liegt es auch auf deutsch vor.

«Delirious New York» war das erste Buch, das Zugriff zu bekommen suchte auf eine urbane Gesellschaft mit den Eckpfeilern Konsum, Technologie, Instabilität und Verdichtung. Grundlegend neu war die Bejahung dieser dramatischen Veränderungen, die mit einer sich verdichtenden Stadt einhergehen. Letztlich aber war diese Bejahung eine programmatische: Denn die Verdichtung der Städte war nicht die Regel. Vielmehr verödeten die Stadtzentren zugunsten der Peripherie. In dieser Situation rief Koolhaas mit seinem Buch das Ideal der kompakten Stadt aus. Es markiert einen kritischen Punkt: die Emanzipation der Architektur und der Stadtplanung von dem gescheiterten Projekt der Moderne. Nicht mehr die staatlich gesteuerten sozialen Planziele, sondern marktorientierter Individualismus bildete nun die treibende Kraft. Koolhaas lässt sich von seiner Faszination gegenüber kraftvoller Urbanität treiben. Für jemanden, der der Metropole als einer «süchtig machenden Maschine» verfallen ist, drängt sich das New Yorker Hochhausdickicht geradezu auf. Es ist Resultat und Produzent von Dichte zugleich. Und so schillert das Faszinosum Manhattan in «Delirious New York» zwischen aufgetürmter Evidenz für eine «Kultur der Dichte» und einem Ort, an dem an neuen Lebensformen herumlaboriert wird. Das «nackt Austern essen mit Boxhandschuhen auf der n-ten Etage» ist dafür das berühmteste Beispiel.


Manifest

Koolhaas tritt an, um Manhattans Architektur als Paradigma für die Ausbeutung von Dichte vorzustellen. Vor dieser Kulisse handelt er Themen wie Städteplanung, Transport und Architektur ohne Architekten ab. Der Leser merkt schnell: Der Verweis zurück auf die gebaute Realität wie auch der geistreiche Versuch einer rückwirkenden Theorie ist nur historisierendes Verwirrspiel. Das eigentliche Manifest ist woanders zu suchen. Es liegt in der Zukunft, in unserer eigenen Gesellschaft mit ihren Problemen, für die New York nur der Anfang ist. 1811: der Entwurf für Manhattans Raster; 1853: die Erfindung des Fahrstuhls; 1865: die erste Bahn nach Coney Island. All das sind Wege, auf denen die metropolitanen Massen in ihrem Ausdehnungsdrang gelenkt werden. Das hat Folgen nicht zuletzt für die Architektur. Beim Wolkenkratzer treten Fragen der Komposition, der Proportion oder des Details in den Hintergrund. Die Fassadengestaltung kann nicht länger dem Inhalt des Gebäudes Ausdruck verleihen, weil dieser zu vielseitig geworden ist und sich ständig verändert. Die Kontrolle mittels der architektonischen Geste geht verloren. Nicht nur der Architekt ist hier machtlos, auch von der Stadt verabschieden sich solche Gebäude und machen sich unabhängig vom urbanen Gewebe.

Die herausragende, noch heute faszinierende Qualität des Buches liegt in der gekonnten Verknüpfung mehrerer Ebenen. Nur implizit verweist Koolhaas auf die Folgen seiner Entdeckungen. Im Vordergrund steht eine Sprache, die ihr Tempo mittels Verkürzung immer weiter zu steigern weiss und in einer rasanten Achterbahnfahrt Themen nur anreisst. Die Fülle der Eindrücke lässt den Leser taumelnd die Verdichtung der Themen zu einer These selbst erfahren. Auf diese Weise brennt Koolhaas ein propagandistisches Feuerwerk der Extraklasse ab. Der einstige Drehbuchautor und Filmer benutzt die Bühne Manhattan, um virtuos mit Sprache, Dramaturgie und Inszenierung herumzuwirbeln. Auch seine journalistischen Erfahrungen kommen dem Buch in den knappen und pointierten Situationsbeschreibungen zugute. Es besteht letztlich aus nichts anderem als einer Aneinanderreihung von Zeitungsmeldungen. Von reichlich Bildmaterial begleitet und ohne einen Gedanken, der mehr als zwei Seiten beansprucht, lädt das Buch - im Einklang mit der Formel «form follows function» - zum Zappen ein. Hier wird vorgemacht, was im Nachfolgewerk «S, M, L, XL» von extra engagierten Layoutspezialisten professionalisiert und von Eleven wie MVRDV in ihren Theoriestücken gierig kopiert wurde. Die Neubestimmung des Mediums Buch als Ort ineinandergreifender Bild- und Textgeschichten.


Drangvolle Dichte

Ein solches Gewebe von Sprachraffinement ins störrische Deutsch giessen zu wollen, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Wer alle Ebenen des Buches geniessen will, muss also bei der englischen Fassung bleiben. Treffsicher wurde allerdings Berlin als redaktioneller Sitz der langjährigen und holprig verlaufenen Übersetzungsarbeit gewählt. Denn hier sind die Anfänge Koolhaasschen Theoretisierens zu lokalisieren. Der 27jährige Student der Londoner Architectural Association wählte für seine Abschlussarbeit nicht so angenehme Themen wie die Villen Palladios oder das griechische Bergdorf, sondern machte sich auf den Weg in die geteilte Stadt. Die vermauerte Topographie Berlins gab ihm Gelegenheit, mit der Nachkriegsbauweise abzurechnen. Die Mauer selbst wurde ihr Sinnbild: Grausam und ausgebrannt, rief sie nichts als Verzweiflung, Hass und Frustration hervor. Nur die Resignation der Zurückgelassenen blieb übrig.

Koolhaas liess Berlin gern hinter sich und verschwendete sein Augenmerk nicht länger auf die Benennung der Trennung in der Architektur, sondern holte zu seiner Propagierung drangvoller Dichte aus. Dieser konsequente Wandel im Denken wurde durch das Koolhaas umgebende geistige Klima gestützt: Der absolute Hot spot der Architekturtheorie war Anfang der siebziger Jahre Peter Eisenmans Institute of Architecture and Urban Studies in New York. Koolhaas erhielt dort eines der begehrten Stipendien und wusste sich dafür bei der Architektenzunft mit «Delirious New York» zu revanchieren. Von der Kritik wurde das Buch nicht ernst genommen. Zwar war das Interesse an der Beschreibung amerikanischer Stadtzustände mit Jane Jacobs «The Death and Life of Great American Cities» (1961) sowie Robert Venturis und Denise Scott Browns «Learning from Las Vegas» (1968) längst etabliert; und auch den Topos vom Eintauchen in das harte Leben der Grossstadt hatte John Dos Passos schon in den zwanziger Jahren zum Thema von «Manhattan Transfer» gemacht. Dennoch waren die Augen der Kritik noch nicht scharf genug, die Andeutungen Koolhaas' zu erspähen.

Dass bis heute Koolhaas' Thesen Gültigkeit behalten haben, ist an der gegenwärtigen Debatte zur «zweiten Moderne» unschwer zu erkennen: Sie ist über seine Einsichten kaum hinausgekommen. Und so bleibt zu hoffen, dass die Rechnung des Verlags aufgeht, laut welcher zufolge es eine besitzende Mehrheit zwar zum Buch gebracht hat, nicht aber zur Aneignung des in trickreichem Kunstenglisch formulierten Inhalts. Sicher ist schon jetzt: Eine breitere Diskussion der in «Delirious New York» gewonnenen Einsichten im deutschen Sprachraum wäre sowohl dem Buch als auch der Architektur zu wünschen. Verfrüht käme sie jedenfalls nicht.


[ Rem Koolhaas: Delirious New York. Ein retroaktives Manifest für Manhattan. Deutsch von Fritz Schneider. Arch+ Verlag, Aachen 1999. 320 S., Fr. 73.-. ]

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