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Bauen in Poesie – auch in Wien
Spectrum

Wer die Erderwärmung bis 2050 beschränken will, muss das Bauen revolutionieren. Eine hohe Baukultur heißt, Häuser so zu entwerfen, dass sie von ihren Nutzern über Jahrzehnte geliebt und gepflegt werden. Die gute Nachricht: Solche Häuser finden sich etwa im Sonnwendviertel hinter dem Hauptbahnhof.

13. Mai 2021 - Christian Kühn
Muss, wer ein Haus baut, über die Erde nachdenken? Nicht über den Baugrund, wohlgemerkt, sondern über die Erde als Ganzes. Es hat 50 Jahre gedauert, bis sich Bauherren und Architekten zu einem zögerlichen „Ja“ durchgerungen haben. Die Fakten sind inzwischen bekannt. Wer die Erderwärmung bis 2050 auf das vereinbarte Ziel beschränken will, muss das Bauen revolutionieren, damit die Erde eine gute Wohnung bleiben kann. Bauen ist für ein Drittel der treibhausrelevanten Emissionen verantwortlich und für fast zwei Drittel des Abfalls. Vermeidbarer Verkehr, der durch schlechte Siedlungsstrukturen entsteht, noch nicht eingerechnet. In welche Richtung die Entwicklung geht, wissen wir seit Anfang der 1970er-Jahre, als erstmals über die „Grenzen des Wachstums“ geschrieben wurde. Dass E. F. Schumachers Buch „Small is beautiful“ auch einen Untertitel hatte, der auf den Kern des Problems verweist, wird oft übersehen: „A study of economics as if people mattered“.

Der Gedanke, die „Erde als eine gute Wohnung“ zu verstehen, stammt vom Architekten Bruno Taut, der 1920 ein gleichnamiges Buch publizierte, dessen andere Titel „Die Auflösung der Städte“ und „Der Weg zur alpinen Architektur“ waren. Taut, kein Fantast, sondern der Architekt einiger der besten sozialen Wohnbauten und Siedlungen seiner Zeit, ließ in diesem Buch seiner Fantasie freien Lauf. In dreißig Zeichnungen skizzierte er Stadtkronen und Blumenstädte, die sich über die Erde ausbreiten, aber auch kristallin gefaltete Typenhäuser, die Individualität garantieren sollen. In diesen Skizzen imaginierte Taut eine neue Lebens- und Bauweise für das zweite Jahrtausend. Konsequenterweise folgen im Buch auf die 30 Bildtafeln über hundert Seiten mit nachgedruckten revolutionären Texten von Engels bis zu Tolstoi und Kropotkin.

Taut war nicht der Einzige, der in dieser Zeit mit der Idee Aufmerksamkeit erregte, Kunst als Mittel zur Revolutionierung der Gesellschaft zu verstehen. Zu seinen Freunden zählte Walter Gropius, 1918 Mitgründer des Arbeitsrats für Kunst und ab 1919 Direktor des Bauhauses, einer Kunsthochschule, die zuerst in Weimar und ab 1926 in Dessau angesiedelt war. Das von ihm entworfene Bauhausgebäude in Dessau ist ein Schlüsselwerk des funktionalistischen internationalen Stils. Mit anarchisch aufgelösten Städten und fantastischen neuen Wohnwelten hat es freilich nichts zu tun: Ab den frühen 1920er-Jahren träumte Gropius von Wohnmaschinen für das Existenzminimum, hergestellt in Fertigteilbauweise.

Dass in der Europäischen Union die Idee eines „Neuen Bauhauses für Europa“ umgeht, ist daher etwas überraschend. Niemand geringerer als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die Idee in einer Rede Anfang des Jahres lanciert, gewissermaßen als das Gesicht des Green New Deal, der nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein kulturelles Projekt werden müsse, um Erfolg zu haben. Als treibende Kraft im Hintergrund gilt der deutsche Umweltforscher Hans Joachim Schellnhuber. Ob das Neue Bauhaus ein konkreter Ort, ein Netzwerk von Orten oder eine abstrakte Idee sein wird, muss erst geklärt werden; die Kommission stellt dafür über einen laufenden Call rund 30 Millionen Euro zur Verfügung. Dass die EU das Bauen endlich als kulturelles und nicht mehr nur als technisches, ökologisches und ökonomisches Thema anerkennt, ist trotzdem ein wichtiger Schritt. Eine hohe Baukultur bedeutet, Häuser so schön und zugleich so anpassungsfähig zu entwerfen, dass sie von ihren Bewohnern, Nutzern und Nachbarn über viele Jahrzehnte geliebt und gepflegt werden.

Ein Ort in Wien, an dem sich viele neue Häuser finden, die dieses Potenzial haben, ist das Sonnwendviertel Ost hinter dem Wiener Hauptbahnhof. An der zentralen Straße des Quartiers, der Bloch-Bauer-Promenade, haben die Architekten Anna Popelka und Georg Poduschka (PPAG) für den Bauträger 6b47 ein bemerkenswertes Haus entworfen. Auf seine Lage zwischen Hauptstraße und Park reagiert es mit zwei unterschiedlichen Gesichtern, einem städtisch-kompakten auf der einen und einem zur Sonne hin aufgelösten auf der anderen Seite. Die Wohnungen sind im Grundriss so angelegt, dass Wohn- und Schlafzimmer einen großen Balkon L-förmig umfassen, der sich bei Bedarf durch Vorhänge in ein „Außenzimmer“ verwandelt. Die Staffelung der Wohnungen sorgt dafür, dass alle einen freien Blick zum Park haben, und gibt der Fassade eine Leichtigkeit, die durch zarte Rundsäulen verstärkt wird, die nicht tragend sind, sondern für die Balkonentwässerung sorgen. Auf dieses banale Problem, an dem in Wien nicht wenige Planer scheitern, eine so poetische Antwort zu finden ist eine Leistung.

Die konsequente Ausrichtung der gestaffelten Wohnungen zum Park führt im Grundriss zu einer Innengang-Erschließung mit einem Treppenhaus, das über zwei Lichthöfe belichtet wird. Ursprünglich waren entlang des Innengangs weitere Schächte geplant, von denen aber nur einer realisiert wurde. Die Gänge hätten weniger lang ausfallen können, hätte man an ihren Enden größere Wohnungen angelegt. Dem stand das Anliegen des Bauträgers und des Investors entgegen, das Vermietungsrisiko zu minimieren. Zweizimmerwohnungen mit 30 bis 60 Quadratmeter finden meist Abnehmer, und so liegt die Durchschnittsgröße der Wohnungen in diesem Haus bei rund 50 Quadratmetern. Die Grenzen der Ökonomie zeigten sich auch bei der Konstruktion. Ursprünglich als Kombination aus Stahl und Holz geplant, kam schließlich eine konventionelle Konstruktion aus Stahlbeton zum Zug.

Trotzdem lebt in diesem Projekt noch einiges von der Poesie weiter, die Bruno Taut vor 100 Jahren für das „zweite Jahrtausend“ imaginiert hat. In den nächsten Jahren werden wir sehen, ob sich die Architektur weiter an die Grenzen von Ökonomie und Technik anpassen muss, oder ob sich neue ökonomische Modelle und Technologien finden, die so etwas wie Baukunst im 21. Jahrhundert erlauben. Das „Neue Bauhaus für Europa“ wird ein ganz anderes sein müssen als sein historischer Vorgänger: Das funktionalistische Denken, dem sich das Bauhaus unter Gropius verschrieb, hat viel zu dem Schlamassel beigetragen, in dem wir uns heute befinden.

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