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Profil

Wojciech Czaja, geboren in Ruda Śląska, Polen, ist freischaffender Journalist für Tageszeitungen und Fachmagazine, u.a. für Der Standard, Architektur & Bauforum, VISO, db Deutsche Bauzeitung, und DETAIL. Er ist Autor zahlreicher Wohn- und Architekturbücher, u.a. Wohnen in Wien (2012), Zum Beispiel Wohnen (2012), Überholz (2015) und Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden (2015). Zuletzt erschien HEKTOPOLIS. Ein Reiseführer in hundert Städte im Verlag Edition Korrespondenzen. Er arbeitet als Moderator und leitet Diskussionsrunden in den Bereichen Architektur, Immobilienwirtschaft und Stadtkultur und veranstaltet unter dem Titel Ähm, ja also... Praxis-Workshops zum Thema Kommunikation und Präsentation. Er ist Dozent an der Universität für Angewandte Kunst in Wien sowie an der Kunstuniversität Linz und unterrichtet dort Kommunikation und Strategie für Architekten. Außerdem ist er von 2015 bis 2021 Mitglied im Stadtbaubeirat in Waidhofen an der Ybbs.

Publikationen

Wir spielen Architektur. Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit, Sonderzahl-Verlag, Wien 2005
periscope architecture. gerner gerner plus, Verlag Holzhausen, Wien 2007
Stavba. Die Strabag-Zentrale in Bratislava, Wien/Bratislava 2009
Light/Night. The Nouvel Tower in Vienna, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2010
Wohnen in Wien. 20 residential buildings by Albert Wimmer, Springer Verlag, Wien 2012
Zum Beispiel Wohnen. 80 ungewöhnliche Hausbesuche, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2012
Überholz. Gespräche zur Kultur eines Materials, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2015
Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden, Wien 2015
Der Fuß weiß alles. Markus Scheer, Ecowin Verlag, Wals bei Salzburg 2016
Der Erste Campus, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2017
motion mobility. Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien, Park Books, Zürich 2017
Hektopolis. Ein Reiseführer in hundert Städte, Edition Korrespondenzen, Wien 2018

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Artikel

26. Februar 2022 Der Standard

„Wir dürfen die Fantasie nicht unterschätzen“ Turn On

Die Pariser Architektin Sophie Delhay hat es geschafft, mit den Richtlinien des geförderten Wohnbaus zu jonglieren. Ihre Häuser sind eine Anleitung zur Freiheit. Nächste Woche hält sie einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On.

STANDARD: Wer ist die rote Frau auf den Fotos?

Delhay: Sie sind der Erste, der das fragt. Das bin ich!

STANDARD: Wie denn das?

Delhay: Es war alles organisiert. Die Wohnungen waren gereinigt, der Fotograf Bertrand Verney war mit seiner ganzen Ausrüstung vor Ort, und plötzlich haben wir gemerkt, dass es unmöglich ist, einen zweigeschoßigen, fünf Meter hohen Raum zu fotografieren, ohne dabei einen Größenbezug herzustellen. Es war sonst niemand da. Also haben wir mich als Maßstab inszeniert.

STANDARD: Die Fotos zeigen das Wohnhaus „32 Logements-Cathédrale“ in Dijon. Warum fünf Meter hohe Räume?

Delhay: Jedes Haus, das ich plane, hat seine eigene Religion. Dieses Wohnhaus in Dijon, das wir 2020 fertiggestellt haben, zeichnet sich dadurch aus, dass wir die Wohnzimmer zum Teil zweigeschoßig ausgeführt haben. Viel Raum, viel Licht, viel Großzügigkeit im Sein und Denken. Wir haben uns getraut, dem Wohnhaus den Namen „Cathédrale“ zu geben. Man fühlt sich irgendwie frei.

STANDARD: Sie sprechen von Religion. Wie kann sich diese Religion sonst noch bemerkbar machen?

Delhay: In unserem Projekt „Unité(s)“, ebenfalls in Dijon, sind wir von gleich großen Raumquadraten ausgegangen. Jedes Zimmer hat genau 13 Quadratmeter und ist über Schiebetüren mit den anderen Zimmern verbunden oder auch von ihnen getrennt. Wir geben keine Nutzung vor, sondern überlassen den Bewohnern, ob und wie sie die Räume zusammenlegen wollen. In wiederum einem anderen Projekt in Nantes haben wir uns getraut, jeweils ein Zimmer aus dem Wohnungsverband herauszulösen.

STANDARD: Das heißt?

Delhay: Man kann das Zimmer nur erreichen, indem man die Wohnung verlässt und im Garten oder auf der Terrasse ein paar Schritte durch den Außenraum schreitet. Es ist eine Art Exklave.

STANDARD: Wie reagieren die Bewohner darauf?

Delhay: Unsere Auftraggeber bitten uns meistens, zu jedem Projekt eine kleine Broschüre zu erstellen, in der wir in wenigen Worten das Konzept des Wohnprojekts erklären und niederschreiben, was wir uns dabei gedacht haben. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich das so gut finde.

STANDARD: Warum nicht?

Delhay: Weil jede Erklärung die Fantasie wegnimmt, weil jede Regulierung etwas kaputtmacht. Uns Architektinnen wird immer nachgesagt, wir hätten ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen. Nun, ich glaube auch an die Vorstellungskraft meiner Bewohnerinnen und Bewohner. Wir dürfen die Fantasie der Menschen nicht unterschätzen!

STANDARD: Sind Ihre Wohnkonzepte eine Herausforderung?

Delhay: Für manche wahrscheinlich schon. Für andere sind sie eine Anregung oder sogar eine Fantasiemaschine. In der Regel, wenn nicht gerade Covid ist, besuche ich nach circa zwei Jahren ein Projekt und frage die Bewohner, ob ich mir ihre Wohnungen anschauen darf. Und manchmal bin ich ganz schön überrascht.

STANDARD: Bitte ein Beispiel.

Delhay: In dem Projekt in Nantes, wo ein Zimmer der Wohnung nur über den Garten zu erreichen war, habe ich einen Mann getroffen, der diesen Extraraum als Wohnzimmer nutzt. Ich war ganz perplex. Und dann hat er mir erklärt, dass er seine Tochter nach der Scheidung nur selten sieht – doch wenn er sie bei sich hat, dann wohnen sie hier draußen, wo sie stundenlang spielen, reden und gemeinsame Momente teilen. Ist das nicht schön?

STANDARD: Was machen Sie, wenn ein Mieter mit Ihrer Wohnung überhaupt nichts anfangen kann?

Delhay: Im geförderten Wohnbau in Frankreich bekommt jeder Interessent genau drei Wohnungen präsentiert, aus denen er auswählen kann. Wer mit so einem Konzept nicht zurande kommt, kann auf zwei andere Wohnungen ausweichen. Die Vielfalt der Wohnkonzepte ist kein Problem, sondern eine Bereicherung.

STANDARD: Die meisten Ihrer Wohnprojekte sind sehr rough, haben Sichtbeton an den Wänden oder Metallgitter an der Fassade. Wieso denn das?

Delhay: Jede Entscheidung verändert das gesamte System. Wenn ich mich entscheide, hohe Räume zu machen, Schiebetüren einzubauen oder getrennte Wohnbereiche zu schaffen, dann kostet das Geld, dann muss ich das Geld an anderer Stelle wieder einsparen. Im Wohnhaus „32 Logements-Cathédrale“ mussten wir auf teure Böden und ausgemalte Wände verzichten, sonst wären wir mit dem Budget nicht ausgekommen. Es sind kommunizierende Gefäße.

STANDARD: Müssen Sie sich nicht an gewisse Mindeststandards im sozialen Wohnbau halten?

Delhay: Doch, und diese Mindeststandards definieren die Zimmergrößen, die Fußbodenoberflächen, weiß ausgemalte Wände und vieles mehr. Ich halte mich nicht daran. Aber ich halte mich daran, dass wir pro Quadratmeter Nutzfläche nur ein gewisses Budget verbauen dürfen. Wir verbauen es halt anders.

STANDARD: Das geht?

Delhay: Früher war ich jung und gutgläubig. Ich war eine „tête brûlée“, ein brennender Kopf, eine Art kompromissloser Geist. Und irgendwie hatte ich immer Glück, denn die Bauträger haben das Konzept verstanden – und erkannt, was sie an Mehrwert bekommen, wenn sie woanders auf gewisse Qualitäten verzichten. Heute ist das anders. Die Unternehmen wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie mich zu einem Bauträgerwettbewerb einladen.

STANDARD: Gewinnen Sie oft?

Delhay: Nein, die meisten Wettbewerbe verlieren wir. Aber wenn wir gewinnen, dann mit großer Euphorie unter allen Beteiligten.

STANDARD: Manchmal werden Sie als experimentell bezeichnet. Stimmen Sie dem zu?

Delhay: Nein. Ein Experiment hat immer mit Risiko und Laborversuch zu tun. Ich aber bemühe mich lediglich, ein architektonisches Vokabular für das zu finden, was schon längst da ist – und zwar für eine Gesellschaft, die sich verändert hat, die nach Freiheit und Offenheit verlangt, die nicht mehr in ein paar wenige Standards zu pressen ist. Unsere Wohnkultur braucht dringend eine neue Architektursprache.

STANDARD: Nächste Woche halten Sie einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On. Worüber werden Sie sprechen?

Delhay: Über Freiheit – und darüber, dass es als Architekten, als Architektinnen unsere Aufgabe ist, diese Freiheit zu befreien.

[ Sophie Delhay (48) gründete das Architekturkollektiv Boskop in Lille und leitet seit 2008 ihr eigenes Architekturbüro in Paris. Sie unterrichtet an der École d’Architecture in Versailles. ]

12. Februar 2022 Der Standard

Architektur in der Antarktis: Die Schlacht am vereisten Buffet

In der Arktis wittern Nationen und Konzerne Rohstoffe und Schifffahrtsrouten. Das Interesse am Eis manifestiert sich auch in der Architektur. Fotograf Gregor Sailer hat sie eingefangen

Schaut aus, als würde von unten ein russisches U-Boot die Eisdecke aufbrechen und auftauchen wollen, daneben ein rotes Stahliglu, polygonal aus Fünf- und Sechsecken zusammengeschweißt, zwei Türen, der Eingang in die Bohrlochkammer, und dann kilometerweit nichts als Pipelines bis zum Horizont, bis in die Industriegebiete von Húsavík, Reykjavík und Reyðarfjörður, wo sich die größten Silizium- und Aluminiumwerke Islands befinden. „Der Wasserdampf aus den geothermischen Anlagen ist eine wertvolle Energiequelle“, sagt Gregor Sailer. „Heute schon werden in Island rund 575 Megawatt aus Erdwärme gewonnen. Ohne diese Anlagen hätte sich die isländische Schwerindustrie hier wohl niemals angesiedelt.“

Das Kraftwerk in Bjarnarflag neben dem Mývatn-See im Nordosten Islands, eingezäunt und bewacht wie so vieles im polaren Norden dieser Welt, ist nur eine von vielen Anlagen, die der Tiroler Fotograf in den Jahren zwischen 2017 und 2021 mit seiner Sinar-Laufbodenkamera auf die Filmplatte bannte. Die Begehrlichkeit des 42-Jährigen gilt dabei aber nicht so sehr dem Seltenen, Exotischen als vielmehr all jenen versteckten, in der Regel verborgenen Infrastrukturen, die Teil eines geopolitischen und globalwirtschaftlichen Netzwerks sind und hinter denen sich eine ebenso komplexe militärische Überwachungsmaschinerie verbirgt.

„Aufgrund der billigen und im Übermaß verfügbaren Energie ist Island ein strategisch wichtiger Industriestandort, zugleich aber müssen die Rohstoffe und veredelten Materialien über weite Strecken mit dem Schiff an- und abtransportiert werden“, sagt Sailer. „Viele Länder und Konzerne haben daran Interesse. Daher zählt Island zu den von der Nato am stärksten überwachten Regionen auf der Nordhalbkugel.“

Vier Jahre lang besuchte Sailer Kraftwerke, Produktionsstätten, Sendeanlagen, Radarstationen, Bohrinseln, Forschungscamps und ganzjährig eingeschneite Gewächshäuser in der Arktis – die meisten davon jenseits des nördlichen Polarkreises. Sie alle definieren eine rund 21 Millionen Quadratkilometer große Region, um die sich einige Weltmächte und Industrienationen prügeln wie bei einer Schlacht am vereisten Buffet. Im Fokus der Interessen von China, Russland und den USA stehen nicht nur begehrte Rohstoffe wie Öl, Gas und seltene Erden, die aufgrund der in der Klimakrise auftauenden Polkappen nun leichter zugänglich werden, sondern auch neue Schifffahrtsrouten.

„2018“, sagt Sailer, „hat die chinesische Regierung in ihrem Arctic White Paper erstmals die polare Seidenstraße erwähnt. Einerseits sollen die Frachtrouten dadurch um bis zu 40 Prozent verkürzt werden, was den globalen Schiffsverkehr billiger und effizienter machen wird, andererseits wäre diese Route eine attraktive Alternative zum längst überlasteten Suezkanal.“ Als im März 2021 die Ever Given die Sandböschung rammte und den Kanal verstopfte, stand der globale Frachtverkehr wochenlang still. Solche Super-GAUs möchte China mit der polaren Seidenstraße, die aufgrund der Erderwärmung bis spätestens 2050 eisfrei befahrbar sein wird, künftig vermeiden.

Fahne unter Wasser

„Tatsächlich gibt es viele Instanzen, die von der Klimakrise und Erderwärmung profitieren werden und die aus diesem Grund schon jetzt ihre Reviere in der Arktis markieren“, erzählt Sailer. Die politische und wirtschaftliche Machtgier nimmt bisweilen skurrile Züge an: Nachdem Russland seine Konkurrenten überlisten und die Grenzen des Festlandsockels und die daraus abgeleiteten Ansprüche auf Öl- und Gasvorräte geologisch korrekter verankern und dabei nicht nur auf vereistes Wasser setzen wollte, schickte es im Jahr 2007 ein U-Boot los und rammte auf dem Nordpol in über 4000 Meter Tiefe eine russische Fahne in den Meeresboden.

Für sein fotografisches Narrativ besuchte Gregor Sailer rund 20 Destinationen und Einrichtungen in Island, Grönland, Norwegen, Großbritannien und im eisigen Norden Kanadas. Einige andere Reisen wie etwa nach Russland wurden ihm verwehrt oder fielen den restriktiven Corona-Lockdowns zum Opfer.

Die meisten und visuell mit Abstand kältesten Fotos, die vor ein paar Monaten in seinem Buch The Polar Silk Road (Kehrer-Verlag) verewigt wurden, stammen aus dem Forschungscamp East Grip in der Einöde Grönlands, wo seit Jahren Eiskernbohrungen durchgeführt werden, um aus den rund 100.000 Jahresschichten Informationen über die Klimageschichte der Welt zu gewinnen, sowie von der militärischen Überwachungszentrale im kanadischen Tuktoyaktuk, wo sich direkt an der Beaufortsee eine Kontrollstation des North American Aerospace Defense Command (Norad) sowie eine von insgesamt 50 Radarstationen des North-Warning-System-Netzwerks (NWS) befinden.

„Ich finde die militärischen Einrichtungen faszinierend, weil sich aufgrund des Klimas und der in diesen Breitengraden verfügbaren Baustoffe ein typischer Farb- und Formenkanon entwickelt hat“, erzählt Sailer. „Meistens wird mit Stahl gebaut, die Kugeln und Polyeder sind allgegenwärtig, und die häufigste Farbe ist Weiß, gelegentlich findet man auch rote und schwarze Bauten.“ In den meisten Fällen, sagt der Fotograf, der bei minus 55 Grad Celsius fotografieren musste, verschmelzen die militärischen Einrichtungen mit der Landschaft oder verschwinden gleich ganz im Schneesturm.

Gespenstisch

Ein Objekt hier oben auf 69,4 Grad nördlicher Breite (kleines Foto) hat es ihm besonders angetan – und zwar die achteckige, rund 120 Meter breite Esso-Caisson-Bohrinsel, die 1982 in Japan gebaut und nach Beendigung ihrer fossilen Dienste vor einigen Jahren technisch ausgeweidet und in die Bucht von Tuktoyaktuk geschleppt wurde, wo sie seitdem im Wasser treibt und jeden Winter von meterdickem Eis eingefangen wird. Das Bild ist gespenstisch, irgendwie bedrohlich. Ein perfektes Setting für einen eiskalten Blade Runner-Film.

„Die Arktis ist geografisch zwar weit weg von uns“, sagt Gregor Sailer, „aber die territorialen Dispute, die sich hier oben abzeichnen und die in den nächsten 30 Jahren noch massiv zunehmen werden, betreffen uns alle. Ich hatte die Möglichkeit, diese versperrten Gebiete zu betreten und zu fotografieren. Und ich erachte es als meine Aufgabe, diese Geschichten sichtbar zu machen.“ Die eingeschneiten Architekturen sind Zeugen eines ziemlich kalten Krieges.

20. Dezember 2021 Der Standard

Richard Rogers 1933–2021

Mit dem Bau des Centre Pompidou hat er seinen Ruhm begründet – jetzt ist der britische Architekt 88-jährig gestorben

Februar 1977, Paris. Es regnet in Strömen. Richard Rogers steht vor dem kürzlich fertiggestellten Centre Pompidou und betrachtet sein vollendetes Werk, als plötzlich eine ältere Dame an ihn herantritt und ihm einen Platz unter ihrem Regenschirm anbietet. Was er denn von diesem Gebäude hielte, fragt sie. Und Rogers stolz: „Ich bin der Architekt.“ In der nächsten Sekunde bekam er mit dem Schirm eins über die Rübe gezogen.

Lange hatte es gedauert, bis die Pariser sein wohl berühmtestes Frühwerk zu schätzen gelernt haben. Die Presse bezeichnete es als Pompidoleum, als Erdölraffinerie, als Notre-Dame der Röhren. Die französische Tageszeitung Le Figaro sprach gar von einem „kulturellen King Kong“ und verglich das Haus auch mit jenem sagenumwobenen Monster im Loch Ness. Heute ist das Centre Pompidou, das Richard Rogers mit seinem damaligen Partner Renzo Piano plante, aus dem Pariser Stadtbild nicht mehr wegzudenken. In der Nacht von Samstag auf Sonntag ist Richard Rogers im Alter von 88 Jahren friedlich eingeschlafen, wie seine Familie der New York Times mitteilte.

Seine Kindheit und Jugend waren ein Horror. Geboren 1933 in Florenz, 1939 mit der Familie nach London übersiedelt, konnte er wegen einer nichtdiagnostizierten Legasthenie bis zu seinem elften Lebensjahr weder lesen noch schreiben. Er wurde regelmäßig gemobbt, „ich weinte mich jede Nacht in den Schlaf, Jahre der Traurigkeit“, schrieb er später in seiner Autobiografie A Place for all People . In den späten Fünfzigerjahren studierte der Schulabbrecher Architektur an der berühmten Architectural Association School of Architecture (AA) in London, hatte aber auch hier mit Misserfolgen zu kämpfen, flog in seinem vorletzten Studienjahr in fünf von sechs Fächern durch.

Mit einem Fulbright-Stipendium ging er 1962 nach Yale, wo er eine tiefe Freundschaft mit seiner späteren Frau Su Brumwell sowie mit Norman Foster und dessen Freundin Wendy Cheesman schloss. 1963 gründeten sie das sogenannte Team 4, das sich schon bald zu einem Nährboden für die britische Hightech-Bewegung herausstellen sollte. Inspiriert von den frühen Industriebauten in Nordengland entstanden die ersten realisierten Projekte in Vorfertigung und modularer Bauweise. Aus dieser Haltung heraus entstand schließlich das Centre Pompidou.

Die Saure-Gurken-Zeit war damit endgültig vorbei. Es folgten das Lloyd’s Building in London (1984), der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (1994), der Millennium Dome in London (1999), der fröhlich bunte Flughafen Madrid Barajas (2004), der Justizpalast in Antwerpen (2006), das Leadenhall Building in London (2014), aufgrund seiner Form auch besser bekannt als „Käsereibe“, und schließlich das Three World Trade Center in New York (2018) sowie etliche Konzepte für günstiges, leistbares Wohnen in ganz Großbritannien.

1991 wird Rogers von Queen Elizabeth II zum Ritter erhoben, 2007 erhält er den renommierten Pritzker-Preis, 2015 wird er vom Männermagazin GQ zu den „50 best-dressed British men“ gezählt. Der freundliche, sympathische Mann, der stets in grasgrünen und knallpinken Hemden auftrat, hat die Welt für die Schönheit einer technoiden, konstruktiven und zugleich hellen, bunten, verspielten Architektur sensibilisiert wie kein anderer.

17. November 2021 Der Standard

Mit Wölkchen und Tarnfarbe

In der Joseph-Lister-Gasse in Wien-Hietzing hat die Sozialbau eine weitestgehend CO2 -freie Mustersiedlung mit Wärmepumpen und Photovoltaik errichtet. Die Architektur dafür stammt von zwei bekannten Büros.

Auf der Rückseite der Klinik Hietzing, einst Krankenhaus Lainz, befand sich früher ein Personalwohnheim. Nachdem sich die Anforderungen an Wohnen und Arbeiten in den letzten Jahrzehnten massiv verändert haben und die kleinen, niedrigen Wohnungen keine sinnvolle Weiterverwertung zuließen, wurde die alte Wohnhausanlage abgerissen. Heute stehen hier, in unmittelbarer Nähe zum benachbarten Hörndlwald, zehn fröhliche Sozialbau-Stadtvillen, die von zwei der bekanntesten Architekturbüros Österreichs geplant wurden: Coop Himmelb(l)au und DMAA Delugan Meissl Associated Architects.

„Unsere Häuser sind eine Neuinterpretation der weißen Moderne“, sagt Wolf Prix von Coop Himmelb(l)au. „Einerseits lösen wir mit den großen, eleganten Balkonskulpturen die Grenze zwischen Innen- und Außenraum auf, weil wir darauf den Wohnraum in den Freiraum hinaus erweitern, andererseits lassen wir uns auch nicht die Kunst aus der Baukunst vertreiben.“ Konkret: In Anlehnung an die bildhauerische Herangehensweise von Louis Kahn, Le Corbusier und Erwin Wurm, die Prix als Referenz für dieses Projekt zitiert, gibt es über jedem Hauseingang eine dreidimensionale, adressbildende Plastik – mal ein Haus, mal ein Kegel, mal ein durchlöcherter Würfel. Zudem gibt es auf jedem Haus eine Fassadenzeichnung aus dem Hause Himmelb(l)au, mit Sonne, Wölkchen und Signatur: CHBL.

Optischer Kontrapunkt

Ganz anders präsentieren sich die fünf Häuser von Delugan Meissl. „Wir wollten einen Kontrapunkt zu Coop Himmelb(l)au setzen“, sagt Gerhard Göller, Projektleiter bei DMAA, „und haben uns daher für eine erdige, olivgrüne Tarnfarbe entschieden. Um die Fassadenfläche zusätzlich zu strukturieren, sind die Häuser rundum in einen vertikalen Kratzputz gehüllt.“ Die handwerklich aufwendige, fast schon in Vergessenheit geratene Putzmethode sorgt für eine besonders raue Oberfläche und verhindert aufgrund der tausenden kleinen Mikrorisse, dass die Putzfläche eines fernen Tages durch die großen Temperaturdifferenzen zwischen Sommer und Winter aufplatzt oder reißt.

„Durch den hohen Anteil an Bäumen auf dem Grundstück und durch die sehr großflächige Verwurzelung im Boden wäre eine geothermische Lösung technisch kaum durchführbar gewesen“, sagt Sozialbau-Chef Josef Ostermayer. Stattdessen werden die insgesamt 194 Mietwohnungen – die Hälfte gefördert, die andere Hälfte am freien Markt – mit Luftwärmepumpen beheizt. Über eine Fußbodenheizung gelangt die Wärme in die Wohnungen. Im Sommer dient die Anlage als Stützkühlung.

Die Warmwasseraufbereitung erfolgt mittels einer Hochtemperatur-Luft-Wasser-Wärmepumpe pro Stiege. Auf den Dächern sind Photovoltaikmodule installiert, die den nötigen Strom für den Betrieb aller Wärmepumpen liefern. „Überschüssige Stromspitzen werden wir für die Beleuchtung der öffentlichen und halböffentlicheren Bereiche nutzen“, sagt Ostermayer. „Unterm Strich sollte es uns auf diese Weise gelingen, weitestgehend emissionsfrei zu sein.“

Die Wohnungsgrößen variieren zwischen 53 und 112 Quadratmetern. Dass das örtliche, technische und architektonische Angebot den Nerv der Zeit getroffen hat, zeigt sich in der extrem hohen Nachfrage: Nach Auskunft der Sozialbau gab es knapp 10.000 Vormerkungen. Das sind durchschnittlich 50 Interessenten pro Wohnung. Vor zwei Wochen wurden die Schlüssel übergeben.

17. November 2021 Der Standard

Ochsenblutrote Jubiläumsfeier

Zu ihrem 100. Geburtstag errichtet die Gesiba eine Wohnhausanlage, die komplett emissionsfrei beheizt werden soll

Vor hundert Jahren wurde die Gemeinwirtschaftliche Siedlungs- und Baustoffanstalt gegründet. Das daraus gebildete Akronym „Gesiba“ ist bis heute namensgebend. Was einst mit Siedlervereinen und Reihenhausstrukturen in dünn besiedelten Grätzeln begann, soll nun wieder aufgegriffen und auf neu interpretierte Weise zelebriert werden. „Nachdem wir bei der Siedlerbewegung sowie auf dem Gebiet von Niedrigenergie- und Passivhaustechnologien immer schon Vorreiter waren“, sagt Ewald Kirschner, Generaldirektor des gemeinnützigen Bauträgers, „haben wir diese CO2 -neutrale Wohnhausanlage zu unserem Jubiläumsprojekt auserkoren.“

Drei Architekturbüros sind daran beteiligt: Bauteil eins plant der alte Gesiba-Hase Rudolf Guttmann, Bauteil zwei das Studio Eder Krenn, Bauteil drei Herbert Binder in Kooperation mit dem Atelier Kaitna Smetana. Gemeinsamkeit aller drei Baulose: „Wir sind hier in einer sensiblen Gegend zwischen Oberem Mühlwasser und Asperner Siegesplatz umgeben von Einfamilienhäusern, Ackerflächen und Wäldern“, sagt Architekt Benni Eder, der hier 44 Wohnungen plant. „Daher wollen wir den Charakter dieses Ortes trotz wirtschaftlicher Ausnützung des Grundstücks auf jeden Fall beibehalten.“

Außen handelt es sich um 38 punktuelle Häuser in kubischer Form mit Balkonen, Dachterrassen und zum Teil ochsenblutrotem Anstrich. Ergänzt wird die Wohnhausanlage, die insgesamt 155 Wohnungen umfasst, von einem Kindergarten und einem übergreifenden Freiraumkonzept von DnD Landschaftsplanung. „Es wird hier nie eine urbane Atmosphäre mit hunderten urbanen Menschen vor ihren Häusern geben“, meint der Architekt, „daher wollten wir dieses Trugbild auch gar nicht in irgendwelchen fotorealistischen, sozialromantischen Darstellungen vortäuschen.“

Die Jubiläumsbesonderheit liegt im Technischen verborgen: Unter der Wohnhausanlage werden 200 Meter tiefe Sonden in den Boden gegraben, 80 Stück an der Zahl. Über Bauteilaktivierung sollen die Häuser im Winter beheizt und im Sommer immerhin um ein paar Grad nach unten temperiert werden. Die Stromversorgung für die Wärmepumpen erfolgt durch eine PV-Anlage auf dem Dach. Der gesamte Heizwärmebedarf soll auf diese Weise emissionsfrei abgedeckt werden.

„Während des Baubewilligungsverfahrens gab es ein paar Einsprüche“, erinnert sich Gesiba-Chef Kirschner. „Daher haben wir das Projekt ein bisschen redimensioniert und auf die volle Ausnützbarkeit verzichtet.“ Zwischen den Häusern ist Urban Farming geplant. Alle Wohnungen werden im Rahmen der Wiener Wohnbauinitiative errichtet – also mit Wohnkosten in geförderter Höhe zu freifinanzierten Konditionen. Die Miete beläuft sich auf 11,50 Euro, der Eigenmittelanteil auf 150 Euro pro Quadratmeter. Bauzeit: Mitte 2022 bis Mitte 2024.

17. November 2021 Der Standard

Mit Backrohr und Kühlschrank zur Miete

Die Wientalterrassen der WBV-GPA bauen auf dem Prinzip von CO2 -Neutralität und Kreislaufwirtschaft auf. Geheizt wird mit Geothermie und Wärmerückgewinnung. Die Haushaltsgeräte können im Haus angemietet werden.

Eingeklemmt zwischen Westbahngleisen und Hadikgasse, die kurz darauf zur Wientalautobahn mutiert, errichtet die Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV-GPA) auf einem ehemaligen ÖBB-Grundstück in der Käthe-Dorsch-Gasse eine Wohnhausanlage mit 196 klassisch geförderten Mietwohnungen und 99 Smart-Wohnungen. Die Bebauung ist recht kompakt, eine kammartige Struktur mit fünf Höfen, doch dafür gibt es – quasi als Kompensation für die hohe Dichte und die räumlich eng gesteckten Grenzen – drei riesige Dachterrassen im fünften, sechsten und siebten Stock mit Blick auf Wienfluss, Wienerwald und Lainzer Tiergarten.

Doch die wahren Vorzüge der sogenannten Wientalterrassen liegen nicht oben am Himmel, sondern tief verborgen unter der Erde. Über 60 Erdsonden, die bis zu 150 Meter in die Tiefe reichen, wird genug geothermische Energie gewonnen, um damit alle Wohnungen beheizen zu können. Mithilfe von Wärmepumpen und Bauteilaktivierung in den massiven Deckenplatten gelangt die Wärme schließlich in die Wohnbereiche. Unterstützt wird das Niedrigenergiekonzept durch Solarthermie auf dem Dach und ein in Österreich in diesem Maßstab erstmals angewandtes Wärmerückgewinnungssystem, das die Restwärme aus dem Abwasser der gesamten Wohnhausanlage entnimmt und über Wärmetauscher wieder ins Netz zurückspeist.

„Auf diese Weise können wir auf fossile Brennstoffe komplett verzichten“, sagt Michael Gehbauer, Geschäftsführer der WBV-GPA, die das Konzept in Zusammenarbeit mit Ingenieuren des Austrian Institute of Technology (AIT) entwickelte. „Für uns gemeinnützige Bauträger in Österreich ist dieses System neu, in der Schweiz allerdings sind derartige Abwasserwärmerückgewinnungskreisläufe bereits gang und gäbe. Daher haben wir uns im Rahmen einer Exkursion einige Projekte live angeschaut – und uns mit den verantwortlichen Bauträgern und Genossenschaften über ihre Erfahrungswerte im alltäglichen Betrieb ausgetauscht.“

Das physikalische Gleichgewicht der Kräfte sorgt für einen buchstäblich coolen Nebeneffekt: „Wenn die Erdbatterien am Ende des Winters leer und ausgekühlt sind“, sagt Architekt Alfred Berger, der gemeinsam mit seiner Partnerin Tiina Parkkinen das Büro Berger+Parkkinen leitet und das Projekt in Kooperation mit Architekt Christoph Lechner (CEHL) geplant und umgesetzt hat, „müssen wir sie für die kommende Saison wieder mit Energie auffüllen. Daher nutzen wir die Geothermie, um die Wohnungen im Sommer um ein paar Grad zu kühlen. Das ist ein überaus komfortables Angebot, das im geförderten Wohnbau Seltenheitswert hat.“

Eine weitere Besonderheit ist das gemeinsam mit dem Verein Rusz (Reparatur- und Servicezentrum) betriebene Reparaturcafé, in dem die Bewohner mit der Instandsetzung von Haushaltsgeräten vertraut gemacht werden sollen. Weiters wird die WBV-GPA die Haushaltsgeräte in den Waschküchen und in den bereits möblierten Wohneinheiten von Rusz anmieten. Auf Wunsch soll das nachhaltige Kreislaufwirtschaftskonzept auch auf die Wohnungen übertragen werden. Wer möchte, kann – statt in neue Elektrogeräte zu investieren – eine Art Nutzungsvertrag mit dem Verein Rusz abschließen und seine Elektrogeräte über eine monatliche Gebühr anmieten, servicieren und bei Bedarf auch kostenlos reparieren und erneuern lassen.

„All in Penzing“

Der Eigenmittelanteil beläuft sich auf 298 Euro pro Quadratmeter, die monatliche Miete auf 7,97 Euro pro Quadratmeter. In den Smart-Wohnungen reduzieren sich die Kosten ganz klassisch auf 60 Euro Eigenmittelanteil und 7,50 Euro Miete. Hinzu kommen diverse Verbandswohnungen für Alleinerziehende, Garçonnierenverbünde, eine WG für Kinder und Jugendliche, Werkstätten und Büros für den Verein Balance sowie ein Intergenerationenzentrum unter dem Namen „All in Penzing“, das vom Kuratorium Wiener Pensionistenwohnheime betrieben wird und die lokale Nachbarschaft von Jung und Alt stärken soll. Geplante Fertigstellung: November 2022.

9. Oktober 2021 Der Standard

Das Paradies ist die Hölle

The Villages, ein schwer profitables Sozialexperiment mitten in Florida, ist die größte Rentnersiedlung der Welt. Der Dokumentarfilm „The Bubble“ holt das Leben der 150.000 Einwohner vor die Linse. Seit gestern im Kino.

Fokussierter Blick nach vorn, Augen zusammengekniffen, auf dem Kopf ein schwarzes Baseball-Käppi, Aufnäher von der National Rifle Association, „NRA Instructor“, darüber schwarze Ohrenschützer – und dann Schuss, und noch einer, Volltreffer ins Schwarze. „Ich habe heute fast mehr zu tun als in meinen Berufsjahren“, sagt Terry Marksberry in der zehnten Minute. „Bei mir ist fast jeden Tag etwas los. Dieser aktive Lebensstil hält einen jung. Hier sitzt man nicht auf seiner Veranda im Schaukelstuhl. Oh nein, so funktioniert das hier nicht.“

The Villages ist die größte Rentnersiedlung der Welt und zugleich das schnellstwachsende Stadtgebiet der USA. Mehr als 150.000 Pensionistinnen und Pensionisten haben hier, im Herzen Floridas, eine Autostunde nordwestlich von Orlando, ein Zuhause gefunden, in dem sie nun ihren Lebensherbst verbringen. Wohnberechtigt ist, wer zumindest das 55. Lebensjahr abgeschlossen hat. Die meisten bleiben hier bis zu ihrem Tod. „Sowieso. Ich wüsste gar nicht, wo ich sonst hingehen sollte“, sagt Terry schulterzuckend, 80 Jahre alt, jung geblieben wie nur was. Und Schnitt.

Aneinander vorbeileben

„Streng genommen ist The Villages aber nicht einmal eine Stadt, geschweige denn eine politische Gemeinde“, sagt Valerie Blankenbyl, „sondern ein Entwicklungsgebiet eines mittlerweile sehr großen und sehr mächtigen Familienunternehmens. The Villages Incorporated kauft seit den 1980er-Jahren permanent Land an und hat sich auf diese Weise auf die beinahe doppelte Fläche von Manhattan vergrößert.“ 142 Quadratkilometer privates Firmengelände, öffentlich ist hier nur eine Handvoll Straßen und Plätze.

Seit 2014 forscht die 37-jährige Filmemacherin bereits an urbanen Strukturen, in denen alte und junge Generationen aneinander vorbeileben. 2017 nahm das Projekt konkrete Formen an, 2019 haben nach jahrelanger Recherche die Dreharbeiten begonnen. Immer wieder wurden dem Filmteam seitens The Villages Inc. Steine in den Weg gelegt, mitsamt Drohungen und Rufschädigung in der ganzen Stadt. Nun ist der 950.000 Euro teure Dokumentarfilm endlich fertig. Am Dienstag war Premiere im Wiener Votiv-Kino. Seit Freitag läuft The Bubble österreichweit in den Kinos.

Die Expansion stoppen

„Wir wissen, wir sind hier in einer Bubble“, sagt Toni Hyde, eine fesche alte, mehrfach auf dem OP-Tisch verjüngte Frau, die mit ihrem BMW-Cabrio in die Disco fährt, um dort live zu singen. „I want a little sugar in my bowl. I want a little sweetness down in my soul.“ „Aber es ist eine schöne Blase.“ Später im Film wird man sie mal ohne Perücke sehen, die melierte Schönheit in der Hand haltend, mit der Bürste durchkämmend. „Es ist eine wunderbare Sache. Man geht in den Supermarkt, in den Nachtclub oder auf den Golfplatz, und alle sind in unserem Alter. Wir denken also gar nicht an das Alter. Wir sind alle gleich.“

The Villages bietet 54 Golfplätze, 70 Swimmingpools, 96 Freizeitzentren und mehr als 3000 Klubs und Vereine. Auch der Vorspann des Films, in dem nach einer strengen Choreografie sieben Golfcarts plötzlich gleichzeitig auf die Straße hinausrollen und – von einer Drohne gefilmt – im Gänsemarsch durch die Stadt fahren, wurde in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Golf Cart Precision Drill Team gedreht, erzählt die Regisseurin. Man lacht, man schüttelt den Kopf, man erwischt sich selbst dabei, wie man die hier lebenden Menschen – wie so oft im etwas strangen Make-it-great-again-America – verächtlich bemitleidet. Alles sehr lustig. Eh klar.

Doch die größte Qualität von The Bubble besteht darin, dass der Film die vordergründige, oberflächlich humorvolle Sozialblase nach nicht einmal einer Viertelstunde erstmals zum Platzen bringt. Seit geraumer Zeit betreibt das von Harold S. Schwartz gegründete und nun in dritter Generation geführte Familienunternehmen The Villages Inc. eine aggressive Expansionspolitik, bei der mit Scheinfirmen und versteckten Tochterunternehmen den Großgrundbesitzern das Land abkauft und die für Florida typischen Sumpfgebiete unter Umgehung von Bauvorschriften und Widmungsvorgaben mehr und mehr in Siedlungsretorten verwandelt werden.

Und die Strategie wird von Jahr zu Jahr unappetitlicher: Grundbesitzer, die sich weigern, ihr Land und ihre Häuser zu verkaufen, und das oft unter Wert, werden von The Village einfach wie ein Krebsgeschwür eingekesselt und mit Mauern und Zufahrtsschranken zugebaut. In den nächsten zehn Jahren, so der Plan, soll sich das Rentnerparadies auf die Fläche von Orlando verdoppelt haben. Rund um The Villages haben sich zahlreiche Bürgerinitiativen gebildet, die mit allen Mitteln versuchen, die Expansion zu stoppen. Zum Teil vergeblich. Manche Grundstücke haben längst die Besitzer gewechselt.

„Was The Villages ausmacht? Sie wollen alles kontrollieren“, sagt Lauren Ritchie, Journalistin und Kolumnistin für den Orlando Sentinal, eine der wenigen kritischen Stimmen, die sich trauen, namentlich aufzutreten. „Das ist ein wirklich seltsames soziales Experiment.“ Andere, die im Film anonym bleiben, wurden von The Villages Inc. bereits erpresst und mehrfach bedroht. Die lokale Tageszeitung Daily Sun liegt fest in der Hand des Vorstands. Und aus den öffentlichen Lautsprechern auf Straßen und Plätzen dringen rund um die Uhr Musik, Werbung und Nachrichten von WVLG, FM 102,7, einem Partner von Fox News.

Surreale Wucht

„Künstliche Konstrukte wie The Villages sind eine Bedrohung für den Menschen und die Natur“, sagt Valerie Blankenbyl. „Die Sümpfe verschwinden, die Moskitos werden mit Pestiziden ausgerottet, und aufgrund des hohen Wasserverbrauchs für die 54 Golfplätze ist der lokale Grundwasserspiegel rund um den Ort um bis zu drei Meter gesunken.“ Die Bilder von Kameramann Joe Berger, die diese Phänomene einfangen, sind eine surreale Wucht.

Gefahr sieht die Filmemacherin, die von den Anwälten von The Villages regelmäßig unter Druck gesetzt wurde, aber auch für die Gesellschaft: „Jeder von uns lebt in einer Bubble. Den Wunsch nach dieser Idylle kann man den Bewohnerinnen und Bewohnern von The Villages nicht vorwerfen. Die Kritik richtet sich an die Bau- und Immobilienwirtschaft, die diese monokulturellen und sozial radikalen, kaum durchmischten Strukturen fördert und als Sehnsuchtsort bewirbt.“ Am Anfang Lachen, am Ende Trauer und Wut. Ein Meisterwerk.

18. September 2021 mit Maik Novotny
Der Standard

20 Jahre Museumsquartier: Oase mit einem Quäntchen Mut

Vor 20 Jahren wurde das Wiener Museumsquartier eröffnet, die Geburtsstunde eines der größten Kulturbezirke Europas. Doch wie hat sich das MQ in zwei Jahrzehnten gemausert?

Plus
Wojciech Czaja

600Pferde und 200 Karossen, sagt Wikipedia, sollen in den ehemaligen Hofstallungen, errichtet 1713 nach Plänen des Barockbaumeisters Johann Bernhard Fischer von Erlach, Platz gefunden haben. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts jedoch war von der einstigen Pracht nicht mehr viel zu spüren. Der sogenannte Messepalast verlor zusehends an Charme, und auch die letzten Ausstellungen Wunderblock oder Von der Natur in der Kunst , die wir mit unseren Vätern gesehen haben, glichen mehr einem Hindernisparcours durchs Gruselkabinett als einer kunst- und kulturwürdigen Ausstellungsstätte.

Im September 2001, vor genau zwei Jahrzehnten, wurde das Areal als saniertes und erweitertes Museumsquartier wiederbelebt – mit Mumok, Kunsthalle, Leopold-Museum, Architekturzentrum Wien, Zoom Kindermuseum, Tanzquartier Wien und ohne 67 Meter hohen Leseturm. Zugegeben, die Architektur im gesamten MQ ist mäßig spannend und endenwollend innovativ. Alles ist zu plump, zu niedrig, zu nichtssagend. Und die mindermittelmäßigen Kompromisse zwischen Kronen Zeitung , Bürgermeister Helmut Zilk und Denkmalschutzexperte Manfred Wehdorn haben mehr politischen als baukulturellen Aussagewert. Ja eh.

Und doch ist das Museumsquartier selbst nach 20 Jahren einer der spannendsten Orte Wiens. Wer weiß, vielleicht gerade deshalb – weil es keinen Leseturm gibt, weil der Fischer-von-Erlach-Trakt nie aufgerissen und zur Stadt hin geöffnet wurde, weil das MQ als architektonisch dermaßen langweilige Insel inmitten einer dichtbebauten Stadt schlummert, die außerhalb der MQ-Konturen einem stetigen stadtpolitischen und marktwirtschaftlichen Wandel unterworfen ist.

Michel Foucault hat in den 1960er-Jahren den Begriff der „Heterotopie“ geprägt, eines Ortes also, der in seiner Abgeschiedenheit nach speziellen gesellschaftlichen Codes funktioniert. „Die Heterotopie vermag an einem einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind“, schrieb der französische Philosoph 1967. „Die Heterotopien setzen immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht.“

Das MQ als isolierte und doch durchdringliche urbane Heterotopie ist zu einem unverzichtbaren öffentlichen Freiraum Wiens geworden – mit bunten Enzis, die in ihrer Kleinheit und Genialität die Welt erobert haben, von Bayreuth über Moskau bis ins ferne Kanada, mit komischen Libellen, die unlängst auf dem Leopold-Dach gelandet sind, um doch noch einen neuen Society-Ort zu schaffen, und einem Unterhaltungsprogramm samt Stinkepunsch, Eisstockschießen und prokrastinativem Enzi-Bobolümmeln. Wien ohne MQ?

Unvorstellbar.

Minus
Maik Novotny

Vielleicht ist es eines der Geheimrezepte für Wiens Spitzenplatz in den Lebensqualitätsrankings, dass man in dieser Stadt das Sich-Arrangieren mit dem Kompromiss perfektioniert hat. Jede Empörung gleitet nach einer Zeit zuverlässig in einen Zustand des „Passt eh“ hinüber, ab dann ist jede Kritik ein Sudern, das die Gemütlichkeit stört. Ja, das gilt auch für das Museumsquartier. Sicher, 20 Jahre nach seiner Eröffnung gilt es als Erfolgsgeschichte, und das nicht ohne Grund. Der Innenhof funktioniert als Stadtraum perfekt für Einheimische und Touristen. Die kulturellen Highlights sind beeindruckend.

Aber dabei wird vergessen, dass der Kulturbezirk sich mit bleiernen Schuhen von der Startlinie schleppte: Er war im Stadtraum unsichtbar. So verzweifelt waren die Macher, dass der damalige Mumok-Direktor Edelbert Köb 2002 vorschlug, einen gigantischen Spiegel an einen Heißluftballon zu hängen, um den Hof von außen sichtbar zu machen.

Das lag daran, dass das MQ dank gewisser Kräfte (Gott habe Hans Dichand selig) gar nicht im Stadtraum sichtbar sein sollte. Der Leseturm wurde geculturecancelt, die Museen Leopold und Mumok mussten sich hinter die niedrigen Hofstallungen ducken, der Vorplatz an der Zweierlinie erinnert mit seinen Wiesen und Hecken an einen leblosen Kleingarten. An diesen Kinderkrankheiten laboriert man bis heute.

Der Weg zur Kunst ist ein Hindernislauf. Hat man es durch die maulwurfsartigen Durchschlupfe endlich in den Hof geschafft, heißt es, steile Stiegen emporzuklettern und sich durch niedrige Portale zu quetschen, bis man das Museumsinnere erreicht, das ebenfalls von drückender Enge ist, was immer wieder für kuratorisches Kopfzerbrechen sorgte. Die Kunsthalle mit ihrem Klinkerfassaden-Look à la Stadtbücherei Wolfenbüttel wurde gleich komplett in den Lieferantenhof verräumt, ihr labyrinthisches Foyer ist eine Farce. Die Höfe seitlich der weißen und schwarzen Würfel sind in ihrer Übriggebliebenheit bis heute leblose Quasi-Sackgassen, an deren Ende Muschelkalk und Basaltlava unmotiviert mit der sakrosankten barocken Putzfassade kollidieren.

Es musste viel nachgebessert werden (die Rampe zum nicht auffindbaren Restaurant im Mumok, das Wegeleitsystem), die Rettung des MQ kam mit den Sitzmöbeln der Enzis, weil man vergessen hatte, dass sich Menschen im öffentlichen Raum gerne hinsetzen. Schöne Kulisse und hochkarätiges Kulturprogramm – das konnte Wien schon immer. Aber das verdeckt bis heute die Tatsache, dass die Architektur und die Zugänglichkeit immer noch nicht funktionieren. Es hätte so viel besser sein können, wenn man es von Anfang an zugelassen hätte und den Kräften der Kulturlosigkeit nicht nachgegeben hätte. So bleibt ein schön scheinender Kompromiss.

8. September 2021 Der Standard

Ein Haus wartet auf die Mobilitätswende

Die Wohnanlage in der Oleandergasse hätte ein wunderbares Pilotprojekt für die Sharing Economy werden sollen. Doch es kam anders. Heute sind die Wohnungen im Norden der Donaustadt vor allem eine wertvolle Quelle der Erkenntnis.

Wenn die Straßen nach Ginster, Herzblumen und Pelargonien benannt sind, dann weiß man, dass die Stadtgrenze nicht mehr fern ist. Im Falle der Wohnsiedlung Oleandergasse, errichtet von der Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV-GPA), sind es keine 2000 Schritte quer durch den Acker, bis man Wien verlassen hat und mit beiden Beinen in Niederösterreich steht. Und doch hat sich der gemeinnützige Bauträger für dieses Projekt ein besonderes Mobilitätskonzept einfallen lassen – ohne Tiefgarage, dafür aber mit einem flexibel befahrbaren und beparkbaren Anger sowie einem elektrischen Fuhrpark auf Sharing-Basis. So viel zur Theorie. Die Praxis sieht ein wenig anders aus.

Am Anfang stand die Idee im Raum, hier oben im Wiener Norden die Bebauungs- und Besiedelungskultur der letzten Jahrhunderte zu respektieren und ein Wohnprojekt zu errichten, dass sich ganz in die Tradition dieses Ortes fügt. Breitenlee zeichnet sich durch Ackerbau, landwirtschaftlich geprägte Dörfer und historische Angerstrukturen mit Hakenhöfen aus. Und so entstand die Idee, auf eine kostspielige Tiefgarage zu verzichten und stattdessen in einen hochwertigen Holzbau und eine bis dahin einzigartige Freiraumgestaltung zu investieren, in der Mensch und Auto je nach Bedarf einmal mehr, einmal weniger Platz einnehmen.

Wer unbedingt ein eigenes Fahrzeug benötigt, so der Plan von Querkraft Architekten und Architekt Thomas Moosmann, der soll am Rande des Angers parken und die Mitte zum Spielen und Spazierengehen frei lassen. Je weniger Menschen parken, desto größer der unverparkte Dorfplatz im Zentrum der Anlage. Um den Umstieg auf Sharing Economy zu versüßen, wurde ein Mobility-Point mit E-Bikes, E-Scootern und Elektroautos samt Steckdose errichtet. 2018 wurden die Wohnungen übergeben.

Allein, nach zwei Jahren mäßig geglückten Betriebs musste das Mobility-Konzept mangels Nachfrage aufgegeben werden. „Im Grunde genommen bietet eine Wohnhausanlage mit 133 Wohnungen ausreichend kritische Masse für so ein innovatives Mobilitätskonzept“, sagt Cilli Wiltschko, Leiterin der Projektentwicklung in der WBV-GPA. „Allerdings haben wir uns als Bauträger in einem Punkt verkalkuliert. Denn für Sharing Mobility liegt die Oleandergasse erstens zu weit am Stadtrand und ist zweitens nicht gut genug an den öffentlichen Verkehr angebunden. Die meisten Leute, die hier eingezogen sind, haben ein eigenes Auto. In der Seestadt Aspern oder in der Nähe einer U-Bahn-Station hätte das Konzept wahrscheinlich wunderbar funktioniert.“ Nun stehen so viele Autos auf dem Anger, dass die freie Mitte auf ein Minimum geschrumpft ist, berichtet Wiltschko. „Das ist schade, aber auch Teil des Freiraum- und Mobilitätskonzepts.“
Das Stadtrandproblem

Was ist das Learning für die Zukunft? „Ich mag dieses Projekt, weil hier tolle Ideen und auch wichtige Erkenntnisse drinstecken“, sagt Wiltschko und appelliert daran, in Zukunft nicht alle Bauträgerwettbewerbe über einen Kamm zu scheren. „Ein innovatives Mobilitätskonzept hat durchaus Sinn in der Stadt, entlang der U-Bahn oder in Stadterweiterungsgebieten mit einer bestimmten, von den Bewohnerinnen und Bewohnern mitgetragenen Identität. Am Stadtrand aber ist so ein Konzept – zumindest aus heutiger Sicht – nicht zielführend.“

Die Hoffnung ist noch lange nicht verloren. „Wir können davon ausgehen“, sagt Architekt Jakob Dunkl von Querkraft, „dass sich die individuelle Mobilität in den nächsten zehn bis 20 Jahren dramatisch verändern wird – weg vom Auto als Eigentumsobjekt hin zur Bewegung als Dienstleistung. Die Wohnhausanlage in der Oleandergasse wird darauf rasch reagieren und sich im Nu in einen Dorfplatz zum Spielen und Spazierengehen verwandeln.“

28. August 2021 Der Standard

Ein Haus für Billy

Ein radikales Möbelhaus mit Symbolwirkung am Wiener Westbahnhof: Der neue City-Ikea von Querkraft Architekten hat nicht nur 160 Bäume auf dem Dach und an der Fassade, sondern auch keine Autos in keiner Garage.

Das Haus, die Fassade, die Offenheit, die vielen Bäume, und dann erst die Bienen, die kommendes Frühjahr einziehen werden“, sagt Marie, gelbes T-Shirt, am Rücken ein „Hej!“, wir sind per du, „also ich finde dieses Konzept absolut überwältigend. Für mich ist das der schönste und außergewöhnlichste Ikea, in dem ich je war.“ Seit sechs Monaten ist Marie Hofmann Customer Experience and Event Manager, so nennt sich ihr Job, am neuen City-Standort neben dem Wiener Westbahnhof. Sie hat das Projekt in der letzten Bauphase begleitet und ihre Expertise eingebracht, damit das Einkaufserlebnis im kleinsten Schwedenmöbelhaus Österreichs zum Abenteuer wird.

Erster Eindruck nach einem Minieinkauf mit selbst eingescannten und kontaktlos bezahlten Jubla, Fantastisk und Sommardröm: Viel Arbeit wird Marie damit nicht haben, denn die ersten Kundinnen und Kunden, die sich für die Einkaufspremiere online registrieren mussten, sind ganz verzückt beim Durchwandern der Etagen, ohne dass sie zwischen potemkinschen Schlafzimmerkojen irgendwelchen blöden Pfeilen auf dem Boden folgen müssen. Und auch das architektonische Auge ist bisweilen ungehalten baff ob der Tatsache, dass dieses Konzept eines autolosen Blumentopfhauses – wie zu Beginn in tollkühner Manier direkt aus dem Hirn herausskizziert – den Weg in die Realität gefunden hat.

„Das war von Anfang an eine sehr einzigartige Zusammenarbeit“, sagt Jakob Dunkl, Querkraft Architekten, „denn wir wurden gebeten, einen radikalen Entwurf zu machen und uns ruhig etwas zu trauen. Also haben wir uns getraut.“ Neun Architekturbüros aus ganz Europa wurden 2017 zu einem zweistufigen Wettbewerb eingeladen, darunter auch so alte Retailhasen wie BWM, BEHF und Snøhetta. Aufgrund eines Kopf-an-Kopf-Rennens wurde kurzerhand noch eine dritte Stufe einberufen, die Querkraft für sich beanspruchen konnte.

„Ikea hat viel weniger Nutzfläche gefordert als laut Bauordnung und Flächenwidmung auf das Grundstück draufgepasst hätte, also haben wir uns entschieden, auf allen Seiten um mehr als vier Meter zurückzuspringen und der Stadt ein Stück Natur zurückzugeben“, so Dunkl. Rund um das eigentliche Gebäude, das in Stahlbeton-Skelettbauweise errichtet wurde und während der Bauphase noch ein mäßig famoses Bild abgegeben hat, steht nun ein weißes, sechsgeschoßiges Stahlregal aus 30 Zentimeter fetten I-Trägern und bildet damit eine Matrix für Erker, Terrassen und Dutzende Laub- und Nadelbäume, die ausschauen, als hätte ein Riese Bonsaibäumchen und kleine Sukkulenten in sein Billy-Regal hineingestellt.

Zu den an der Fassade eingetopften Pflanzen zählen Ahorne, Kiefern, Birken, Buchen, Eichen, Eschen, Weidenbäume sowie diverse Gräser, Stauden und Beeren. Die Artenvielfalt spiegelt jene Flora wider, die in der südschwedischen Provinz Småland – der Heimat des Ikea-Gründers Ingvar Kamprad – zu finden ist. Entwickelt wurde die Freiraumplanung von Green for Cities und Kräftner Landschaftsarchitektur. Den beiden Büros ist auch die unsichtbare Gartentechnik zu verdanken, denn jeder einzelne der insgesamt 160 Blumentöpfe, die an vier Fassaden und auf der öffentlich zugänglichen Dachterrasse montiert sind, ist mit Feuchtigkeitssensoren und automatischer Be- und Entwässerung ausgestattet.

„Die Lieferung und Montage der Bäume war sehr spannend, denn aufgrund des großen Gewichts mussten die Töpfe, die Bäume und das Erdreich voneinander getrennt auf das Haus gehoben werden“, sagt Sandra Sindler-Larsson, Market Establishment Manager beziehungsweise, weniger du-ikea-deutsch, technische Projektleiterin auf Bauherrenseite. Immerhin wiegen die gefüllten und bewässerten Behältnisse, eine Ingefära-Kopie, Blumenabteilung, vier Euro das Stück, je nach Größe und Baumsorte zwischen 1,5 und sieben Tonnen. „Natürlich wären eckige Tröge billiger gewesen als diese runde Version aus gebogenem, zusammengeschweißtem Stahlblech, aber Blumentöpfe sind nun einmal rund.“

Im Inneren gleicht der Ikea, dessen Fassade mit Glas und Sandwich-Paneelen verkleidet und der an das Wiener Fernwärmenetz angeschlossen wurde, auf den ersten Blick einem normalen, viergeschoßigen Möbelhaus. Mit nur 20 nachgestellten Showrooms liegt der Fokus weniger auf dem häuslichen Einlullen wie in jeder anderen blaugelben Kiste am Stadtrand als vielmehr auf dem Spaziergehen und Stöbern.

Auch das Sortiment unterscheidet sich deutlich: Kaufen kann man alles, bis hin zur maßgeschneiderten Küche, allerdings liegen im unterirdischen, vollautomatisierten Regallager lediglich 3000 Cash-and-Carry-Produkte bereit. Mitnehmen kann man nur, was man in einer Tragtasche in der U-Bahn transportieren kann. Alles andere wird mit einem der 30 neu angeschafften Elektro-Trucks bis vor die Wiener Wohnungstür geliefert.

Aus genau diesem Grund gibt es auch keine Pkw-Garage. Es ist das erste Mal weltweit, dass Ikea dieses radikale Mobilitätskonzept umsetzt. Zu verdanken ist dies vor allem zwei querdenkenden Personen, die 2012 die Initiative ergriffen und die Spielregeln für eine innerstädtische Ansiedlung des schwedischen Unternehmens definiert haben – der damaligen Wiener Planungsstadträtin Maria Vassilakou und dem ehemaligen Wiener Planungssprecher Christoph Chorherr (beide Grüne).

In den obersten zwei Stockwerken gibt es ein Hostel mit 345 Betten, das von der Accor-Tochter Jo&Joe betrieben wird und das sowohl von der Straße per Lift als auch direkt vom Ikea-Restaurant aus betreten werden kann. Durch begrünte Atrien, die von oben ins Haus hineingedrückt wurden, werden alle Zimmer und Dorms mit Tageslicht erschlossen. Das Dachgeschoß schließlich ist, wie dies im städtebaulichen Vertrag vorgeschrieben war, täglich von acht bis 24 Uhr öffentlich zugänglich. Mit zig Bäumen, weißen Container-Bars und betonierten Klippan-Sofas mit Blick auf die Stadt.

Seit wenigen Tagen ist das neue Haus (Gesamtinvestitionsvolumen 140 Millionen Euro) in Betrieb. Seit wenigen Tagen hat Wien endlich eine zeitgenössische, sehenswerte Architekturikone. Hej!

24. Juli 2021 Der Standard

Utopie Alltag

Eisenhüttenstadt ist die erste sozialistische Planstadt der DDR. In einer Ausstellung werden nun Geschichte, Gegenwart und Zukunft beleuchtet. Lernfaktor enorm.

Der Hochofen ist das höchste Bauwerk der Stadt. So etwas wie der Kirchturm auf dem Dorfplatz. Bloß halt wichtiger, praktischer, effizienter. „19. September 1951 in Betrieb genommen“, steht auf einer Metalltafel am Fundament. Und damit nahm Eisenhüttenstadt an der ostdeutsch-polnischen Grenze, knapp 100 Straßenkilometer von Berlin entfernt, seinen Anfang. Heute zählt die sozialistische Planstadt, die aussieht, als hätte ein SED-Funktionär mit der Modelleisenbahn gespielt und zwischen all den Häusern, Laternen und Moosgummibäumen vor lauter Euphorie auf die Zuggleise vergessen, zu den außergewöhnlichsten Stadtutopien des 20. Jahrhunderts.

„Eisenhüttenstadt ist die erste sozialistische Planstadt der DDR und war damals der gebaute, manifest gewordene Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen Modells“, sagt Florentine Nadolni. „Tatsächlich steht diese Stadt für Euphorie und Optimismus, denn sie war das Produkt einer jungen, tatkräftigen und technisch gebildeten Bevölkerung, die dem kriegszerstörten Deutschland den Rücken kehrte und in dieser neuen Stadtutopie ihre Träume ausleben konnte. Schon der erste Eindruck auf der Leninallee mit ihren weiten Plätzen, ihren Blumenbeeten und all ihren Lokalen und Feinkostläden war für die Ankommenden ein Erlebnis.“

Nadolni, 40 Jahre alt, selbst ein Kind der DDR, ist ausgebildete Soziologin und Kulturwissenschafterin und beschäftigt sich mit dem kulturellen Erbe der Deutschen Demokratischen Republik. Seit 2017 leitet sie das Museum Utopie und Alltag mit Sitz in Eisenhüttenstadt. Die rund 500 Quadratmeter kleine Institution ist in einem ehemaligen Kindergarten beheimatet und widmet sich der wissenschaftlichen Aufbereitung und Dokumentation der DDR-Alltagskultur.

„Ohne Ende Anfang“

„Und Teil dieser Kultur“, sagt Nadolni, die die Ausstellung gemeinsam mit Axel Drieschner kuratierte, „ist auch die Art und Weise, wie in der DDR gelebt und gewohnt wurde und wie wir mit diesem Erbe heute umgehen.“ Diesen Fragestellungen widmet sich die Ausstellung Ohne Ende Anfang , die neben dem prominenten Protagonisten Eisenhüttenstadt auch Querverbindungen zu Schwedt/Oder (Erdölverarbeitung) und zum polnischen Pendant Nowa Huta bei Krakau (Stahlindustrie) schafft.

Im Gegensatz zu bestehenden Städten, die in den DDR-Jahrzehnten lediglich überformt und erweitert wurden, konnten in Eisenhüttenstadt jene 16 Grundsätze des Städtebaus , die im April 1950 in der Sowjetunion verfasst und im Juli 1950 vom Ministerrat der DDR verabschiedet wurden, vom Fundament auf als perfektes Ideal realisiert werden. Dazu zählen etwa die „harmonische Befriedigung des menschlichen Anspruchs auf Arbeit, Wohnung, Kultur und Erholung“ (2. Grundsatz) sowie ein adäquates „Antlitz der Stadt“, eine „individuelle künstlerische Gestalt“ und Plätze als „strukturelle Grundlage der Planung der Stadt und ihrer architektonischen Gesamtkomposition“ (9. Grundsatz).

„Das Zentrum von Eisenhüttenstadt wurde zu Beginn errichtet und ist in einem historisierenden, sozialistischen Klassizismus gehalten“, sagt Nadolni. „Mit dem Tod Stalins 1953 ändert sich die Architektursprache, und die weiteren Bauten werden schlichter, nüchterner, industrieller. In den äußeren Wohnkomplexen wurden dann nur noch günstige und schnell zu errichtende Plattenbauten realisiert. Was sich jedoch als Qualität durch ganz Eisenhüttenstadt durchzieht: Platz, Weite, Licht, Luft und viel Grün.“

Zudem wurden die Straßen und Wohnhäuser so positioniert, dass die Menschen von daheim in die Arbeit zu Fuß gehen und dabei den Straßenverkehr meiden konnten. „Die Innenhöfe sind miteinander verbunden, sodass sie nicht nur ein Ort der Freizeit, sondern auch eine attraktive Verkehrsfläche für Passantinnen und Passanten sind.“ Aufgrund der Architektur und der besonderen städtebaulichen Anlage steht Eisenhüttenstadt heute unter Denkmalschutz. Teile dieses größten Flächendenkmals Deutschlands sogar schon seit den 1980er-Jahren.

Wie geht es weiter?

Um die dramatisch schrumpfende Stadt – die Hälfte der einst 50.000 Einwohner ist bereits weg – vor dem Verfall zu schützen, hat sich Eisenhüttenstadt für einen einzigartigen Weg entschieden: Die Stadtränder mit ihren Plattenbau-Wohnkomplexen wurden in den letzten Jahren sukzessive abgerissen, das Zentrum der Stadt jedoch zum Teil aufwendig und behutsam saniert – zumindest dort, wo die Handhabe noch möglich ist. Nadolni: „Einige Schlüsselbauwerke wie etwa das Hotel Lunik befinden sich in privater Hand und sind reine Spekulationsobjekte. Die Investoren halten sich bedeckt, man kann den Häusern beim Einsturz zusehen.“

Wie geht es weiter? Bis 2026 soll die Stahlhütte – einst Eisenhüttenkombinat Ost (EKO), heute ArcelorMittal – auf grüne Energie umgestellt werden. Fragwürdig, ob das Werk, das statt der einst 16.000 heute nur noch 2500 Menschen beschäftigt, eine weitere Wende überleben wird. „Aus denkmalpflegerischer Sicht ist Eisenhüttenstadt ein richtiges Juwel, aber das Gesellschaftsmodell, das diese Stadt verkörpert, ist bereits Geschichte“, sagt Thomas Drachenberg, Landeskonservator in Brandenburg, dem ΔTANDARD. „Es braucht ein Existenzkonzept für die Zukunft, auch ohne die Schwerindustrie.“

Wie dieses Konzept aussehen könnte, ist Teil der Ausstellung. Die Besucher sind eingeladen, ihre Ideen zu teilen. Und Kuratorin Florentine Nadolni träumt davon, sich mit anderen Planstädten wie etwa Nowa Huta, Dunaújváros (Ungarn), Dimitrowgrad (Bulgarien) und Magnitogorsk (Russland) zu vernetzen. „Bei aller Liebe zu diesem Denkmal, aber wir sind auch von Rückbau und Depression betroffen. Umso wichtiger sind eine gesamteuropäische Offenheit und eine internationale Vision für uns alle.“

[ „Ohne Ende Anfang. Zur Transformation der sozialistischen Stadt“, Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt. Bis 29. Mai 2022 ]

17. Juli 2021 Der Standard

Stadt, Land, Bild

Gestern, Freitag, wurde in Frankfurt der Europäische Architekturfotografie-Preis vergeben. An der Schnittstelle von arm und reich, von schön und hässlich, von städtisch und ländlich gibt es eine Bewegungsunschärfe.

Wohnblöcke, Plattenbauten, austauschbare Hochhäuser bis zum Horizont. Und nicht selten sind auf seinen Fotos noch Rohbauten und dutzende Baukräne zu sehen, die sich im Kreis drehen und Fenster und Betonfertigteile in den zehnten oder 20. Stock hinaufziehen. Doch eine Gemeinsamkeit haben sie alle, die rund 30 dezentralen Stadtlagen in der Türkei, die der deutsche Architekturfotograf Norman Behrendt in den letzten Jahren mit seiner Linse eingefangen hat: Irgendwo dazwischen findet sich immer eine Moschee mit unzähligen Kuppeln und Minaretten, anachronistisch in Gold, Silber und Kupfer schimmernd, und man kennt sich nicht aus: Was ist alt, und was ist neu?

Passend zu Corona-Zeiten

„Der Zuzug der ländlichen Bevölkerung in die Städte ist enorm, und so wird an den Stadträndern im Eiltempo gebaut, um Wohnraum für Tausende von Menschen zu schaffen“, sagt Behrendt, der regelmäßig in der Türkei ist und 2015 seine Fotoserie Brave New Turkey gestartet hat. „Der Bau von Moscheen ist Teil dieser Stadtentwicklung, dabei gibt es zwischen der modernen, zeitgenössischen Architektursprache der Wohnblöcke und der historistischen Anmutung der Gebetshäuser einen stilistischen Clash, der mitunter sehr befremdlich wirkt und mich darüber nachdenklich stimmt, welchen Stellenwert die Religion in der derzeit konservativ regierten Türkei einnimmt. Viele Aleviten, mit denen ich gesprochen habe, halten diese Entwicklung für fragwürdig und beängstigend.“

So wie am Beispiel der Yaşamkent-Nur-Moschee in Ankara. Die gezeigte Aufnahme mit der gülden glitzernden Dachlandschaft stammt aus dem Jahr 2017 und findet sich unter jenen Preisträgern und Auszeichnungen, die gestern, Freitag, im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main mit dem Europäischen Architekturfotografie-Preis ausgezeichnet wurden. Die Ausschreibung stand heuer unter dem Motto „Das Urbane im Peripheren“ und widmete sich jenen Tendenzen und Entwicklungen, in denen die uns bekannten Stadt- und Landbilder mal sanft, mal heftig, mal poetisch irritierend aufeinanderprallen.

„Wir haben den Preis vor Beginn der Pandemie ausgeschrieben, aber es ist fast unheimlich zu sehen, wie passend die Thematik auch in Zeiten von Corona erscheint, wenn man bedenkt, wie viele Menschen plötzlich auf das Land geflüchtet sind und wie menschenleer und gespenstisch dörflich die Stadt an manchen Tagen gewirkt hat“, sagt Christina Gräwe, Vorsitzende des Vereins Architekturbild e. V. mit Sitz in Berlin und Heidelberg. „Ja, die urbanen Spuren im ländlichen Raum sind unübersehbar.“

So auch bei Torsten Andreas Hoffmann. Der deutsche Fotograf reist regelmäßig nach Indien und erforscht mit seinen beiden Kameras, Canon 5DS R und Leica CL, die rasant wachsende Metropole Mumbai. „Es gibt wenige Städte, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Upperclass und Abgrund so groß und so tief ist wie in Mumbai. Aufgrund ihrer begrenzten Lage auf einer Halbinsel treffen die unterschiedlichen Facetten dieser Stadt hier besonders chaotisch aufeinander.“

Soziale Reibung

Mit seiner Serie Peripherie für die Armen hielt er das weltberühmte Slumviertel Dharavi fest, in dem laut Schätzungen rund 600.000 Menschen leben sollen. „Früher lag Dharavi am Stadtrand, und man fuhr auf dem Weg zum Flughafen daran vorbei“, sagt Hoffmann. „Heute aber hat sich die Stadt so weit in den Norden ausgedehnt, dass Dharavi geografisch gesehen in der Mitte der Stadt liegt. Die wichtigsten Verkehrswege führen mittendurch, die Reibung ist spürbar.“

Um genau diese soziale Reibung darzustellen, und zwar in einem Viertel, in dem die Menschen vor allem als Masse wahrgenommen werden und kaum ein individuelles Gesicht haben, fotografiert Hoffmann mit speziellen Neutraldichtefiltern, was – auch untertags – zu Bewegungsunschärfen und Belichtungszeiten von fünf bis zehn Sekunden führt.

Mit ungewöhnlich langen Belichtungszeiten arbeitet auch Oliver Heinl. Seine Fotos, die er mit bis zu 15 Sekunden lang geöffneter Blende einfängt, wurden gestern mit dem ersten Preis ausgezeichnet. „Die Stadt wird nie unsichtbar, auch nicht hier draußen im Umland von Nürnberg“, sagt der 55-Jährige. Sein Motiv: kein Gewitter, keine Polarlichter, sondern einzig und allein die nächtliche Lichtverschmutzung, die in der urbanen Peripherie die Nacht zum Tag macht. Damit gewinnt der menschliche Eingriff an der Schnittstelle Stadt und Land an sozialpolitischer und ökologischer Brisanz. Stadt ist immer und überall, auch wenn es nur ein optisches Echo am Himmel ist.

6. Juli 2021 deutsche bauzeitung

Die Baugruppe von Bullerbü

Baugruppenprojekt B.R.O.T. in Pressbaum (A)

Das Gemeinschaftswohnprojekt B.R.O.T. in Pressbaum ist eines der auf den ersten Blick unscheinbarsten und bei näherer Betrachtung wohl schönsten Baugruppen-Projekte Österreichs. Das Wiener Büro nonconform zimmerte ein nachhaltiges Dorf aus zehn vorgefertigten Holzhäusern.

Die Kleinen laufen nackt durch die Botanik und richten wassergefüllte Spritzpistolen aufeinander. Fangenspielen, Räuber und Gendarm, Käferbegutachtungen auf der ausgebreiteten Handfläche. »Spinnst du? Das ist doch kein Marienkäfer! Der ist ja nicht mal rot!« – »Oh ja, die sind nicht alle rot! Du hast ja keine Ahnung …« Die ersten Minuten vor Ort fühlen sich an, als wäre man in eine Zeitmaschine ein- und in irgendeiner smartphone- und applosen Parallelwelt wieder ausgestiegen. Wie ein Wald- und Wiesenspaziergang durch Bullerbü, mit Pippi Langstrumpf , Tommy und Annika an der Hand.

»Die meisten von uns kommen aus Wien und haben sich nach einem ruhigen, nachhaltigen Leben mit geringem CO2-Fußabdruck gesehnt«, sagt Johanna Leutgöb. »Es gibt sehr viele Kinder, sehr viel Natur und auch ein gewisses Bewusstsein für die Gestaltung des Wohn- und Lebensalltags, das uns alle verbindet. Und trotzdem wohnen hier ganz viele unterschiedliche Leute aus unterschiedlichen beruflichen Backgrounds mit unterschiedlichen Lebensvorstellungen.« Johanna, 64 Jahre alt, ist Coach und Organisationsberaterin und lebt hier gemeinsam mit ihrem Partner Peter, seines Zeichens Landschaftsplaner und Landschaftsökologe. Er steht gerade in der Küche und mischt den Teig für Rosinenbrot und gebackene Mäuse.

»Mit 22 Jahren bin ich in mein erstes ökotopisches Wohnprojekt eingezogen, und ich würde sagen, mit Baugruppen und gemeinschaftlichen Wohnmodellen mit all ihren Vor- und Nachteilen kenne ich mich mittlerweile ziemlich gut aus«, so Johanna. »Viele Fehler, die man zu Beginn macht, haben wir hier versucht zu vermeiden.« Soziale Homogenität sucht man vergeblich. Die Bewohnerinnen und Bewohner stammen aus mehreren Generationen, Einkommensschichten und kulturellen Backgrounds. Es wurde sogar eine Crowdfunding-Kampagne gemacht, um einer jungen Flüchtlingsfamilie aus Afghanistan eine 50 m² große Wohnung zur Verfügung zu stellen. Mehr als 40 000 € konnten auf diese Weise zusammengetragen werden.

All diese Wärme und Lebendigkeit dieses ungewöhnlichen Projekts scheint in der niederösterreichischen Frühlingsluft zu liegen, sobald man zwischen den vorgefertigten Holzhäusern durchmarschiert und hinter den großen, ungemähten Flockenblumen, Schafgarben und Kamillen in den Fenstern das soziale Durcheinander beobachtet. Die Initiative geht zurück auf Helmuth Schattovits (1939-2015), der bereits in den 90er Jahren in Wien das erste Wohnprojekt unter der Dachmarke B.R.O.T. errichtete. Hinter dem etwas eigenwillig kohlehydrathaltigen Akronym verbergen sich die Worte und Werte »Begegnen, Reden, Offensein, Teilen«.

Nach mehreren Wohnprojekten dieser Art innerhalb der Wiener Stadtgrenzen stieß Schattovits 2011 durch Zufall auf dieses Grundstück am Haitzawinkel, 20 km westlich von Wien, das von der Pfarre Pressbaum zur Bebauung im Baurecht angeboten wurde. B.R.O.T. griff zu und sicherte sich das Areal für 99 Jahre. Eine weitere Fügung sorgte dafür, dass Schattovits bei einer Straßenbahnfahrt auf Architekt Peter Nageler, Partner im Wiener Architekturbüro nonconform, stieß, und so nahm das Projekt seinen Lauf. Einreichplanung 2015, Spatenstich 2017, Fertigstellung 2018. Jetzt stehen wir also da, die Rotzlöffel und ich, die Spritzpistole auf den Journalisten gerichtet. »Wer bist du? Was machst du da?«

Aufgeteilt ist das ursprünglich 14 000 m² große Hanggrundstück, das von der höchsten bis zur tiefsten Stelle um rund 10 m abfällt, auf elf Parzellen mit insgesamt zehn Wohnhäusern und einem Gemeinschaftshaus im Zentrum. Außerdem gibt es einen Sportplatz und eine E-Ladestation im Süden sowie Spielplatz, Schwimmteich, Gewächshaus, Parkplatz und in den Hang eingegrabene Stauraumboxen im nördlichen Teil des Areals. Einer der Bewohner betreibt sogar eine Bienenfarm mit etlichen Stöcken. Aktuell wird ein Haus der Stille errichtet. Das Fundament steht schon.

»Partizipationsprojekte haben wir schon viele gemacht, aber in diesem Fall war der Prozess besonders reibungslos und unkompliziert«, sagt Johanna Steinhäusler, Projektleiterin bei nonconform. »Die Baugruppe zeichnete sich von Anfang an durch ein hohes Engagement aus – und durch eine gewisse Sturheit, weil sie auf manche Dinge auf keinen Fall verzichten wollte. Der starke gemeinschaftliche Zusammenhalt funktioniert bis heute.« Zu den unumstößlichen Entscheidungen der Gruppe zählen v. a. Bauweise und Haustechnik. Bis auf das Gemeinschaftshaus und die Treppenhauskerne, die in Stahlbeton errichtet wurden, handelt es sich beim gesamten Projekt um Holzleichtbau mit kreuzlagenverleimten Deckenplatten.

Die vorgefertigten Fassadenelemente sind geschoßhoch und bis zu 8 m lang und bestehen aus einer Fichtenkonstruktion mit vertikaler Lärchenlattung und innen liegender, eingeblasener Zellulosedämmung mit 30 cm Dicke. Innenbeplankung und nichttragende Wände sind ganz klassisch im Trockenleichtbau errichtet worden. Auffällig ist die Raumhöhe von 2,70 m in den Wohnräumen sowie die KLH-Decke mit belassener Sichtoberfläche in den Aufenthaltsräumen. Die meisten Bewohner haben eine unbehandelte Deckenuntersicht, einige wenige haben das Holz eingeölt oder lackiert. Lediglich in den Vorzimmern sowie in den Sanitärräumen wurde eine abgehängte Gipskartondecke eingezogen. In den Hohlräumen befindet sich die Installation für die kontrollierte Wohnraumlüftung.

»Ein großes Anliegen«, sagt Architektin Steinhäusler, »war uns die Positionierung der Fenster und Fenstertüren. Wo immer dies mit Rücksicht auf die Möblierung möglich war, haben wir die Fensteröffnungen ganz in die Ecke gerückt. Durch den flächenbündigen Anschluss an die angrenzende Innenwand ergibt sich auf der Oberfläche ein sehr schönes Licht- und Schattenspiel. Zudem sorgt das flach einfallende Streulicht durch die Reflexion für zusätzliche Helligkeit in den Innenräumen.« Sämtliche Fenster – auch jene in den OGs – sind französisch ausgeführt und verlaufen fast bis zum Boden. Die Absturzsicherung besteht aus verzinkten Stabgeländern. Sehr easy, sehr rough, sehr passend zum hier innewohnenden Geist.

Geheizt wird mit Biomasse. Neben dem Gemeinschaftshaus wurde eine kleine Hackschnitzelanlage errichtet, die mit Holzabfällen aus dem lokalen Maschinenring gespeist wird. Zudem wurden auf den Gebäuden 50 m² Sonnenkollektoren mit 4 000 l Pufferspeicher sowie sechs PV-Anlagen im Gesamtausmaß von 97 kW Peak-Nennleistung angebracht. Übers Jahr gerechnet können damit rund 75 % des Strombedarfs gedeckt werden. Kleiner Wermutstropfen: Während der Großteil des Wohnprojekts aussieht wie eine Mischung aus Bullerbü und Biene Majas Klatschmohnwiese mit einem Hauch Woodstock, dominiert auf der Technikzentrale mit ihren schräg aufgeklappten Kollektorflächen der Eindruck eines etwas aus den Fugen geratenen Sonnenkraftwerks. Der visuelle Schmerz ist verkraftbar.

Umso schöner die Tatsache, dass sich die Baugruppe vom Kärntner Holzproduzenten Weissenseer, der sich auf dem innovativen Holzbausektor mittlerweile einen über die Branche hinaus bekannten Namen gemacht hat, die Holz- und KLH-Reststücke hat anliefern lassen. Einige davon fristen nun ein Dasein als Klettergerüst oder Küchenarbeitsplatte im Gemeinschaftshaus. Neben der Werkstatttür lehnt ein unförmiges Holzstück mit etwa 1,50 m Länge. Mit Bleistift hat jemand die Absichtserklärung auf die Oberfläche geschrieben: »Reserviert Rutsche!!!«

»Wir wohnen hier jetzt seit über drei Jahren«, sagt Stefan Fittner, Kassier der Vereins B.R.O.T. Pressbaum. »Über eine eigens eingerichtete Signal-Gruppe stehen wir permanent in Kontakt. Wer auch immer etwas braucht, ob das nun Hilfe in der Werkstatt oder Unterstützung in der Food-Coop ist, schreibt einfach eine kurze Nachricht in die Gruppe.« Und Anita Scharl, die beruflich in der Umweltanwaltschaft tätig ist und den Verein eine Zeit lang als Pressesprecherin repräsentierte, freut sich v. a. über das gute Raumklima in den Wohnungen und über das insgesamt gute Preis-Leistungs-Verhältnis des Projekts. »Es gab viele Aufs und Abs mit der Kirche, mit den Kreditvereinbarungen, mit den Kostenangeboten bei den Baufirmen, aber letztendlich ist das Projekt verhältnismäßig gut über die Bühne gegangen. Es ist super, hier zu wohnen.«

Auf ihrer Terrasse wird gerade eine Pergola errichtet. Der Bruder, Zimmermann von Beruf, ist zur Stelle, die Mutter zupft das Unkraut aus den Gemüsebeeten, der 80-jährige Vater, der dem Autor dieses Artikels schnell noch einen Crash-Kurs im Sensenmähen gibt, kümmert sich um das viel zu hohe Gras auf der Böschung zwischen Wohnhaus und Sportplatz. »Es ist nicht immer alles so harmonisch wie heute«, sagt Anita. »Aber fast immer. Ich mein’, schau dich mal um! Ich persönlich hätte mir zwar ein klassisches Satteldach gewünscht, aber in diesem Punkt bin ich halt von der Baugruppe und den Architekten überstimmt worden. Abgesehen davon ist unser kleines Dorf hier einfach nur großartig.«

5. Juni 2021 Der Standard

Von Kokosnüssen und Schwammerln

Die in Ghana und New York lebende Architekturforscherin Mae-ling Lokko beschäftigt sich mit Abfallprodukten aus der Landwirtschaft. In ihren Projekten arbeitet sie mit Kokosfasern und Pilzsporen. Eine Anleitung zum Träumen.

Die machen Schaffelle aus Plastikflaschen. Die machen Lampen aus Seegras. Die machen Schüsseln aus Mais.“ So lautet die aktuelle Ikea-Werbekampagne, die seit einigen Wochen im österreichischen und deutschen Fernsehen ausgestrahlt wird. Am Ende schließlich, mit schwedischem Akzent: „Ideen sind unsere wertvollste Ressource.“

Allein das Experimentieren mit innovativen Materialien beschränkt sich nicht nur auf die Möbel- und Haushaltsindustrie. Architektinnen und Architekten beschäftigen sich schon seit geraumer Zeit mit der Entwicklung von Baustoffen aus nachwachsenden Rohstoffen wie etwa Palmenfasern, Myzelien und Hanf. Eine davon ist die New Yorker Architekturforscherin Mae-ling Lokko, die kommende Woche an der Universität für angewandte Kunst einen Vortrag halten wird.

Seit rund 15 Jahren erforscht die gebürtige Saudi-Araberin, die in Ghana und auf den Philippinen aufgewachsen ist, die Potenziale jener Abfallstoffe, die als Nebenprodukt der globalen Nahrungsmittelproduktion anfallen – des sogenannten Agrowaste. Weltweit fabrizieren wir, während wir unsere Schnitzel und Pommes frites heranzüchten, rund 350 Milliarden Tonnen Müll pro Jahr, Tendenz steigend.

Organische Müllberge

„Immer mehr Menschen brauchen immer mehr Nahrung“, sagt Lokko. „Daher sehe ich hier einen wachsenden Rohstoffmarkt, der zwar unglaubliches Potenzial hat, dessen Möglichkeiten wir heute aber nur marginal nutzen. Der überwiegende Teil der hier anfallenden Fasern und organischen Müllberge landet auf der Deponie oder wird verbrannt.“ An den Stadträndern der ghanaischen Hauptstadt Accra, erzählt die Forscherin, werden jede Nacht illegal Tonnen von Kokosfasern und Kokosnussschalen abgeladen und angezündet, auf diese Weise werden – anstatt im Kreislauf zu bleiben – Unmengen von CO2 in die Atmosphäre geschleudert.

Dummes Downcycling

„Klar kann man Kokosfasern verbrennen und damit Energie produzieren“, sagt die Forscherin. „Aber das ist nichts anderes als dummes Downcycling, mit dem der potenzielle Lebenszyklus dieses Werkstoffs drastisch verkürzt wird.“ Lokkos Antwort auf das Problem: In Zusammenarbeit mit dem Rensselaer Polytechnic Institute in Troy, Upstate New York, und dem von ihr gegründeten Forschungsunternehmen Willow Technologies in Ghana trennte sie die Spelzen vom Kokosfasermark, häckselte das Ganze zu feinen Fasern und verpresste die Gemengelage unter Einwirkung von Hitze und Druck – ganz nach den Fertigungsprinzipien von Sperrholz – schließlich zu dreidimensionalen Modulen, die als Raumteiler oder Schallschutzelemente eingesetzt werden können.

„Leider ist der Fertigungsprozess sehr aufwendig und energieintensiv und eher für die Produktion und den Verkauf in hochentwickelten Industrieländern geeignet, während der Rohstoff selbst im Global South in meist sehr armen Regionen anfällt“, resümiert Lokko. „Die geografischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Hürden sind kaum zu überwinden. Daher kann man dieses Projekt wohl als gescheitert betrachten.“ Im Rahmen der Vienna Biennale for Change 2021 sind die Platten zurzeit im Angewandte Innovation Lab (AIL) in der Otto-Wagner-Postsparkasse zu sehen.

Weitaus aussichtsreicher ist Lokkos aktuelle Vision, mit der sie keineswegs allein dasteht, sondern sich in eine ganze Riege von innovativen Schwammerlutopisten aus dem Kunst- und Designbereich einreiht: Sie entwickelt Geschirr, Möbelstücke und Bausteine aus Pilzsporen in der noch vegetativen Phase, aus sogenannten Myzelien. Mit diversen Fasern aus der Reis-, Mais-, Kokos- oder Getreideproduktion vermengt und in entsprechende Schalungen gepresst, können die Myzelien – die richtige Temperatur und Luftfeuchtigkeit vorausgesetzt – innerhalb von ein paar Tagen zu harten, dichten Formstücken heranwachsen, die anschließend nur noch getrocknet werden müssen.

Kein Sick-Building-Syndrome

In den letzten drei Jahren wurde das von ihr entwickelte Agrowaste-Biokomposit auf zahlreichen Festivals und Ausstellungen ausgestellt, das unter anderem mit dem Visible Award 2019 und dem Royal Academy Dorfman Award 2020 ausgezeichnet wurde. Unter dem Titel Agricologies schafften es die von ihr gepflanzten Tassen, Teller, Schüsseln, Schalen und Vasen, die im täglichen Umgang mit der gleichen Sorgfalt wie etwa unlackiertes, naturbelassenes Holz behandelt werden müssen, sogar ins Reich der Lifestylemagazine. Nun soll das bis jetzt gewonnene Know-how im Rahmen von Schulworkshops an Kinder und Jugendliche weitergegeben werden.

„Wir träumen heute davon, unsere Häuser in Zukunft im 3D-Drucker hochzuziehen“, sagt Mae-ling Lokko, die soeben einen Job als Professorin an der Yale University angenommen hat und dort ab 2022 unterrichten wird. „Aber wer weiß, vielleicht werden unsere Gebäude eines Tages von allein wachsen und sich verfestigen.“ Im Gegensatz zu vielen Produkten, an denen heute geforscht wird, kommt die fungale Myzelienarchitektur ganz ohne Weichmacher oder künstliche und mineralische Bindemittel aus. „Der nächste Schritt“, so Lokko, „sind Langzeitstudien, die etwaige Auswirkungen auf die Gesundheit der darin lebenden Menschen untersuchen. Aus heutiger Sicht aber gibt es keinerlei Anzeichen für ein Sick-Building-Syndrome.“

Noch ein langer Weg

Bis zum Einsatz im Baubereich sei es noch ein langer Weg. Es brauche noch jahrelange Arbeit, um die biologischen, chemischen und physikalischen Eigenschaften von Myzelien zu erforschen und zu optimieren. Doch realisierte Pilotprojekte wie etwa der 13 Meter hohe Hy Fi Tower aus reinen Myzelziegelsteinen, den der New Yorker Architekt David Benjamin vor drei Jahren im MoMA PS1 in Brooklyn in den Himmel hochgeschlichtet hat, lassen die Spekulation zu, dass diese Utopie in nicht allzu ferner Zukunft eintreten könnte.

Wenn einem auf der Architektur-Biennale in Venedig das Träumen schon vermiest und vermieft wurde, so darf man sich in Zeiten, in denen schwedische Möbelhäuser Bettwäsche aus Holz machen, zumindest auf der Vienna Biennale for Change ein wenig vom Idealismus verleiten lassen. Solche Köpfe braucht die Welt.

[ Mae-ling Lokko, Vortrag im Rahmen der Sliver Lectures an der Universität für angewandte Kunst: Donnerstag, 10. Juni, 19 Uhr ]

22. Mai 2021 Der Standard

Bauanleitung Weltuntergang

Heute, Samstag, wird die Architektur-Biennale in Venedig eröffnet. Das Motto des Kurators Hashim Sarkis lautet „How will we live together?“. Doch die Beantwortung dieser Frage ist so verstörend und dystopisch, dass es im Hirn wehtut.

Eine riesiges Trumm aus Edelstahl. Eine abstoßende, chirurgische Kälte. Alle paar Sekunden öffnen sich irgendwelche Laden, rollen hinaus wie in einem Leichenschauhaus, bleiben kurz stehen zur Betrachtung, werden mit einem blechernen Surren wieder eingezogen. Zwar liegen darauf keine toten Menschen, immerhin aber jede Menge ausgestopfter oder in Formaldehyd eingelegter Tiere: Wildschweine, Schwarzziegen, Bären, Reiher und Taranteln. Es sind jene Spezies, die in Israel in den letzten Jahrzehnten aus ihrem natürlichen Habitat verdrängt, ja manchmal sogar nahezu ausgerottet wurden.

„Die politische Situation in Israel ist dieser Tage besonders angespannt“, sagt Rachel Gottesmann. „Doch in diesem Land fügen nicht nur wir Menschen uns gegenseitig Schaden zu, unser Verhalten hat auch immense Auswirkungen auf Fauna und Flora.“ Eine der größten ökologischen Katastrophen mit weitreichenden Folgen für die Biodiversität Israels war die Trockenlegung des Hule-Sees und der umliegenden Sümpfe in den 1950er-Jahren, um damit Wasser für die Landwirtschaft zu gewinnen.

„Außerdem haben wir den Kampf zwischen den weißen und den schwarzen Ziegen erforscht“, erzählt die Kuratorin des israelischen Pavillons. „Die schwarzen, von jeher einheimischen Ziegen waren für die Palästinenser von Anbeginn an eine wichtige Quelle für Milch und Fleisch. Doch als die europäischen Juden nach Israel kamen, waren sie entsetzt, ein so karges, felsiges Land vorzufinden – und gaben kurzerhand den schwarzen Ziegen die Schuld daran.“

Schwarz und weiß

1934 wurde die Haltung von schwarzen Ziegen – ohne wissenschaftliche Fundierung und Verifizierung wohlgemerkt – stark reguliert, 1950 wurde sogar eine eigene Tötungsverordnung verabschiedet, die viele arabische Bauern in den existenziellen Ruin trieb. Stattdessen ließen die neu angesiedelten Juden weiße Ziegen aus Europa importieren. Erst 2018, nach knapp 70 Jahren, wurde das nicht nur absurde, sondern auch sozial und ökologisch desaströse Gesetz wieder rückgängig gemacht. „In diesem Land ist alles schwarz und weiß, voller Angst und voller Hass“, sagt Gottesmann. „Daher stellt sich unweigerlich die Frage: Werden wird es jemals schaffen, friedlich miteinander auszukommen?“

Der politisch zutiefst selbstkritische israelische Pavillon unter dem Titel „Land Milk Honey“ zählt zu den schrägsten und zugleich besten und einprägsamsten Beiträgen der Architektur-Biennale 2021. Zwar hatte der diesjährige Biennale-Kurator Hashim Sarkis, seines Zeichens Dekan der School of Architecture and Planning am Massachusetts Institute of Technology (MIT), mit der Frage „How will we live together?“ ein wirklich eindeutiges, unmissverständliches Motto vorgegeben, doch mit deren Beantwortung haben sich die Architekturschaffenden aller Frauen und Herren Länder sichtlich schwergetan.

Einige Kunst- und Architekturbeiträge fliehen statt in die Zukunft schnurstracks in die Vergangenheit und reproduzieren verklärte und romantische Bilder von Häuslichkeit, Gemütlichkeit und harmonischem Miteinander in Form von Großfamilien, Co-Housing-Modellen und ästhetisch durchorchestrierten Nachbarschaften. Andere Länder wiederum machen das Gegenteil, widmen sich der zunehmenden Digitalisierung und Virtualisierung unserer Umwelt und verzetteln sich – wie etwa Österreich, Uruguay und die Niederlande – in Theorien und Philosophien mit aberhunderten Film- und Soundinstallationen, bis einem die Augen tränen und die Ohren glühen. Das virtuelle Geschwurbel geht so weit, dass Kanada und Deutschland auf Materialität und bauliche Manifestation sogar komplett verzichten und ihre Pavillons mit QR-Codes tapezieren. Das stellt jede physische Präsenz in der Lagunenstadt infrage. Wirklich mühsam.

Echt jetzt?

Doch die größte Kritik muss man an jenen Kommissären und Kuratorinnen üben, die der aktuellen Covid-Pandemie verfallen sind und ihre Kernkompetenz hinter sich gelassen haben. Statt Wohnkonzepte, Zusammenlebensmodelle und innovative Architekturtypologien für morgen zu liefern, mutieren sie zu großen Kindern und überbieten sich in der Reproduktion von Aliens, Avataren, prothetischen Künstlichkeiten, in Schläuchen und Bubbles eingeschweißten Naturen und so dystopischen Bildern, dass man bisweilen das Gefühl hat, in einem Sci-Fi-Museum zu Matrix, Brazil und HR Giger zu stehen. How will we live together? Echt jetzt? Für Menschen, deren Job es ist, unsere bauliche Zukunft zu gestalten, ist diese Weltuntergangsmodenschau ein mehr als jämmerliches Armutszeugnis.

Umso erfreulicher, dass in dieser Biennale der kapitalen Themenverfehlungen einige Preziosen umso besser zur Geltung kommen. Irland beispielsweise zeigt sich auf dieser Biennale von einer in der Öffentlichkeit wenig bekannten Seite. Mit 63 Serverfarmen und Datenzentren allein in Dublin zählt die Insel zwischen Europa und Nordamerika zu den Data-Hotspots dieser Welt.

„Das sind mehr Einrichtungen als in jeder anderen Stadt in Europa“, sagen die beiden Kuratoren David Capener und Fiona McDermott. Viele weitere sind bereits in Bau. 2027, so die Prognose, werden die Serverfarmen ein Drittel der gesamten Energie Irlands verbrauchen.

„Das sind gigantische Mengen. Bis heute haben wir dafür kein Klimakonzept. Wenn wir von Klimaschutz und der Reduktion von CO₂ sprechen, dann müssen wir in Zukunft auch über Facebook, Twitter und Tiktok sprechen.“

Ökologisch desaströs

Eine superkonkrete Lösung für ein supergroßes CO₂-Problem liefern – Überraschung – ausgerechnet die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Der in Dubai stationierte Architekt und Kurator Wael Al Awar hat mit der University of Tokyo, der New York University in Abu Dhabi und der American University of Sharjah in den letzten drei Jahren einen neuen Beton entwickelt, bei dem statt Portlandzement zum Binden eine spezielle Salzverbindung, nämlich Magnesiumoxid (MgO), verwendet wird.

„Die Emirate sind der drittgrößte Entsalzer der Erde“, sagt Al Awar. „Bis heute wird die hochkonzentrierte Salzlösung, die am Ende des Prozesses übrig bleibt, ins Meer zurückgeschüttet. An einigen Stellen im Persischen Golf liegt die Salzkonzentration mittlerweile bei zehn Projekt. Das ist ökologisch desaströs. Stattdessen kommt das Abfallprodukt nun auf konstruktive Weise zum Einsatz.“ MgO bindet im Aushärtungsprozess nicht nur Kohlendioxid, sondern ersetzt zugleich klassischen Portlandzement, der wiederum zu den größten CO₂-Emittenten unserer denaturierten Zivilisation zählt.

„Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen“, so Al Awar. „Aber ich bin optimistisch, wir sind dran.“ In Tests weist der MgO-Beton eine ähnliche Druckfestigkeit auf wie klassischer Beton. Wenn alles gutgeht, könnte damit ein Drittel der Bautätigkeit in den VAE abgefedert werden, so der Kurator. Zukunftsmusik? Ja. Utopisch? Ja. How will we live together? Dafür aber liefert der Beitrag einen der wenigen konstruktiven Lösungsansätze dieser Biennale.

11. Mai 2021 deutsche bauzeitung

Wahlkampf mit urbanem Benefit

Außenraumgestaltung »Schwimmende Gärten« an der Kaiserbadschleuse in Wien (A)

Im Rekordtempo wurde an der Kaiserbadschleuse des ­Donaukanals der öffentliche Freiraum durch die »Schwimmenden Gärten« erweitert. Das Projekt ist nicht nur Resultat eines etwas provinziell wirkenden Wahlkampfs, sondern glücklicherweise auch einer strengen und zugleich überaus erfrischenden Handschrift der Wiener ­Landschaftsarchitektin Carla Lo. Der urbane Benefit ist enorm.

Ein sonniger Freitag Ende März. Der erste heiße Nachmittag dieses Jahres. Im gefühlt zehnten Corona-Lockdown wird die Kaiserbadschleuse, die bis vor Kurzem ungenutzte Betoninsel im Wiener Donaukanal, von Dutzenden ­Menschen belagert. Ohne T-Shirt, ohne Schuhe und ohne jede Hast, dafür aber mit dunklen Sonnenbrillen, in denen sich der wolkenblaue Frühlingshimmel spiegelt.

Carla Lo ist eine von ihnen. Die 44-jährige Landschaftsarchitektin, weites ­Leinenhemd, zerrissene Patchwork-Jeans, liegt inkognito inmitten der sich sonnenden Menge und freut sich über den sozialen Erfolg ihrer »Schwimmenden Gärten«. Nie hätte sie gedacht, dass ihr Büro dieses Projekt eines ­Tages wirklich realisieren würde, und meint: »Nun sitzen wir da, und ich bin froh darüber, dass dieser städtische Raum von den Wienerinnen und Wienern so gut angenommen wird.«

Angefangen hat alles im Jahr 2016. Kurz vor der Wiener Gemeinderatswahl wünschte sich die damalige Umweltstadträtin Ulli Sima als »Wahlzuckerl« ein paar coole Renderings, die auf stadtromantische Weise darstellen, wie man die Kaiserbadschleuse aus ihrem mehr als 100-jährigen Dornröschenschlaf reißen und endlich einer urbanen Nutzung zuführen könnte. Errichtet wurde das massive Bollwerk mit 125 m Länge und 10 m Breite ursprünglich anstelle des ehemaligen Kaiserbads in den Jahren 1904 bis1908 für die Schiffbarmachung und Regulierung des Donaukanals. In Betrieb genommen wurde die Schleuse, die sich gegenüber von Otto Wagners (1841-1918) berühmtem Schützenhaus befindet, allerdings nie.

»Also haben wir einen Entwurf gemacht und uns überlegt, wie wir die Insel mit Plattformen zugänglich machen und mit Pflanzentrögen und großen Holzdecks zum Sitzen und Liegen aufwerten würden«, erinnert sich Carla Lo. Mit einer Handvoll attraktiv gerenderter Visionen ging die Wiener SPÖ dann tatsächlich ins Rennen. Nach dem Wahlsonntag war dann allerdings jahrelang Funkstille. Das Projekt wurde auf Eis gelegt, bis wenige Monate vor der darauffolgenden Gemeinderatswahl. Aus den Medien erfuhr die Landschaftsarchitektin, dass die Schwimmenden Gärten nun tatsächlich umgesetzt werden sollten. Vom verbindlichen Anruf der Stadträtin bis zur geplanten Fertigstellung blieben wiederum genau sechs Monate. Ein straffer Zeitplan. Damit wurde das fiktive Wahlzuckerl von 2016 zu einem konkreten Wahlversprechen für 2020 aufgewertet.

Am Holzdeck neben uns liegt eine Gruppe Jugendlicher. Ein paar Dosen Bier werden gerade »aufgepoppt«. Es wird gelacht, getrunken, foto­grafiert. In den Mülleimern nebenan manifestiert sich der hohe Stellenwert des Projekts als buchstäbliche Zufluchtsinsel vor dem Virus und den damit verbundenen ­Sicherheitsmaßnahmen: Prosecco-Flaschen und Pizzakartons. »Es funk­tioniert«, sagt die aus Heidelberg stammende Landschaftsarchitektin, die in der Regel v. a. öffentliche und halböffentliche Freiräume im geförderten ­Wohnungsbau plant. »Mehr kann man sich nicht wünschen, oder?«

Kräftig dimensioniert

Im Zuge der Neugestaltung wurde die denkmalgeschützte Schleuseninsel über zwei breite Brückenbauwerke mit massiven T-Trägern aus Stahlbeton an den Uferweg des Donaukanals angebunden. Die Tragwerksplanung des ­Wiener Ingenieurbüros Gmeiner Haferl hat es mit der statischen Sicherheit dabei sehr genau genommen und orientiert sich weniger an sommerlicher Leichtigkeit als leider vielmehr an den brutalistischen Dimensionen talüberspannender Autobahnbrücken. Gut, dass sich die Blicke der Flaneure nur ­selten unterhalb des Wegeniveaus verirren.

Viel ansprechender ist da schon das urbane Leben darüber. Auf beiden Verbindungsplattformen eröffnet sich eine Gehlandschaft aus Beton mit Besenstrich-Oberfläche und daran angrenzenden Holzdecks, die sich mit eckig ­eingefassten Böschungen zu einer polygonalen Sitz- und Liegelandschaft auf zwei Ebenen hochentwickelt. Die Neigungen mit mal 45°, mal 60° sind ergonomisch gut gewählt, die Sitzhöhen könnten kaum komfortabler sein.

Mit 55 mm Dicke weisen die Eichenbohlen, die auf einer Unterkonstruktion aus Holz und Stahl montiert sind, einen im Zeitalter steigenden ökonomischen Drucks ungewöhnlich hohen Materialeinsatz auf. Dies ist der Lang­lebigkeit geschuldet: Bei Vandalismus durch Graffiti und motorische Beschädigungen, so der Plan, lässt sich das Holzpodest diverse Male abschleifen und sogar -hobeln.

Auf Kopfhöhe der Sitzenden, Liegenden und Lümmelnden entspinnt sich ein kleiner grüner Dschungel mit heterogener Bepflanzung. 15 verschiedene Pflanzenarten – darunter Gräser, Kräuter und Blumen – werden mit den nun ins Land ziehenden Sommermonaten dank automatischer Bewässerung stattliche Höhen erreichen und prächtige Farben entfalten. Dazwischen tauchen immer wieder mehrstämmige Bäume auf: Wildäpfel, Felsenbirnen und zart­rosafarbene Zierkirschen.

Grüner als entworfen

Carla Lo wirkt glücklich. Doch dann verändert sich die Laune ein wenig. In ihrem mitgebrachten Aktenordner finden sich Pläne, die dokumentieren, wie alles hätte aussehen sollen, bevor es so wurde, wie es heute ist. »Meine Vision war, dass wir die Schleuseninsel revitalisieren, sie aber in ihrer archaischen, nutzungsoffenen Erscheinung erhalten«, sagt Lo. Geplant war, die Kaianlage lediglich mit ein paar Ulmen zu bepflanzen und mit schlichten Stahlplatten, die die Kontur der historischen Insel säumen, zu belegen. Die restliche Fläche zwischen den riesigen »Vorlegeplatten« sollte ungeordnet gepflastert werden.

Doch die Wiener Umweltstadträtin wollte es grüner. Mehr Bäume, mehr Grasbeete, mehr bewachsene Pflanzentröge an den Kaimauern. Ein paar ­Bänke und punktuelle Sitzelemente mussten auch noch her. Und gusseiserne Einfassungen der grünen Grasrabatte, wie sie vom Stadtgartenamt klassischerweise in ganz Wien eingesetzt werden. Und selbstredend Mülleimer sowie gepflasterte Segmentbögen, um noch ein bisschen mehr italienischen Romantizismus hineinzubringen. Und am Ende ist alles so vollgestellt und vollgegrünt und mit notwendigen Verkehrswegen vor­definiert, dass kaum noch Platz bleibt, um in den warmen Sommermonaten irgendwo eine Picknick-Decke auszubreiten.

»Es hört sich eigenartig an, dass ausgerechnet ich als Landschaftsarchitektin so viele Monate gegen Grün gekämpft habe«, erklärt Carla Lo. »Aber tatsächlich ist die zur Verfügung stehende Sitz- und Liegefläche für die Menschen auf ein Minimum geschrumpft. Die alte Schleuseninsel ist nutzungstechnisch bis zum letzten Quadratmeter durchgeplant und durchmöbliert. Innovative Freiraumplanung sieht für mich anders aus.«

Absturzgesichert

Während der gesamte Donaukanal an seinen beiden Uferkanten auf vielen ­Kilometern Länge ohne Geländer auskommt, mussten die Schwimmenden Gärten rundherum auch noch eingezäunt werden. Der Grund – und damit erreicht der politische Zynismus seinen Höhepunkt: Aufgrund der vielen ­definierten Sitzelemente sei die Insel keine nutzungsoffene Verkehrsfläche mehr, sondern ein möblierter Stadtplatz, für den man nun entsprechende ­Absturzsicherungen vorsehen müsse. Glücklicherweise fand sich mit den schlanken Holmen und dem kaum sichtbaren Edelstahl-Netz eine sensible, ortsverträgliche Lösung.

Die Schwimmenden Gärten (Baukosten 3,5 Mio. Euro) sind ein durch und durch politisches Projekt. Sie zeigen auf, wie die Gestaltung öffentlichen Freiraums in dieser Stadt funktioniert. Für die meisten Menschen jedoch sind ­diese Anekdötchen und Provinzpossen unsichtbar und irrelevant. Übrig bleibt ein Projekt, das trotz aller Querelen und trotz des immensen Zeitdrucks zu den gelungensten und sym­pathischsten Freiraum-Oasen Wiens zählt. Zu verdanken ist dies wohl der krisenerprobten Handschrift einer Landschaftsarchitektin, die gelernt hat, selbst im ­geförderten Wohnbau unter enormem Kostendruck überaus ­passable Freiraumkonzepte zu realisieren.

»Ich glaube, das war die stressigste und zugleich schönste Baustelle meines Lebens«, sagt Carla Lo. „Die Stimmung vor Ort war ausgelassen, und die ­Brückenbauer, die üblicherweise Autobahnbrücken an irgendwelchen schwer erreichbaren Unorten errichten, haben sich gefreut, dass sich ihr Arbeitsplatz erstmals inmitten der Wiener Innenstadt befindet.« Die Freude am Prozess überträgt sich auf das Resultat. Die Sonne wird immer wärmer. Die Menschen werden mehr. Die Selfies nehmen zu.

10. April 2021 mit Maik Novotny
Der Standard

Ranken oder Ränkespiele? Pro Kontra

Für die einen sind begrünte Fassaden ein wunderbares, innovatives Bauelement im Großstadtdschungel, für die anderen ist der Saum an der Wand nicht nur Chlorophyllkosmetik, sondern auch Architekturhölle. Auch wir sind uns nicht wirklich einig.

Wojciech Czaja: Pro

Mit dem Glauben an das Automobil und neuen Entwicklungen in der Beton-, Glas-, Stahlindustrie hat die späte Moderne unsere Städte komplett verändert. Und jetzt haben wir den Salat. Oder auch nicht, denn genau dieser ist aus den Betonwüsten zum überwiegenden Teil völlig verschwunden. Die Folgen davon sind fatal: Überhitzung der Städte, katastrophale Luftqualität und in vielen grünlosen Vierteln noch dazu kalorische Anti-Oasen unter dem fast schon euphemistischen Titel Urban-Heat-Islands. Die einzig konsequente Möglichkeit, um aus diesem betonierten Schlamassel wieder rauszukommen, ist die offensive, ja fast schon aggressive Begrünung unserer Städte. Die einen machen das mit Parks, Wiesen, Blumenbeeten, Gemüserabatten und Urban-Gardening-Flächen, die anderen greifen dazu auf die etwas dichtere Variante mit Büschen, Stauden, Sträuchern und Bäumen aller Art zurück. Wenn es sein muss, nicht nur der horizontalen Fläche.

Einer der Meister der vertikalen Begrünung ist der Pariser Botanikkünstler Patrick Blanc, der unter anderen auch Jean Nouvels preisgekröntes Hochhaus One Central Park in Sydney begrünte (siehe Foto) . Auch andere vertikale Flächen wie Feuermauern, Innenhöfe, Altbaufassaden, Tunneleinfahrten und meterhohe Mauern sind vor seinem grünen Daumen nicht sicher – ob das nun Madrid, Miami oder Kuala Lumpur ist. Und dann gibt es ja noch den vertikalen Waldmeister Stefano Boeri mit seinen millionenfach geinstagramten Türmen in Mailand.

Ja klar, vieles davon ist Fassadenkosmetik und Behübschung von eigentlich naturkatastrophalen Problemen. Außerdem braucht man Metallkonstruktionen, Bewässerungsanlagen und manchmal auch allerlei sensorische Hard- und Software. Doch der mikroklimatische Effekt infolge von Verschattung, Verdunstungskälte, Feinstaubabsorption und nicht zuletzt CO2 -Speicherung ist enorm. Studien haben ergeben, rechnet die niederländische Stadtplanerin Helga Fassbinder vor, dass man mit zehn Prozent mehr Grün die sommerlichen Höchsttemperaturen in der Stadt um bis zu drei Grad Celsius senken kann. Mit der Wiener Klimakarte, die die ehemalige Planungsstadträtin Birgit Hebein im September letzten Jahres vorgestellt hat, gibt es nun auch hierzustadt eine echt heiße Planungs- und Nichtverbauungsgrundlage.

Ganz ehrlich? Viele Fassadenbegrünungen zwischen Sydney, Biotope-City und MA 48 am Margaretengürtel sind klimatischer und ökologischer Schmonzes. Muss das wirklich sein? Ja, es muss! Auf rationaler und wissenschaftlicher Ebene wissen wir schon viel, aber damit erreicht man weder Otto Normalverbraucher und Monika Mustermann noch irgendwelche ökonomisch getriebenen Investorenherzen. Bis der Baustoff Grün in der Stadtplanung und im Städtebau nicht wieder absolute Selbstverständlichkeit wird, ist jedes grüne Mittel recht. Her mit den grünen Fassaden!

Maik Novotny: Kontra

Über nichts reden die Wiener lieber als über Fassaden jeder Art. Die Stadt ist eine Bühne, jedes Haus eine Kulisse, alles ist schöner Schein, alles ist Oberfläche. Darüber lässt sich auch viel schöner streiten als über banale Fakten und über die Mechanismen hinter den Kulissen. Kein Wunder also, dass auch der Kampf gegen die Überhitzung und für die klimagerechte Stadt recht schnell zu einem zweidimensionalen Fassadenthema wurde.

Um es gleich klarzustellen: Der Kampf gegen die Klimakatastrophe ist der wichtigste, den es gibt, und hier ist jedes Mittel recht. Wenn es der Kühlung dient, dass es hier und da vertikal emporrankt: Nur her damit! Es wird schon nicht, wie von vielen befürchtet, der ganze kulturelle Reichtum der Architektur hinter Efeu und Knöterich verschwinden.

Aber die Fassadenbegrünung kaschiert mehr als erwärmtes Gemäuer, sie ist eine Ablenkungsstrategie. Sie verlagert das Schlachtfeld der Klimakatastrophe vom Öffentlichen ins Private, von der Ebene in die Senkrechte. Fragt man Landschaftsplaner nach den besten Mitteln gegen urbane Hitzeinseln, bekommt man fast immer dieselbe Antwort: Nichts ist besser als der richtige Baum am richtigen Ort. Bäume sind nahezu perfekt. Sie sind langlebig, kümmern sich weitgehend um sich selbst, spenden im Sommer Schatten und im Winter nicht. Es gäbe noch reichlich Platz für mehr Bäume, doch an diesem Platz stehen heute tonnenschwere Klumpen aus Metall dumm herum. Weil man sich – von homöopathischen Pflanzprojekterln und kurzen „Kühlen Meilen“ abgesehen – nicht traut, hier jemandem etwas wegzunehmen, weicht man aus. Sollen sich die Hausbesitzer ums Klima kümmern! Während Paris, Amsterdam und New York die Autos radikal verbannen, bleibt in Wien alles beim Alten, im scheinheilig schönen Schein des „Genug gestritten!“.

Doch nicht nur in Wien werden Ränkespiele mit dem Geranke getrieben. Seit Architekt Stefano Boeri 2014 in Mailand die baumbestandenen Doppeltürme seines Bosco Verticale einpflanzte, übertrumpfen sich Investoren weltweit in der Begrünung ihrer Wolkenkratzer. Wurscht, wenn für den Beton ganze Sandstrände über Nacht verschwinden: Was von außen so schön grün aussieht, kann nur ökologisch sein! Ist es nur eben fast nie.

Von Fallwinden gerüttelt und von Böen zerzaust, kämpft das zum Symbol überhöhte bemitleidenswerte Gestrüpp im 29. Stockwerk einen aussichtslosen Kampf, dabei möchte es doch so gerne einfach nur in Ruhe zwischen seinen Artgenossen am Boden stehen. Zwar macht die Bewässerungstechnik große Fortschritte, und es verdorrt nicht mehr alles sofort, wenn der Hausbesorger im Sommerurlaub ist, doch der Aufwand steht ab einer gewissen Höhe in keinem Verhältnis zum energetischen Ergebnis. Also: Vorsicht bei den grünen Tapeten und Fassaden: Oft steckt nicht mehr dahinter als Chlorophyllkosmetik.

8. April 2021 Der Standard

Ein Prototyp für die Protomoderne

Die Pläne für den Umbau des ehemaligen Wiener Otto-Wagner-Spitals sind enthüllt. Die Central European University wird in die denkmalgeschützten Pavillons einziehen

Das Konzept für Pavillon 4 auf dem Wiener Otto-Wagner-Areal in den Steinhofgründen: Die Pläne dafür stammen überraschenderweise vom global agierenden US-Architektenbüro Kohn Pedersen Fox Associates.
Das Konzept für Pavillon 4 auf dem Wiener Otto-Wagner-Areal in den Steinhofgründen: Die Pläne dafür stammen überraschenderweise vom global agierenden US-Architektenbüro Kohn Pedersen Fox Associates.

Schwarz-weiß gekachelte Böden, holzvertäfelte Wände in den Besprechungszimmern und Sitzbänke aus Bugholz ganz im Stile der Wiener Werkstätte. Im Freien geht das Lernen hurtig weiter: Vor einem der denkmalgeschützten Pavillons, im Halbschatten der ausgewachsenen Bäume, sitzen glückliche Studierende mit aufgeklapptem Laptop und unterhalten sich über die Zukunft zentraleuropäischer Bildungspolitik.

Gestern, Mittwoch, stellte die Central European University (CEU) ihre Pläne für die Sanierung und Revitalisierung des Otto-Wagner-Areals – besser bekannt unter dem Namen Steinhofgründe – der Öffentlichkeit vor. Geplant ist, zehn historische, denkmalgeschützte Pavillons, die früher Teil des weitläufigen Otto-Wagner-Spitals waren, für die Zwecke der CEU umzubauen. Das Jugendstiltheater, wahrscheinlich eines der schönsten und außergewöhnlichsten Häuser auf dem Areal, wird in Zukunft als Auditorium und Konferenzzentrum dienen.

Die größte Überraschung im bisherigen Prozedere ist die Auswahl der Architekten. Aus einem kleinen Wettbewerb unter insgesamt sieben internationalen Büros ging das weltweit agierende Büro Kohn Pedersen Fox Associates (KPF) mit 650 Mitarbeitern und Hauptsitz in New York als Sieger hervor. Zwar findet sich im Portfolio von KPF so manche historische Sanierung, und auch im Bildungsbereich in London, Oxford und Ann Arbor hat sich das Büro mittlerweile eine gute Expertise angeeignet, doch wirklich bekannt ist KPF für ein ganz anderes Kaliber – für die unzähligen Headquarters von Samsung, Amazon und Unilever sowie für seine 400 bis 600 Meter hohen Supertürme in New York, Seoul, Peking, Hongkong, Guangzhou und Schanghai.

„Die CEU hat bei der Gestaltung des neuen Campus nach einem innovativen Team gesucht, das die einzigartige architektonische Vision Otto Wagners erhalten, aber auch Antworten auf die Anforderungen einer Universität der Zukunft geben kann“, sagt Michael Ignatieff, Rektor der CEU. „Der neue Campus muss flexibel nutzbar sein, um auf die Bedürfnisse verschiedenster Disziplinen und Formen des Zusammenarbeitens und Lernens eingehen zu können, die die Zeit nach der Pandemie sicherlich prägen werden.“

Und James von Klemperer, Chefdesigner von KPF, zitiert seine österreichischen Vorfahren herbei und will Geschichte mit zeitgenössischer Architektur verbinden. Die Familie Kuffner war im Wiener Westen kulturell und wirtschaftlich umtriebig. Die Kuffner-Sternwarte zeugt davon. „Mit Gebäuden zu arbeiten, die von Otto Wagner, dem Meister der Protomoderne, und seinen Zeitgenossen entworfen wurden, ist eine immense Herausforderung, die viel Einfühlungsvermögen erfordert. Durch meinen familiären Hintergrund fühle ich mich motiviert, diese Verbindung herzustellen.“

Die Indoor- und Outdoor-Visualisierungen, die ein bisschen künstlich amerikanisch und Computerspiel-animiert wirken, machen zwar neugierig, dennoch ist die Wahl in Bezug auf KPF Associates aus baukultureller Sicht nur schwer nachvollziehbar. Die CEU selbst, die heute noch in einem Interimsquartier in der Quellenstraße in Wien-Favoriten untergebracht ist, begründet den Zuschlag für das 35.000-Quadratmeter-Projekt mit einem mehrstufigen Auswahlprozess, in den sogar Studierende und Fakultätsmitglieder eingebunden waren.

„Kein Grund zur Sorge“

Michaela Schüchner (SP), Bezirksvorsteherin von Penzing, und Selma Arapović, Sprecherin für Stadtplanung und Stadterneuerung bei den Neos, die sich schon seit Jahren für den Erhalt des Otto-Wagner-Areals einsetzt, zeigen sich mit dem Projektfortschritt zufrieden. Mit der CEU werde das ehemalige Krankenhaus revitalisiert und einer zeitgemäßen Nutzung zugeführt, sagen beide: „Wir haben auf einen Flächenwidmungsplan gepocht, der im Juni 2020 im Gemeinderat beschlossen wurde und ganz genau festsetzt, welche Änderungen erlaubt sind und welche nicht.“ Man werde das Projekt im Auge behalten, sehe allerdings keinen Grund zur Sorge.

Die CEU beziffert die Baukosten mit rund 180 Millionen Euro. Eigentümerin des künftigen Uni-Kerngebiets ist und bleibt die Wiener Wirtschaftsagentur, die der CEU im Juni letzten Jahres ein 100-jähriges Baurecht mit Verlängerungsoption eingeräumt hat. Im Jänner 2023 sollen die ersten Bagger anrollen. Geplante Fertigstellung: 2025.

20. Februar 2021 Der Standard

Eine Stadt schickt sich in die Wüste

Seit ein paar Wochen wirbt das Königreich Saudi-Arabien im deutschen Privatfernsehen recht aggressiv für seine utopische Stadt „Neom The Line“. Was ist dran an dem Versprechen? Ist es ein theokratischer Tagtraum? Oder gar eine Sackgasse?

Ein langsam sich ausdehnender Balken mit Windrädern, Palmenhainen, Onyx-Gazellen, bunten Korallenfischen und atemberaubenden Wadi-Steinformationen. Dazu eine rauchige, seriöse Stimme, die von Mensch, Natur und Revolution spricht. „It’s time. It’s time to draw the line. Neom.“

Doch was steckt hinter der visuell anregenden Werbung, die seit einigen Wochen in sämtlichen Foren und TV-Kanälen – darunter auch im deutschen Privatfernsehen – mit scheinbar unpackbarem Werbeetat in den besten Hauptabendstunden ausgestrahlt wird? Die Orient-Expedition eines Reiseveranstalters? Ein neues Online-Strategiespiel à la Sim City oder Forge of Empires , bei dem es gilt, eine futuristische Stadt zu errichten? Oder vielleicht ein Science-Fiction-Film wie dereinst Michael Bays Die Insel (2005) mit Scarlett Johansson und Ewan McGregor in den Hauptrollen?

Von Zukunft ist in der Tat die Rede, und zwar von jener, wie sie sich das Königreich Saudi-Arabien ausmalt. Im Nordwesten des Landes, Provinz Tabuk, will Seine Hoheit Mohammed bin Salman, Kronprinz von Saudi-Arabien und praktischerweise zugleich Vorstandspräsident der mit dem Bau befassten Neom Company, eine 170 Kilometer lange Idealstadt errichten, die sich vom Golf von Akaba über das 2500 Meter hohe Hedschas-Gebirge bis zu den im Binnenland vorzufindenden Wadis erstreckt. Der Name des Megaprojekts: „Neom The Line“. Im Jänner war Baubeginn.

„Wir wollen das Konzept einer konventionellen Stadt in das einer futuristischen Stadtvision verwandeln“, sagt bin Salman bei einem seiner vielen Konferenzauftritte. „Neom The Line besteht zu 95 Prozent aus Natur, eine Stadt ohne Autos, ohne Straßen, ohne CO2 -Emissionen, eine Stadt für eine Million Einwohner, die hier mit Hochgeschwindigkeitszügen, künstlicher Intelligenz und nachhaltiger Energiegewinnung aus Windkraft, Sonnenenergie und Wasserstoff-Kraftwerken ein Zuhause finden sollen.“

Wie eine Perlenkette

Neom The Line – der Name ist ein Kompositum aus dem lateinischen „neu“ und dem Initial von „mustaqbal“ (Zukunft) – ist ein einziger langer Strich, der in einem hochmodernen Hafen-Hub am Roten Meer seinen Anfang nimmt, ungeachtet von Berg und Tal schnurstracks durch die saudi-arabische Landschaft durchgaloppiert, um schließlich in einem neu zu errichtenden internationalen Flughafen abrupt zu enden. Angestrebt wird, so heißt es in den offiziellen Presseaussendungen, eine Mischung aus Dubai, Singapur und Silicon Valley.

Auf einer Breite von rund zwei Kilometern sollen an den wichtigsten neuralgischen Punkten Subzentren mit Wohnen, Büros, Schulen, Kindergärten, Geschäften, Apotheken und Freizeiteinrichtungen entstehen, die nach dem Konzept einer Fünf-Minuten-Stadt zu Fuß erreicht werden können. Die gesamte Infrastruktur wie Müllablagerung, Energie und Lieferlogistik liegt unterirdisch. Verbunden werden die wie Perlen an einer Perlenkette aufgefädelten Subzentren über eine High-Speed-Zugverbindung. Angestrebte Fahrzeit von Ost nach West: 20 Minuten. Das entspricht zwar einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 510 km/h, aber das ist schon okay.

So weit die wunderbaren Eckpunkte. Die Zukunft darf kommen. Was die Entwickler allerdings verschweigen: Für den Bau der neuen Linienstadt müssen laut The Guardian rund 20.000 Beduinen, die hier leben, vertrieben werden. Abdul Rahim al-Huwaiti, Mitglied des Howaitat-Stammes, machte in einem Video darauf aufmerksam, dass die saudischen Sicherheitskräfte ihn und seine Familie mit Gewalt verjagen wollen, und wurde kurz darauf ermordet aufgefunden. Eine Kugel im Kopf. Mit dem Attentat im April letzten Jahres legten Architekt Norman Foster und Daniel L. Doctoroff, CEO von Google Sidewalk Labs, ihre Funktion im wissenschaftlichen Neom-Beirat nieder.

Doch die künstliche Traumstadt, mit der die konservative und menschenrechtlich rückständige Monarchie (Platz 159 von 167 im globalen Demokratie-Ranking des Economist , Platz 170 von 180 im Pressefreiheit-Ranking von Reporter ohne Grenzen) ihr internationales Image aufpolieren und sich für die Zeit nach der Ölschwemme wappnen will, wirft nicht nur einen politischen Schlagschatten auf das Gesamtprojekt. Auch architektonisch, stadtplanerisch und in Hinsicht auf Nachhaltigkeit tauchen viele kritische Fragen auf.

„Die Idee der Bandstadt ist nicht neu, sondern wurde in der Architekturtheorie schon oft aufgegriffen“, sagt Vittorio Magnago Lampugnani, Professor für Städtebaugeschichte an der ETH Zürich sowie Autor der fast fünf Kilo schweren Urbanismusbibel Die Stadt im 20. Jahrhundert . „Aufgrund der langen Distanzen und der damit verbundenen Abhängigkeit von schnellem Verkehr jedoch hatten das Modell und die wenigen realisierten Beispiele wie etwa in Madrid keinerlei Auswirkung auf den heutigen Städtebau. Träume und Visionen sind wichtig, keine Frage. Aber die reale Verräumlichung der Bandstadt-Idee ist geschichtlich betrachtet nutzlos.“

„Biopolitische Sehnsucht“

Im konkreten Fall, meint Lampugnani, sei die Situation sogar um einiges absurder. „Das Projekt Neom The Line liegt mitten in der Wüste und verbindet nicht einmal zwei bestehende Punkte A und B, sondern endet nach 170 Kilometern im Nichts. Ich erkenne keine Legitimation für diese Stadt, sondern sehe nur das Kopieren eines historisch erfolglosen Modells. Das ist eine Sackgasse.“

Auch Charlotte Malterre-Barthes, Assistenzprofessorin für Stadtplanung an der Harvard Graduate School of Design in Boston, die sich schwerpunktmäßig mit Siedlungsstrukturen in Wüstengebieten beschäftigt, äußert sich im Gespräch mit dem ΔTANDARD überaus skeptisch: „Nachhaltigkeit wird bei diesem Projekt großgeschrieben, aber wie nachhaltig ist es, die Wüste mit einer U-Bahn zu untertunneln, Millionen Tonnen Beton durch die Natur zu transportieren und zigtausende Bauarbeiter auszubeuten?“

Die Linearstadt Neom, für die Saudi-Arabien in der ersten Tranche 500 Milliarden US-Dollar (412 Milliarden Euro) in die Hand nehmen will, ist für die Stadtforscherin eine „biopolitische Sehnsucht“, um – wie so oft bei autokratischen Top-down-Fantasien – über eigentliche Missstände und Probleme eines Systems hinwegzutäuschen. „Man könnte vermuten, dass sich hinter dem Projekt in erster Linie nationale und internationale wirtschaftliche Interessen verbergen.“

Nach Auskunft von Florian Lennert, Head of Mobility bei Neom, die ihr Headquarter vor wenigen Wochen von der Hauptstadt Riad in die Region Tabuk verlegte, sei man bereits mit namhaften Verkehrstechnologie-Unternehmen wie etwa Siemens, Alstom und Hyperloop im Gespräch. Auch andere Stakeholder wie beispielsweise der 5G-Anbieter stc oder der US-amerikanische Anlagenbauer Bechtel sind mit an Bord. Um weitere Investoren und Entwickler zu gewinnen, plant Kronprinz Mohammed bin Salman, die Provinz Tabuk – ähnlich wie etwa bei Hongkong, Shenzhen und Macau – zu einer autonomen Region mit eigener Verfassung und eigenen Steuer- und Wirtschaftsgesetzen zu erklären. Ob das reicht?

Neom ist das vielbeworbene Versprechen, eine neue Zukunft zu bauen. Aktuell deutet vieles darauf hin, alte, missglückte Vergangenheiten zu kopieren. Fertigstellung des ersten Bauabschnitts: 2025.

30. Januar 2021 Der Standard

„Die Stadt der Fußgänger war voller Türen“

Die Welt steht kopf: Dank Lockdowns und Onlinehandels verschwinden die klassischen Handelsstrukturen aus dem Stadtbild. Was tun? Ein Gespräch mit der Wiener Erdgeschoßforscherin Angelika Psenner.

Standard: Frau Psenner, wann war das letzte Mal, dass Sie an einem Erdgeschoß vorbeigegangen sind und sich bei dessen Anblick erfreut haben?

Psenner: In meiner Gasse gibt es einen Künstler, der im Erdgeschoß wohnt, in einer ehemaligen Tischlerei, und ich bin jedes Mal erfreut, wie er den Wohnort nutzt, wie er in Nicht-Corona-Zeiten Leute einlädt und kleine Ausstellungen veranstaltet.

Standard: Und wann waren Sie das letzte Mal so richtig entsetzt?

Psenner: Das passiert leider regelmäßig, mehrmals am Tag. Grund dafür sind die vielen Garagen und Storage-Räumlichkeiten, die dort entstehen, wo einst eine florierende Handelsstruktur war. Bei alledem, was wir heute schon über Erdgeschoße wissen, wundert es mich, dass diese gravierenden Fehler immer noch begangen werden.

Standard: Am Beispiel einer typischen innerstädtischen Wohngasse haben Sie erforscht, dass die Gastro- und Gewerbeflächen zwischen 1910 und 2018 – also in etwas mehr als 100 Jahren – um zwei Drittel geschrumpft sind. Gibt es ähnliche Zahlen für ganz Wien?

Psenner: Wie die Zahlen in Wien aussehen, müsste man erforschen. Aber ja, in unserem Forschungsgebiet, das wir untersucht haben, sind die Gewerbe- und Gastronomieflächen um fast 70 Prozent zurückgegangen. Spannend finde ich persönlich, dass es damals sehr viel produzierendes Gewerbe inmitten der Wohnviertel gab – beispielsweise Tischlereien, Waschwarenerzeuger, Korkwarenerzeugungsgewerbe, Krawattennäherinnen und Hemdennähereien, sogenannte Pfaidlerinnen. Vor allem aber gab es überraschend viele Gastronomiebetriebe, also etwa Zuckerbäckereien, Fleischereien, Brandweiner, Kaffeehäuser und Essensauspeisungen. Das Straßenbild war ein diametral anderes als heute.

Standard: Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Psenner: Die meisten Geschäfte und Essensausspeisungen waren klein und hatten direkte Zugänge von der Straße aus. Das heißt: Überall dort, wo wir heute im Erdgeschoß bestenfalls Fenster vorfinden, wenn diese nicht schon längst zugemauert und Garageneinfahrten zum Opfer gefallen sind, gab es große, gläserne Portale – oft sogar mit Markisen und Baldachinen. Die Stadt der Fußgängerinnen und Fußgänger war einst voller Türen!

Standard: Gab es in den letzten 100 Jahren einschneidende Ereignisse, die zum Geschäftssterben besonders beigetragen haben?

Psenner: Ich denke da vor allem an die Einführung der Straßenverkehrsordnung 1938 im Nationalsozialismus. Man kann es ja kaum fassen, aber in vielen Punkten geht die heutige StVO immer noch darauf zurück. In § 78 ist festgehalten, dass das unbegründete Stehenbleiben auf dem Gehsteig verboten ist. Ich bin mit jeder Novelle aufs Neue erstaunt, dass dieser Passus noch immer nicht gefallen ist. Genau diesem Aufenthaltsverbot auf Gehsteigen ist zu verdanken, dass ein Gassenverkauf heute oft verunmöglicht wird. Viele Anrainer und Anrainerinnen fühlen sich durch herumstehende Menschen belästigt und reichen, indem sie sich auf § 78 beziehen, Klage ein. Meistens mit Erfolg. Solange wir diesen Passus haben, bleibt das urbane, quirlige Stadtparterre, das wir regelmäßig auf Renderings neuer Stadterweiterungsgebieten präsentiert bekommen, eine Utopie.

Standard: Stadtparterre? Den Begriff haben Sie 2012 geprägt. Was verstehen Sie darunter?

Psenner: Der Begriff Stadtparterre umschreibt das Zusammenspiel von Erdgeschoßzonen, Fassaden, Portalen, Gehsteigen und Diffundierungsräumen zwischen drinnen und draußen. Das Stadtparterre umfasst auch die Innenhöfe der Gebäude, es ist also das Parterre der gesamten, öffentlichen Stadt.

Standard: Wie nehmen Sie das Stadtparterre im 21. Jahrhundert wahr?

Psenner: In vielen Fällen als eine Aneinanderreihung von Garageneinfahrten und folienbeklebten Schaufenstern, hinter denen sich neuerdings Self-Storage-Räume befinden. Urbane Vielfalt sieht anders aus.

Standard: Im Publikumsjargon hat sich der Begriff „Tote Augen“ etabliert. Stimmen Sie dem zu?

Psenner: Ja.

Standard: Mit dem zunehmenden Onlinehandel und den Pleiten im Zuge des Corona-Lockdowns wird das Geschäftssterben weiter zunehmen. Kann man diesen Prozess noch aufhalten?

Psenner: Nur mit sehr rigiden und mutigen Eingriffen seitens der Politik. Es gab in der jüngeren Vergangenheit schon zwei Wellen, die zum Geschäftssterben beigetragen haben – zum einen die Einführung des Euro 2002, zum anderen die Registrierkassenverpflichtung 2016. Mit dem zunehmenden Onlinehandel und der derzeitigen Corona-Krise überlagert sich nun ein langsamer, schleichender Prozess mit einem sehr akuten, dramatischen Phänomen. Der Einzelhandel wird unter den herrschenden Prämissen der globalen Wachstumswirtschaft definitiv noch weiter zurückgehen.

Standard: Was schlagen Sie vor?

Psenner: Das österreichische Mietrechtsgesetz veranlasst viele Hauseigentümer dazu, lieber einen Geschäftsleerstand im Erdgeschoß in Kauf zu nehmen und den Verlust durch alle anderen Mieteinnahmen zu kompensieren – anstatt sich ernsthaft nach einem passenden, vielleicht auch temporären Mieter umzuschauen. Eine Abhilfe wäre beispielsweise die Einführung einer Leerstandsabgabe. Unsere Studie zeigt zudem einen klaren Zusammenhang zwischen Leerstand, zu engen Gehsteigen und zugeparktem Straßenraum.

Standard: Wie können wir das Erdgeschoß in Zukunft effektiv nutzen?

Psenner: Es gibt so viele Ideen! Einerseits sehe ich eine gewisse Sehnsucht nach Kleinhandel, nach Repariergewerbe, nach Bäckereien, Gemüsegeschäften, Bio-Fleischereien. Andererseits ist es an der Zeit, das Stadtparterre neu zu denken und das klassische Erdgeschoß zugunsten neuer Funktionen zu öffnen. Infrage kommen Ateliers, temporäre Nutzungen, Wohnen oder etwa Kombinutzungen mit Wohnen und Gewerbe – wie dies in der Gründerzeit in den sogenannten G’wölben üblich war. Aber dazu müssen sich Politik, Kultur und Mentalität ändern. Und es bräuchte neue Gesetze – und zwar solche, die das 1938 induzierte Vorrecht des motorisierten Individualverkehrs wieder in stadtverträgliche Dimensionen zurückdrängen. Die in den Nullerjahren initiierte Restitution von Kunst- und Kulturgütern sollte nun endlich auch zur Restitution des öffentlichen Raums führen.

Standard: Wovon träumen Sie?

Psenner: Ich träume davon, dass Wien zu Tokio wird – dass das Parken von Autos aus dem öffentlichen Raum verschwindet. Und dass sich Wiens Gassen wieder mit Menschen füllen.

Angelika Psenner (53) studierte Architektur und Soziologie und ist im Bereich Stadtforschung tätig. Sie ist Associate Professor for Urban Structure Studies und lehrt an der TU Wien. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Auseinandersetzung mit Erdgeschoßzonen und öffentlichen Räumen.

11. Januar 2021 deutsche bauzeitung

Wogen im Wein

Weingut Lahofer in Dobšice (CZ)

Mit dem Weingut Lahofer in Dobšice u Znojma ist den tschechischen Architekten Chybík + Krištof die nahezu perfekte Welle gelungen. Das hyperbolisch geformte Dach, aufwendig in der Konstruktion, hält das heterogene Ensemble zusammen und taugt überraschenderweise sogar für so manch »maritimen« Moment.

»Komm, hier lang!«, sagt Ondřej Chybík, eilt voraus, die Stufen hochlaufend, nimmt eine starke Rechtskurve und begibt sich schließlich flotten Schritts ans Ende des Dachs. »Lehn dich an die Reling, und jetzt musst du die Arme ausbreiten, ja, genau so! Ist das nicht wunderbar? Man kann von hier oben sogar das Meer riechen. Wir nennen das den Titanic-Moment.« Allein, unter mir findet sich kein Salzwasser, sondern süßer Rebensaft in Tanks und Fässern, und ringsum grüne, streng durchlinierte Weingärten, so weit das Auge reicht. »Das macht nichts«, sagt Ondřej, und auch, dass er ja nicht Leonardo sei, sondern dass es um die Fantasie im Kopf ginge, die anzuregen seine Aufgabe als Architekt schließlich sei.

In Dobšice u Znojma, tiefstes Südmähren unweit der österreichischen Grenze, ist diese gedankliche Anregung auf dramatisch inszenierte Weise gelungen. Keine 5 km Luftlinie von der mittelalterlichen Kleinstadt Znaim entfernt, befindet sich das traditionelle Anwesen des in Tschechien landesweit bekannten Winzers Lahofer. Zu den besten Tropfen des Weinguts zählen Sauvignon Blanc, Müller-Thurgau und der so wunderbar im Ohr widerhallende Ryzlink rýnský. Der alte Produktionsstandort war vor geraumer Zeit schon zu klein geworden, und so hatte Lahofer an der Architekturfakultät in Brno (Brünn) einen Studentenwettbewerb ausgeschrieben, der dem Unternehmen jedoch nicht die erhofften Resultate bescherte.
»Wir haben davon in der Zeitung gelesen«, erinnert sich Ondřej. »Das hat uns neugierig gemacht. Wenn die Studenten nicht das abgeliefert haben, was Lahofer glücklich gemacht hätte, dann könnte uns das doch vielleicht gelingen! Also haben wir Lahofer angerufen und ihm direkt angeboten, dass wir das Projekt übernehmen könnten.« Gemeinsam mit seinem Partner Michal Krištof, mit dem er seit 2010 das Brünner Architekturbüro Chybík + Krištof leitet, untersuchte er diverse Logistik- und Produktionsabläufe und präsentierte dem Bauherrn in spe aus dem erarbeiteten Kompendium schließlich sieben verschiedene Varianten. Nach zwölf Stunden Besprechungsmarathon einigte man sich schließlich auf den letztlich nun auch realisierten Entwurf.

Vorne Chipperfield und hinten Hadid

Das architektonische Konzept ist in mehrfacher Hinsicht janusköpfig. Nach Süden hin, sichtbar von der Bundesstraße 53, präsentiert sich das Weingut wie eine flache, elegante Vitrine aus Glas und Beton. Mit den schlanken Pfeilern, den großen Glasflächen und der weit hinausragenden Dachkrempe, die für ein Minimum an Verschattung der Fassade darunter sorgt, wirkt das Haus auf den ersten Blick wie ein etwas geschrumpfter Flughafen-Terminal. Erst im maßstäblichen Vergleich mit den Weinstöcken vor der Fassade verflüchtigt sich dieses Bild, und übrig bleibt eine edle Anmutung mit warmen, schimmernden, aus dem Inneren herausleuchtenden Farben.

Im Bereich des Haupteingangs im Westen mutiert der streng rhythmisierte Glasriegel zu einer Art gerahmten Roulade, die im Gelände platziert ist, als hätte jemand eine Rehrücken-Backform aus fest gewordenem Stahlbeton über einen gläsernen Teig gestülpt. In der Achse des Eingangs entfaltet sich dann ein Bild mit fortlaufend hintereinanderliegenden, halbkreisförmigen Rundbögen, die den Eindruck erwecken, als würde das eben noch luftige Bauwerk – nun, nach einer Drehung des Betrachtungswinkels um 90 ° – etwas zunehmend Erdiges und Bodenständiges annehmen.

Gleichsam tonnenschwer und satt in die Topografie hineingeschmiegt, offenbart sich auf der Nordseite des Besuchereingangs eine flache, organisch modulierte Stufenlandschaft, die in weichen Kurven und mit Thermo-Wood bekleidet bis zum Dach hinauf ansteigt und dem Haus schon wieder eine neue Assoziation verleiht: Unweigerlich muss man an das 1995 fertiggestellte Yokohama Passenger Terminal von Foreign Office Architects (FOA) denken.
Und schließlich sind auf der Rückseite im Norden alle dienenden Bereiche des Weinguts untergebracht. Die Produktions- und Logistikflächen bieten zwar wenig Raum für Ästhetik, doch dafür umso mehr Flächeneffizienz und Funktionalität. Während die repräsentativen Bereiche wie Shop, Verkostungsraum und der Verwaltungstrakt mit raffiniert geformten, thermisch aktivierten Bauteilen aus perfektem Sichtbeton aufwarten, dominiert im technischen Kernstück des Weinguts eine rigide Fertigbauweise mit Betonpfeilern und -trägern, gedämmten Sandwich-Fassadenelementen sowie einem leichten Kaltdachaufbau mit Trapezblech und kiesbeschwerter Dämmung aus extrudiertem Polystyrol. Alles sehr praktisch. Die Sinnlichkeit liegt hier in den Stahltanks und Barrique-Fässern verborgen.

»Das Weingut hat zwar etwas Heterogenes und Fragmentarisches«, sagt Ondřej, »doch denke ich, dass wir den Auftrag und den Erfolg des Projekts genau diesem Umstand verdanken. Wir haben nichts im klassischen Sinne entworfen, sondern haben in jedem einzelnen Bauteil auf Basis der vielen, vielen Parameter die jeweils perfekte Lösung gefunden.« Oder, anders ausgedrückt: Lahofer, das ist vorne Chipperfield und hinten Hadid, im Abgang ein Hauch von Ando und Sejima.

Worüber Ondřej Chybík und Michal Krištof nicht sprechen: Durch die heterogene Ausgestaltung des Projekts ergeben sich natürlich auch entsprechend vielfältige fotogene Perspektiven auf das Gebäude. Der Verdacht liegt also nahe, dass hier nicht nur die funktionalen Parameter als formende Faktoren des Entwurfs dienten, sondern sehr wohl auch ein Gespräch zweier Marketing-Experten über Sexiness und Instagramability: Das Kate-Winslet-Deck auf dem Dach ist nur einer von vielen Hotspots, die in Blogs und sozialen Medien immer wieder auftauchen.

Der Reiz des Ungeplanten

»Die maritime Assoziation ist uns eigentlich bloß passiert«, sagt Ondřej, »aber das passt schon, denn mit den Brüchen und den unvorhersehbaren Entwicklungen kommt erst der Reiz.« Überraschend war auch die Entstehung der Innenraumgestaltung: Ursprünglich war geplant, das gesamte Interieur schlicht und ohne jegliche künstliche Verfremdung in den natürlichen Materialfarben von Holz, Beton und Terrazzo zu belassen. Doch als die Bagger zum ersten Mal anrollten und ihre Schaufeln in den fruchtbaren Boden gruben, wurden die asketischen Pläne wieder verworfen.

Die Farbe und Textur des Bodens empfanden die Architekten als so reizvoll, dass sie beschlossen, die ungewöhnliche Ästhetik auf den innen liegenden Ortbetonflächen zu zitieren. Der tschechische Künstler Patrik Hábl hat die zweiachsig gekrümmten Dachunterseiten zwischen den insgesamt 25 Querschotten als Leinwand verwendet und darauf seine Interpretation des lehmigen Weinbodens verewigt. Das Kunst-am-Bau-Projekt ist so subtil wie raffiniert und erinnert mit seinem ungleichmäßigen Farbauftrag und seinen teils bronzefarben glitzernden Camouflage-Flächen an eine aufgeschnittene und vielfach vergrößerte Korkplatte.

»Schön, wenn die Anstrengungen des Baus heute hinter der Oberfläche der Kunst verschwinden«, meint Michal Krištof, »doch tatsächlich war die Schalung und Ausbetonierung der zweiachsig gekrümmten Flächen, die Wand und Dach nahtlos miteinander verbinden, ein ziemlicher Kraftakt.« Um den flüssigen Beton daran zu hindern, sich im Schalungshohlraum unregelmäßig zu verteilen, konnte dieser in nur 20 bis 30 cm hohen Schichten eingefüllt werden, was sich als deutlich aufwendiger als angenommen herausstellte. Glücklicherweise war der Bauherr, der im Gesamtprojekt so viel Effizienz und Wirtschaftlichkeit erkannte, überzeugt, dass sich auch dieser technische und künstlerische Mehraufwand lohnen würde.

Fast alles an diesem Bauwerk scheint perfekt durchkomponiert und minutiös orchestriert. Über ein paar ganz wenige Ausnahmen, wie z. B. bei den Details an der Schnittstelle zwischen der wogenden Dachwelle und dem Innenausbau, kann man nach einer ausgiebigen Weinverkostung sicherlich getrost hinwegsehen. Stattdessen gibt es aufregende Wellenvariationen, veredelten Beton sowie schicke Eames- und Prouvé-Sessel zu entdecken. Davon können die deutschen und österreichischen Winzer mit ihrer zu Tode kopierten Cortenstahl- und Zigarrenclub-Ästhetik noch was lernen.

19. Dezember 2020 Der Standard

Monopoly für Politiker

Wollten Sie immer schon mal auf einen Sitz 16.000 Prozent Gewinn machen? Oder wollen Sie lieber nachhaltig agieren und g’scheite Bodenpolitik machen? Eine Ausstellung im AzW zeigt, wie es gehen kann.

Der 1970 errichtete Seoul-Station-Overpass überbrückt die zentralen Gleisanlagen, sodass man früher mit dem Auto vom Bahnhof aus bequem den traditionellen Namdaemun-Markt erreichen konnte. Nachdem Sicherheitsinspektionen im Jahr 2006 gravierende konstruktive Mängel aufzeigten, musste die Autobahnbrücke jedoch von einem Tag auf den anderen gesperrt werden – und löste damit einen jahrelangen Nachdenk- und Diskussionsprozess aus. Statt Abriss und Neubau entschied sich die Stadt dazu, das Bauwerk zu erhalten, die Betonstruktur zu sanieren und darauf einen tausend Meter langen Skygarden für Jogger und Flaneure anzulegen.

„Wo vor einigen Jahren noch pro Stunde tausende Autos über den Asphalt gefahren sind“, sagt Winy Maas vom niederländischen Architekturbüro MRVDV, „haben wir nun 24.000 Blumen, Büsche und Bäume gepflanzt – darunter mehr als 250 verschiedene Arten, die in diesen Breitengraden typischerweise zu Hause sind.“ Der Aufbau einer natürlichen Humusschicht war aus statischen Gründen nicht möglich. Daher entschied sich MVRDV, aus der Not eine Tugend zu machen und die Flora in 645 zylindrische Betontröge mit unterschiedlichen Durchmessern zu setzen. „Das Verständnis von städtischem Grund und Boden hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten radikal verändert“, so Maas. „Auf diese Weise konnten wir den Menschen einen wertvollen öffentlichen Freiraum zurückgeben.“

Best-Practice-Projekte

Die Entstehungsgeschichte des Seoullo 7017 Skygarden , seit rund drei Jahren in Betrieb, ist eines von rund 20 positiven, ja fast schon euphorischen Fallbeispielen, die zurzeit im Architekturzentrum Wien (AzW) zu sehen sind. Unter den weiteren Best-Practice-Projekten finden sich Kunstprojekte, Forschungsbauernhöfe, Initiativen zur Rettung von Grünland, Konzepte für ein schönes Leben ohne Rendite, gemeinschaftliche Quartiersentwicklungen, politische und steuerrechtliche Werkzeuge aus Kolumbien oder etwa die ENCI-Kalkgrube in Maastricht, die 2008 stillgelegt wurde und in den letzten Jahren in ein Naturreservat umgewandelt wurde. Ein Paradies für Badende, während im Hintergrund als Relikt einer vergangenen Zeit patinierte Kessel und Schornsteine in den Himmel ragen.

In diesem Teil der kürzlich eröffneten Ausstellung Boden für Alle empfiehlt es sich, länger zu verweilen und gute Energie zu tanken. Denn abgesehen davon wird man in den übrigen sechs Stationen der Ausstellung – eine Art österreichisches Bodenpolitik-Einmaleins für Gestalter und Entscheiderinnen – mit Zahlen, Daten, Fakten konfrontiert, die zum Teil so schockierend sind, dass man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Die comichafte Gestaltung der Ausstellung (genial gelöst: Planet Architects, LWZ und Manuel Radde), die das Unfassbare in Sprechblasen, Denk-Bubbles und Krachbumm-Gewitterwolken packt, hilft einem, ob der recherchierten Statistiken nicht schreiend davonzulaufen.

Pro Minute werden in Österreich zehn Quadratmeter Straße gebaut. Im gleichen Zeitraum gehen 30 Quadratmeter Ackerfläche verloren. Allein in der Steiermark gibt es 157,5 Quadratkilometer gewidmete, unbebaute Baulandreserven. Das ist mehr als die gesamte Stadtfläche von Graz. Dadurch steigt der Wert von Bauland in Österreich um durchschnittlich 750 Euro pro Sekunde. Am stärksten ist der Wertzuwachs in Kitzbühel. Durch die Umwidmung von Grünland zu Bauland können Grundstückseigentümer im Tiroler Nobelsportort bis zu 16.000 Prozent Gewinn machen.

Aussicht auf Lösungen

„Raumplanung und Bodenpolitik sind ein sehr komplexes Thema, bei dem Bauwirtschaft, Gemeindepolitik und Immobilienspekulation eng miteinander verflochten sind“, sagt Katharina Ritter, die die auf den ersten Blick so sympathisch wirkende Ausstellung (außen hui, innen heftig) gemeinsam mit Karoline Mayer kuratierte. „Unser Ziel ist es, diese Verknüpfungen sichtbar zu machen und auch darzustellen, welche Rolle jeder Einzelne, jede Einzelne von uns in diesem großen Monopoly-Spiel einnimmt.“

Der klassische Traum des Österreichers ist immer noch das eigene Häuschen auf der grünen Wiese. Dass dieser Wunsch nicht ohne raumplanerischen Super-GAU in Sachen Versiegelung, Zersiedelung, Individualverkehr, Erschließungskosten und CO2-Belastung realisierbar ist, dürfte sich schon herumgesprochen haben. Neu ist die Erkenntnis, dass dieser Wunsch Herrn Otto Normalverbraucher und Frau Monika Mustermann unter den bestehenden Bedingungen mehr als leicht zu erfüllen wäre: Wollte man die städtischen Wohnungen entleeren und die gesamte österreichische Bevölkerung auf die in diesem Land bestehenden Ein- und Zweifamilienhäuser aufteilen, dann würde das einen Schlüssel von 4,16 Bewohnern pro Wohneinheit ergeben. Es ist also schon alles gebaut, was wir brauchen. Was wollen wir mehr?

Vorausgesetzt, man bringt die Zeit und Energie mit, sich durch das Kompendium durchzuarbeiten, bietet die Ausstellung Boden für Alle am Ende allen Frustes wunderbare Aussicht auf Lösungen: Da ist die Rede von der Mehrwertabgabe im Schweizer Kanton Basel-Stadt. Da ist die Rede von der überaus innovativen Contribución de Valorización in Manizales, Kolumbien. Und da ist die Rede vom Südtiroler Bauleitplan, demnach neues Bauland stets an bestehendes Bauland angrenzen muss. Es würde ja so leicht gehen!

Dieser Artikel ist ein Appell an die Bundes-, Landes- und Gemeindepolitik: Pflichtexkursion ins AzW! Dann erfährt man auch, warum Bayern einer der größten Bodenbesitzer in Österreich ist.

12. Dezember 2020 mit Maik Novotny
Der Standard

Der Fall Loos

Dieser Tage jährt sich der 150. Geburtstag von Adolf Loos. Architekt, Designer, Theoretiker, Dandy, aber auch Verurteilter in einem Sexualprozess. Wir haben sechs Experten gebeten, die umstrittene Persönlichkeit unter die Lupe zu nehmen.

Sehnsucht nach Sinnlichkeit

Man muss sich lediglich in die Raumwelten des Adolf Loos hineindenken. Man nimmt in seinen Sofas Platz und sitzt an seinen Tischen. Man bestaunt die fließend ineinander übergehenden Räume und Zonen. Man ist versucht, den kühlen Marmor zu betasten, edle Hölzer zu befühlen und den Flausch seiner Teppiche unter nackten Füßen zu spüren. Alles wird angemessen sein. Gemütlich, doch edel. Praktisch, doch schön.
Was Adolf Loos seiner überladenen Epoche entgegengesetzt hat – nämlich die entschlackte Symbiose aus den drei elementaren Zutaten Qualität, Komfort und Eleganz –, macht heute ebenso Sinn wie zu seiner Zeit und ist geradezu wegweisend. Er arbeitete mit Sinnlichkeit, Raffinesse und Emotionen, nach denen wir uns heute heimlich sehnen. Seine Interieurs geben die richtigen Anstöße in einer Welt des unsinnlich Glatten und rein Funktionalen, in der kaum je ist, was es zu sein scheint.
Billiger Nachbau oder Original? Letztlich egal. Adolf Loos’ Idee der warmen, wohnlichen Räume, kleidsam in jeder Situation, doch nicht zu gefällig, sodass man eine Zeit braucht, um sie für sich zu erobern, wären einfach ins Heute zu transponieren. Wir müssen wieder wohnen lernen. (Gregor Eichinger, Architekt und Interiorgestalter, Büro für Benutzeroberfläche)

Sexueller Klassenkampf

Der Beschuldigte darf vor Gericht alles zu seiner Verteidigung Dienliche vorbringen. Wahr muss es nicht sein. Er darf daher behaupten, dass „verderbte“ Mädchen von sexuellen Übergriffen fantasieren – oder sich das sogar wünschen, entsprechend Sigmund Freuds Zurücknahme seiner Inzestentdeckungen, dass Symptome oft sexuelle Traumata symbolisieren. Wenn er ein „nobler Herr“ war wie Adolf Loos, wurde ihm geglaubt, wurde er doch a priori als moralisch höherstehend bewertet. Und es wurde ihm verziehen, selbst wenn die Beweislast und die Absurdität seiner abenteuerlichen Rechtfertigungsargumente unübersehbar waren.
Diese Denkweise wird noch immer propagiert: Noch immer sehen sich solche Sozialdarwinisten mit finanziellem, künstlerischem, wissenschaftlichem, network-basiertem oder nur medialem Prestige als Wohltäter à la „Sie hat durch mich doch Vorteile gehabt!“. Der Skandal des Marquis de Sade bestand nicht in den „perversen“ Aktivitäten, die er seiner Klägerin zumutete, sondern darin, dass eine Bürgerliche einen Adeligen vor Gericht brachte. Und eine „Unter-Frau“ einen „Ober-Mann“. (Rotraud A. Perner, Juristin, Psychotherapeutin und evangelische Theologin)

im himmel mit loos

ich wollte immer in den architektenhimmel, auch um mit adolf loos über einige dinge zu sprechen. aber seit der neuen moralisierung von kunst und architektur bin ich mir nicht mehr sicher, ob sich das ausgeht oder was ich tun müsste, um auch gewiss in die hölle zu kommen. adolf loos scheint einen zentralen nerv des wiener kulturverständnisses getroffen zu haben, bis heute. ginge es nur um ästhetische empfindungen, würde darüber amüsiert und kennerhaft diskutiert werden. es scheint aber mehr zu sein, was dem zum barock-dekorativen, zu gefälligkeit neigenden wiener architekturverständnis so widerstrebt. wenige kennen die texte von loos oder haben seine bauwerke erlebt und begriffen. architektur ist in wien nur verdaulich, wenn sie spektakulär inszeniert oder geschmacklich aufgeladen oder als politisches mittel, befreit von anspruch und substanz, mit infantilität und niederschwelligkeit als „sozial“ inszeniert wird.
architektur bleibt in wien verdächtig. meine hoffnung: es gibt im architektenhimmel auch eine abteilung für moralisch zweifelhafte architekten, sonst könnte es dort einsam werden. bis dahin gibt es zum trost die texte und bauwerke von adolf loos. (Werner Neuwirth, Architekt)

Moderne Moden für freie Menschen

Die Mode befindet sich hoffentlich gerade in einem Paradigmenwechsel, für dessen Gelingen eine Besinnung auf den modernen Standpunkt von Loos definitiv nützlich wäre. Wenn Modeunternehmen von Philistern geleitet werden, die im Rausch von Kosteneffizienz und Margenerhöhung die Qualität ihrer Produkte zugrunde richten, wenn durch eine Wohlstandskluft dem von Klein- und Mittelbetrieben getragenen Handwerk die Lebensgrundlage entzogen wird, während einem besinnungslosen Luxuspöbel jegliche Sensibilität und geschmackliche Kompetenz fehlt, dann ist die Rückbesinnung auf handwerkliche Tradition nicht konservativ – sondern progressiv.
Modernes Design heißt letztlich, dass seine Formensprache Sinn machen muss und dass ästhetische Qualität auf dem soliden Fundament einer lebendigen Handwerkskultur stehen sollte, die jene Sensibilität für Material und Form hervorbringt, die Loos vorexerziert hat. Seine einfache, aber gute Kleidung entspricht dem bürgerlichen Ethos. Ihre Rolle ist aber nicht das Bewahren einer erstarrten Gesellschaft, vielmehr schafft sie durch subtile Perfektion den Rahmen für souveräne und freie Individuen. (Wilfried Mayer, Modedesigner)

Respekt vor der Tradition

Eine Auseinandersetzung mit Adolf Loos ist kunsthistorisch in vielerlei Hinsicht lohnend. Seine pointierten Essays zeugen von einem umfassenden Kulturbegriff, dem ein profundes Wissen der Kunst- und Baugeschichte zugrunde liegt. Bekanntlich ließ er nur zwei Bauaufgaben als Kunst gelten – das Grabmal und das Denkmal. Alle anderen, auch das Haus, seien zweckgebunden und deshalb aus dem Bereich der Kunst auszuschließen. In seinen Interieurs bezieht sich Loos auf verschiedene Quellen, antike oder angelsächsische, die er in die Moderne transferiert und modifiziert.Der Respekt vor der Tradition und die Ablehnung des Modischen oder des Imitats sind auch aus heutiger Sicht mehr als zeitgemäß. Seine Wegeführungen, die Verwendung edler Materialien, die raffinierte Lichtregie und Farbgebung begeistern nicht nur Studierende der Architekturgeschichte. Retrospektiv betrachtet besteht die internationale Relevanz von Loos in der Entwicklung des „Raumplans“, womit er einen revolutionären, alternativen Beitrag zu den Raumkonzepten der Moderne leistete. (Sabine Plakolm-Forsthuber, Professorin an der TU Wien, Institut für Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpflege)

Seid ja nicht groß wie Loos!

Unsere Aufregung über den Fall Adolf Loos verrät mehr über uns selbst als über Loos. Von Loos werden wir wohl nie wissen, ob er tatsächlich schwerere Vergehen begangen hat als die nachweislichen, für die er verurteilt wurde. Bezeichnend für unsere Gegenwart aber ist, dass wir dazu neigen, es zu glauben und allein darum schon Konsequenzen zu fordern. Jede Anschuldigung erscheint uns wahr, und jeder Verdacht begründet.
Denn wir möchten die Großen fallen sehen – insbesondere diejenigen, die es gewagt haben, aufzubegehren. Ihnen wollen wir sofort, wie Matthias Dusini im Falter gefordert hat, eine „Abgleichung“ im Namen von – uns auffällig willkommenen – Ohnmächtigen entgegenhalten. Größe, so meinen wir nämlich, kann immer nur auf Kosten von Kleinen erkauft worden sein. Diese Wunschfantasie bildet die aktuelle Schwundstufe einer einst antiautoritären politischen Haltung. Die Guten können nun nur noch die Kleinen sein. In ihnen sehen wir unser ideales Selbst. „Klein bleiben!“, lautet darum die Maxime postmoderner Selbstverzwergung. (Robert Pfaller, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz)

21. November 2020 Der Standard

So ein Mist!

So viel wie in den vergangenen Wochen wurde noch nie über Re-Use und Recycle diskutiert. Ein Best-Practice-Beispiel ist das Umar von Werner Sobek. Es besteht zu einem großen Teil aus, genau, Müll.

Badezimmerfliesen aus eingeschmolzenen Schneidbrettern? Ziegelsteine aus zertrümmerten Kloschüsseln? Trockenbauwände aus gepressten Tetra-Packs? Und Wärmedämmung aus geschredderten Jeans? „Ja, das geht, und es war ein unglaublich großer Aufwand, all diese Produkte am Markt zu finden beziehungsweise mit den Produzenten gemeinsam zu entwickeln“, sagt Roland Bechmann. „Aber die Recherche, die uns monatelang auf Trab gehalten hat, beweist, dass die Baubranche reif dafür ist.“

Auf dem Gelände der ETH Zürich in Dübendorf, ein paar Tramstationen von der Innenstadt entfernt, wurde vor einigen Jahren ein recht schmuckloses Betonhaus errichtet, das sich selbst als eine Art XXL-Regal für bautechnische Innovationen versteht und sukzessive mit neuentwickelten Modulen und neuen Elementen nachhaltigen Bauens gefüllt wird. Der jüngste Baustein, der im zweiten Obergeschoß mit einem Autokran zwischen die beiden Betondeckeln hineingeschoben wurde, hört auf den Namen Umar – das Akronym steht für „Urban Mining and Recycling“ – und ist ein Exempel für Bauen mit wiederverwendeten und wiederverwerteten Materialien aus der Bau- und Konsumgüterindustrie.

„Das Schöne an diesem Bau“, sagt Bechmann, Partner im Stuttgarter Architektur- und Ingenieurbüro Werner Sobek, der das Projekt in Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Institute of Technology (KIT) entwickelte, „ist zu sehen, dass man im nachhaltigen Bauen längst keine ästhetischen Kompromisse mehr eingehen muss. Früher war ökologische Architektur meist ein Synonym für Entsagung und Verzicht. Doch das ist vorbei. Re-Use und Recycling können richtig chic sein!“

Genutzt wird die rund 125 Quadratmeter große Showcase-Box am ETH-Campus übrigens als Studenten-WG für bis zu vier Personen. Bei Interesse müssen die hier Wohnenden die neugierigen Gäste in Empfang nehmen und ihnen eine Führung durch die Räumlichkeiten geben. Manche Dinge erklären sich ganz von allein, für die etwas versteckteren Werte hinter Wänden und Bodenaufbauten kann eine Broschüre zurate gezogen werden. 152 Seiten voller Aha-Erlebnisse.

Symposien und Konferenzen

Vielleicht liegt es an der mit Corona verbundenen Besinnung auf Natürliches, vielleicht auch auf unserer gesteigerten Sensibilität für die fortschreitende Klimakrise, dennoch ist es überraschend, dass in den letzten Wochen das Thema in Symposien und Konferenzen hierzulande gleich mehrfach beleuchtet wurde – beim Symposium Circular Strategies an der Universität für angewandte Kunst, beim Jahreskongress der IG Lebenszyklus Bau, beim ÖGFA-Symposium „Stoffwechsel“ sowie vorgestern, Donnerstag, beim ORTE-Online-Symposium „Von der Wegwerfgesellschaft zur Kreislaufwirtschaft“. Und ja, Werner Sobeks Umar-Kiste flimmerte dabei nicht bloß einmal über die Zoom-Monitore.

„Wir beschäftigen uns schon lange mit der Triple-Zero-Thematik, also null fossile Energien, null Emissionen, null Müll“, sagt Bechmann. „In Bezug auf Müllvermeidung und Schonung materieller Ressourcen jedoch ist dies mit Abstand unser radikalstes und konsequentestes Projekt.“ Die Reise in die Welt des Recyclings war eine horizonterweiternde, bloß in einem Punkt, erinnert sich der Architekt, stoße die Kreislaufwirtschaft fast an Grenzen – im Bereich Elektro und Sanitär.

„So gut wie überall kann man Kleben durch Schrauben und Klemmen ersetzen, und so gut wie überall kann man auf Verbundbaustoffe verzichten, wenn man sich mit der Materie ein bisschen auseinandersetzt und die gewohnten Pfade verlässt. Doch bei elektrischen Verkabelungen und gedämmten, verklebt ummantelten muss man entweder aufgeben oder aber sich noch mehr anstrengen.“

Letztere Taktik jedenfalls hat sich gelohnt. Laut eigenen Angaben ist das zum überwiegenden Teil im Holzwerk vorgefertigte Umar nach Ablauf seiner Lebenszeit zu 98 Prozent wiederverwertbar. Der Sondermüll, der üblicherweise den Großteil der Baggerschaufel ausfüllt, beläuft sich auf zwei Prozent. Das ist – abgesehen von Lehmbauten, Blockhäusern und traditionellen Bautypologien – im zeitgenössischen Bauen Weltrekord.

Nicht mehr Utopie, sondern Alltag

Nicht nur in den Baustoffen, auch bei den Details erzählt das Umar eine schöne Geschichte von Vergänglichkeit und Ewigkeit: Die Kupferbleche an der Fassade, mit denen das Panoramafenster eingerahmt wurde, stammen von verschiedenen Bauwerken in der Umgebung und weisen daher auch unterschiedliche Oxidationsgrade auf. Und die Türknäufe, ein Entwurf des belgischen Designers Jules Wabbes, stammen aus einem Bankgebäude in Brüssel und kommen als leicht zerkratzte Vintageprodukte zum Einsatz.

„Bauen mit Recyclingbaustoffen und daher auch eine Eindämmung von Energieverbräuchen und CO₂-Emissionen“, sagt Roland Bechmann, „das ist ohne jeden Zweifel die Zukunft der Baubranche. Vielleicht dauert es noch acht, vielleicht zehn, vielleicht zwölf Jahre, bis die Bauindustrie das kapiert und reagiert und in die eigene Philosophie integriert hat. Aber es wird kommen.“ Noch bewegen sich Recyclingprojekte rund 15 Prozent über den üblichen Baukosten, was sowohl der aufwendigen Baustoff- und Produktherstellung als auch dem dünnen Vertriebsnetz geschuldet ist. Doch die Preisdifferenz hat ein Ablaufdatum.

„Mit 25 Euro pro Tonne ist die CO₂-Steuer derzeit noch ein nettes Feigenblatt“, sagt der Architekt. Das deutsche Umweltbundesamt beziffert einen ehrlichen CO₂-Preis, bei dem die Folgekosten nicht auf die Gesellschaft umgewälzt werden, mit 180 bis 205 Euro pro Tonne. „Spätestens dann wäre ein Haus wie das Umar mit einer konventionellen Bauweise kostengleich. Es ist eine Frage der Zeit und der Politik, bis dieses Projekt nicht mehr utopisch, sondern alltäglich ist.“

Publikationen

2024

Wien Museum Neu

Der Band ist eine visuelle und essayistische Reflexion über ein bedeutendes Kultur-Bauprojekt an einem der zentralen Orte Wiens in unmittelbarer Nachbarschaft zu Karlskirche, Künstlerhaus und Musikverein.
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Müry Salzmann Verlag

2022

mittendrin und rundherum
Reden, Planen, Bauen auf dem Land und in der Stadt Ein nonconform Lesebuch

Seit über 20 Jahren ist nonconform in Deutschland und Österreich in der räumlichen Transformation tätig. Architektur ist für das interdisziplinäre Kollektiv nie bloß ein fertiges, fotogenes Resultat, sondern immer auch ein lustvoller, horizonterweiternder Prozess, in den die Bürger:innen einer Gemeinde,
Hrsg: Wojciech Czaja, Barbara Feller
Verlag: JOVIS

2022

Brick 22
Ausgezeichnete internationale Ziegelarchitektur

Vom handgemachten Ziegelstein zum hoch entwickelten modernen Produkt: Das Bauen mit gebrannten Tonblöcken schöpft heute aus einem Erbe von neun Jahrtausenden Baugeschichte und dank ihrer vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, ihrer konstruktiven Qualitäten und ihrer Nachhaltigkeit sind Ziegel bis heute
Hrsg: Wienerberger AG
Autor: Wojciech Czaja, Anneke Bokern, Christian Holl, Matevž Celik, Anna Cymer, Isabella Leber, Henrietta Palmer, Anders Krug
Verlag: JOVIS

2021

Frauen Bauen Stadt

Wie weiblich ist die Stadt von morgen? Im Jahr 2030 werden weltweit 2,5 Milliarden Frauen in Städten leben und arbeiten. Traditionell war die Arbeit am Lebenskonzept Polis in ihrer Beauftragung, Planung und Ausführung jedoch männlich dominiert. Frauen Bauen Stadt porträtiert 18 Städtebauerinnen aus
Hrsg: Wojciech Czaja, Katja Schechtner
Verlag: Birkhäuser Verlag

2020

Almost
100 Städte in Wien

Was macht ein Reisender, wenn er nicht reisen kann? Er reist trotzdem. Wojciech Czaja setzte sich im Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 aus Frust auf die Vespa und begann, seine Heimatstadt Wien zu erkunden. Er fuhr in versteckte Gassen, unbekannte Grätzel und fernab liegende Adressen am Rande der Stadt
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Edition Korrespondenzen

2018

Hektopolis
Ein Reiseführer in hundert Städte

Jede Stadt ist anders. Jede Stadt hat ihren eigenen Charakter, aber auch ihre ganz eigenen Geschichten. Der vielreisende Stadtliebhaber Wojciech Czaja widmet sich in seinem Buch Hektopolis genau diesen ortsspezifischen, feinstofflichen Beobachtungen, Erlebnissen und Anekdoten. Porträtiert werden hundert
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Edition Korrespondenzen

2017

Motion Mobility
Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien

In einem von der Grundstückssuche bis zur Fertigstellung interdisziplinären Prozess planten Pichler & Traupmann Architekten, FCP Fritsch, Chiari & Partner als Ingenieure und das Beratungsunternehmen M.O.O.CON in Zusammenarbeit mit der Agentur Nofrontiere Design und SIDE Studio für Information Design
Autor: Wojciech Czaja, Matthias Boeckl
Verlag: Park Books

2012

Wohnen in Wien
20 residential buildings by Albert Wimmer

Wie wohnen die Wienerinnen und Wiener? Inwiefern decken sich architektonisches Konzept und gelebter Alltag? Der Architekturjournalist Wojciech Czaja und die Fotografin Lisi Specht werfen gemeinsam einen Blick hinter die Fassaden des geförderten Wiener Wohnbaus und bitten die Mieter und Eigentümerinnen
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: SpringerWienNewYork

2012

Zum Beispiel Wohnen
80 ungewöhnliche Hausbesuche

Wohnen ist eine zutiefst persönliche Sache. Kein Raum in unserem Leben steht uns so nahe wie unsere eigene Wohnung, wie unser eigenes Haus. Die beiden Autoren Wojciech Czaja und Michael Hausenblas reisen quer durch Österreich und sind zu Besuch bei Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Wirtschaft. Die
Autor: Wojciech Czaja, Michael Hausenblas
Verlag: Verlag Anton Pustet

2007

91° More than Architecture

Architektinnen und Architekten sind Arbeitstiere. Viele von ihnen arbeiten zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 50 Wochen im Jahr. Die wenige Zeit, die zwischen den dichten Arbeitsstunden noch übrig bleibt, ist wie ein Heiligtum und muss als solches respektiert werden. In diesem Sinne ist 91°
Hrsg: Wojciech Czaja, Eternit Österreich, Dansk Eternit Holding
Verlag: Birkhäuser Verlag

2007

Periscope Architecture
gerner°gerner plus

Vor zehn Jahren haben Andreas und Gerda Gerner mit einem Einfamilienhaus begonnen: „Für ein erstes Projekt ist das Haus Hinterberger sehr unkonventionell. Wir haben uns permanent gefragt: Trauen wir uns das? Seitdem hat man sich oft aus dem Fenster gelehnt“ Entstanden ist das schwebende Haus Südsee in
Hrsg: GERNER GERNER PLUS.
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Verlag Holzhausen GmbH

2005

Wir spielen Architektur
Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit

Was ist eigentlich ein Kind? Der Jurist wird uns darauf eine andere Antwort geben als der Soziologe, der Pädagoge eine andere als der Philosoph. Und der Architekt? Wird er schweigen und weiterbauen?
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Sonderzahl Verlag