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Das Hotel ist manchmal das bessere Daheim: Wenn es dringend wird, die eigenen vier Wände auszutauschen
Neue Zürcher Zeitung

Die Pandemie lockt zu Wohnexperimenten. Ein Hostel im früheren Getreidespeicher auf der Erlenmatt und ein Hotel im einstigen Bürogeschoss des Volkshauses Basel sorgten für einen Tapetenwechsel.

15. Januar 2022 - Sabine von Fischer
An den ersten beiden Tagen der Corona-bedingten Isolation erschien mir die Beschränkung auf das eine Zimmer noch interessant. So genau hatte ich es bisher kaum betrachtet, schliesslich halte ich mich im Schlafzimmer üblicherweise nur nachts auf. Ich erkundete die Möglichkeiten, auf der neben dem Bett verbleibenden Bodenfläche Sport zu treiben. Weiter verschiedenste Sitzpositionen auf Hocker oder Bettrand, stehend am Fensterbrett, liegend vor dem Laptop. Auch die Mahlzeiten, die die Familie mir wie einem Zootier auf die Türschwelle stellte, positionierte ich mal aufs Bett, mal auf den Hocker, meistens auf meine Knie.

Nach gut zwanzig Monaten Pandemie sind solche Wohnexperimente in der Isolation keine Seltenheit. Hunderttausende haben in Isolation und Quarantäne das Arbeiten am Küchentisch und das Schulzimmer im Korridor erprobt: die einen in engen Wohnungen, die anderen in geräumigen Häusern. Alle waren wir anfangs überrascht von der Situation und ihrer bald überdrüssig. Frische Luft, ja, gerne. Aber mir war nach mehr Veränderung: andere vier Wände.

Reiselust

Es gibt Gründe, in andere Städte zu fahren, die gar nichts mit diesen Orten zu tun haben. Vielmehr aber mit dem Daheim, in das man schon viel zu lange nicht mehr freudig zurückkehren konnte. Weil man dort nämlich über Wochen, Monate, bald Jahre festsitzt. Klar: Wir haben alles schöner hergerichtet, neu eingerichtet, repariert und angemalt. Und wieder Wochen am selben Ort verbracht.

Während ich mir verschiedene Hotels anschaute, fragte ich mich, ob ich da nicht gleich bleiben könnte. Wie Coco Chanel, die vierunddreissig Jahre im Pariser Luxushotel Ritz wohnte. Damals kostete die Suite, die nun nach ihr benannt ist, noch etwas weniger. Aber sicher so viel, dass das Leben im Hotel etwas Exklusives war. Exklusiv waren nicht nur die Räumlichkeiten, die Chanel nach dem eigenen Geschmack mit weissen Möbeln einrichtete, sondern auch der Service und die zentrale Lage.

Für meine Familie werden einige wenige Nächte und auch Hotels unter der Fünfsternkategorie den Zweck von etwas Abwechslung erfüllen: Hauptsache, wir müssen keine Landesgrenze überqueren. Und wohnen an einem Ort, der ganz anders wohnlich ist als das Zuhause: zum Beispiel ein Hostel in einem ehemaligen Getreidespeicher oder ein Hotel auf einer Büroetage, auf der alle Wände herausgerissen wurden. Beides gibt es seit dem Frühling 2020 in Basel, noch nicht lange also – aber lange genug, dass diese Herbergen unterdessen länger unter den Bedingungen der Pandemiemassnahmen als in einem Normalbetrieb geöffnet sind.

Die Kunst des Schlafens

Schläft man in einem Haus mit dicken Wänden, in dem früher Getreide und Kakao eingelagert waren, besser als zu Hause? Nicht zwingend. Aber die Träume sind intensiver, wenn man zuvor die riesigen Silotrichter betrachtet hat, die aus der Decke des Restaurants ragen und in den Obergeschossen, von der Brücke zwischen den Schlafräumen, in die Tiefe zeigen.

Das «Silo Hostel» im Neubauquartier Erlenmatt am nördlichen Basler Stadtrand verbindet die Idee einer Jugendherberge mit der des Boutique-Hotels: So viel clevere Design- und Architekturideen für so wenig Geld gibt es wohl in keiner anderen Gastunterkunft der Schweiz (ohne damit die Schweizer Jugendherbergen zu verärgern: Wer könnte ohne das Erbe einer Siloruine so futuristische Räume errichten, die sich jeder leisten kann?). Dabei gibt es in diesem Silo mehr als nur Zweier- und Viererschlafräume und ein Restaurant: Nach den Ideen der Stiftung Habitat und des Vereins Talent tummelt sich hier ein kleines Universum von Nutzerinnen und Nutzern, es gibt darin neben Restaurant, «Dorms» und Doppelzimmern auch Ateliers, Gewerbe- und Besprechungsräume, in den Nachbarhäusern ein Wohnhaus für Studierende und eines für Künstler.

Umgestaltet hat das Silogebäude der Basler Lagerhausgesellschaft für Getreide und Kakaobohnen aus dem Jahr 1912 der Architekt Harry Gugger, Partner der ersten Stunde von Herzog & de Meuron. Seit 2010 führt er sein eigenes Studio in Basel. Die enormen Kreisausschnitte in den Fassaden signalisieren die neue Aktivität im Haus allen Vorbeifahrenden auf der Autobahnauffahrt hinter dem Badischen Bahnhof.

Von innen her blickt, wer in einem der majestätisch grossen und silomässig roh belassenen Schlafsäle mit ihren fast fünf Metern Raumhöhe steht, weit über die Gleisanlagen nach Deutschland. Ohne Autolärm, so dicht sind die Fenster. Dafür hier gerade mit beträchtlichem Lärm drinnen, denn es wird geklettert und auf den Bettabschrankungen Waschbrett-Musik getrommelt – eine entfesselte Teenager-Schar erkundet die Schlafkojen. Weiter weg von zu Hause konnten wir, gefühlt, kaum reisen. Es sei denn, man fliegt ins Weltall – aber der schwere Beton gefällt uns viel zu gut, als dass man ihn gegen weltraumtauglichen Leichtbaukunststoff austauschen wollte.

Aufwachen im Wald

In der zweiten Nacht, immer noch in Kleinbasel, diesmal im Volkshaus-Hotel, loben die Kinder die Matratzen sowie die Oliven- und die Orangenseife, die in telefonkabinenartigen Duschnischen bereitstehen. Auch zu Hause riecht die Seife gut, das Besondere aber ist im Hotel viel einfacher zu entdecken und zu geniessen. Ob Greta Garbo sich deshalb für vier Jahre im Miramar-Hotel im kalifornischen Santa Monica einmietete? Und Udo Lindenberg fast drei Jahrzehnte lang eine Suite im Hamburger Hotel Atlantic besetzt?

Von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre wissen wir, dass sie im Hotel wohnten, um keine Energie an Hausarbeit zu verschwenden. Das machen wir nun auch so: Die Brasserie des Basler Volkshauses spielt alle Karten aus: ausser der Speisekarte und dem Ambiente auch einen Joker – Kunst ist hier nämlich Teil des Programms. Gebäudeseitig hängt ein Frauenporträt von Franz Gertsch an der Wand, hofseitig finden sich gerahmte Künstlerarbeiten, die Rezepte beschreiben.

Mindestens so einprägsam wie die Kunstwerke sind die Tapeten, bedruckt mit einer digital aufbereiteten Radierung aus dem 17. Jahrhundert. Sie zeigen die Bäume am Petersplatz zur Zeit der ehemaligen Burgvogtei: ein Wald, sozusagen. In den Waschräumen der Brasserie verdichten sich Wände und Decken hinter der Waldtapete zu einem überwältigenden Gefüge, das einer Phantasiewelt gleicht. Es ist die gleiche Tapete, die grösser und heller die Hotelzimmer in den oberen Geschossen auskleidet. Wald überall, auch die Korridore vor den Hotelzimmern sind tannengrün ausgekleidet.

Start im Lockdown

Zur Brasserie und Bar mit Gartenhof sowie Event-Sälen haben die Basler Architekturstars Herzog & de Meuron das hundertjährige Volkshaus vor gut zehn Jahren umgebaut. Auch das Boutique-Hotel der zweiten Bauetappe, eingebaut in den ehemaligen Bürogeschossen im Volkshaus, trägt ihre Handschrift: Die Zimmer mit freistehenden Waschbecken und Betten übersetzen die Belle Époque in eine malerische Moderne. Das Betriebs- und Nutzungskonzept der Firma We Are Content, bestehend aus dem Architekten Leopold Weinberg und dem Juristen Adrian Hagenbach, ging beinahe auf – ausser dass zehn Tage nach der Eröffnung des Hotels im März 2020 ein schweizweiter Lockdown verhängt wurde. Immerhin wurden die beiden als Hotelunternehmer des Jahres 2021 geehrt.

Während der trotz Corona veranstalteten Basler Kunstmesse im September 2021 waren Hotel, Brasserie und Bar genauso wie die Ausstellungs- und Festsäle des Volkshauses ausgebucht. Zwar hätten Kunst und Kulinarik, so sagen die beiden Unternehmer von We Are Content, miteinander nichts zu tun. Doch sie passen zusammen, der Hochbetrieb bewies es.

Dann kamen der Winter, Omikron und die Stornierungen aus dem Ausland. Wir zumindest sind hier, im nicht vollen, aber doch bevölkerten Volkshaus, und überlegen uns, wie es wäre, jahrelang hier zu wohnen. Berühmt für seine Langzeitmieter sind nicht nur «Ritz», «Atlantic», «Montreux Palace» oder das «Waldhaus» in Sils, sondern auch Unterkünfte wie das heruntergekommene Hotel Chelsea an New Yorks 23. Strasse. Über Jahrzehnte wurde das «Chelsea» von seinen Langzeitmietern abenteuerlich ausgebaut und eingerichtet. Weil sie ihre Zahlungen mit Kunst leisten konnten, war nicht nur das Treppenhaus eine Sensation, sondern das ganze Haus, als «place to be» für Allen Ginsberg, Patti Smith und Robert Mapplethorpe, Arthur Miller, Stanley Kubrick, Bob Dylan und Dylan Thomas.

Fenster in 240 Farben

Der Terrazzoboden, die rundum mit Zink eingefasste Bar, die Spiegelwand hinter der Bar und vor allem die rundherum schwarzen Wände und Decken könnten sich geradeso gut in New York City befinden, die Aura der Grossstadt jedenfalls wäre auch hier am Claraplatz gegeben. Zu schwarz und zu farblos, meinten manche in der Rheinstadt.

Seit einem knappen halben Jahr heisst die Volkshaus-Bar nun neu «Imi Bar», nach dem deutschen Künstler Imi Knoebel. Dieser hat in den denkmalgeschützten Fenstern zur Strasse, wie vor einigen Jahren in der Kathedrale von Reims, farbige Gläser in die Fensteröffnungen gesetzt. In der Bar des Volkshauses sind es 240 verschiedene Farbtöne, die im Augenwinkel spielen, wenn die Nase sich über das Cocktailglas beugt.

Als Weinberg 2020 während des Lockdowns seinem Freund, dem Galeristen Stefan von Bartha, zum ersten Mal von der Idee für mehr Farbe erzählte, war von Barthas Antwort: «Das könnt ihr vergessen.» Imi Knoebel mache schliesslich Kunst und keine Farbgestaltung für Architekten. Was bewegte den weltweit tätigen Künstler schliesslich dazu, an einer Basler Gasse vier profane Fenster umzugestalten, und was meint der Architekt dazu, dessen Plan es war, eine schwarze Bar zu kreieren?

Weinberg und von Bartha besuchten Knoebel und seine Frau in Düsseldorf, mehrmals. Carmen Knoebel hatte dort einst den «Ratinger Hof» betrieben, der unter ihr legendär geworden ist. Sie sprachen über die Idee, Imi Knoebels Arbeiten an die Wände zu hängen. Der 80-jährige Maler aber interessierte sich mehr für die Fenster. Für die Realisierung des Projekts kam er dann in die Schweiz, auch in die Glasfabrik Mäder in Rüschlikon, wo er unter einer scheinbar unendlichen Auswahl von Tönen seine 240 Farben wählte. An der Volkshaus-Fassade hat er sie nun ähnlich wie in seiner Werkserie «Anima mundi» von 2012 in vier um ein inneres Rechteck gelegte schmale Balken komponiert.

Architektur im Gebrauch

Die Zusammenarbeit mit den Architekten war einfacher, denn Jacques Herzog hatte kein Problem mit den neuen Farbakzenten in dem von ihm in tiefes Schwarz versenkten Raum. «Ich glaube, Architektur muss das auch aushalten, dass sie sich verändert. Es ist vielleicht auch eine Altersfrage, dass wir nun besser damit umgehen können, wenn sich unsere Architektur durch den Gebrauch verändert», erzählte er mir bei der Eröffnung des Museums Küppersmühle, in dem auch Werke von Imi Knoebel hängen.

Vor dreissig Jahren hätte er sich wohl mehr geärgert, das gibt Jacques Herzog zu, schliesslich müsse man sich als junger Architekt abgrenzen. Unterdessen nimmt er es gelassen. Das kann er gut: In Basel nämlich ist kaum eine Bewegung möglich, ohne dass ein Werk von Herzog & de Meuron ins Blickfeld kommt.

Etwas Farbe im Augenwinkel, wie Knoebels 240 Gläser, mindert nicht die Wirkung und auch nicht die schwarze Kraft des Raums. Vielmehr schärft sie die Sinne für die vielen Schichten der Geschichte, die im Volkshaus Basel eingelagert sind. Etwas Wald, etwas Weite, das Hotel könnte durchaus ein Zuhause auf Dauer sein.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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