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Im Tempel der Nüchternheit
Der Standard

In Teil 3 unserer Sommerserie reisen wir nach Nancy: Das 1954 errichtete Privathaus des Architekten Jean Prouvé steht zwar unter Denkmalschutz, doch sein Zustand ist ein sehr trauriger.

20. August 2022 - Wojciech Czaja
Geht zum Regal und nimmt eine Ausgabe der Zeitschrift AMC Revue d’Architecture zur Hand, Juni 1984, 80 Franc das Heft. „Hier ist es, Seite 54, genau danach habe ich gesucht.“ Luc Bonaccini, 57 Jahre alt, zerzauste Haare wie ein Professor, blättert hin und her, mal zum Text, dann zum Interview, schließlich zu den Plänen und Schwarz-Weiß-Fotografien. „Auf den Artikel über dieses Haus hier bin ich während meines Architekturstudiums gestoßen: Maison Jean Prouvé in Nancy. Es war Liebe auf den ersten Blick. Eines Tages, dachte ich mir damals, will ich das Haus von innen sehen. Und jetzt das: Ich wohne hier!“

Bonaccini ist Architekt, genauer gesagt Mitarbeiter im regionalen Architektur-, Stadtplanungs- und Umweltberatungsamt CAUE im Département Meurthe-et-Moselle. Vor 17 Jahren ist er von Straßburg nach Nancy gezogen, nahm seinen neuen Job im öffentlichen Dienst an und bekam von der Stadt Nancy ausgerechnet die Maison Jean Prouvé, Rue Augustin Hacquard 4–6, zur Miete angeboten. „Ich und dieses Haus! Ich konnte es kaum glauben! Die einzige Auflage war, dass ich mich um das Haus kümmern und es bei Bedarf einmal pro Woche für Besucher zugänglich machen müsse. Nichts leichter als das!“

Das Privathaus von Jean Prouvé, 1954 im Nordwesten von Nancy errichtet, ist eines der wenigen, erhaltenen Gebäude des französischen Ausnahmearchitekten. Während im Europa der Nachkriegszeit vor allem mit Beton gebaut und mit Nierentischen und pastelligen Farbtönen eine Renaissance der Gute-Laune-Heimat zelebriert wurde, experimentierte Prouvé in seinen Haus- und Möbelentwürfen mit industrieller Vorfertigung und gezielter Einsparung von Gewicht, Baustoffen und energetischen Ressourcen. Je weniger Material, je weniger Handgriffe, je weniger Komplexität, desto besser.

Im Zeichen der Multiplikation

Zu Beginn befasste sich der ausgebildete Kunstschmied und Metallarbeiter mit Reparaturen und historischen Rekonstruktionen. Seinen Durchbruch erzielte der autodidaktische Architekt und Möbelbauer 1931 mit seinem Wettbewerbsentwurf für die Möblierung der Cité Universitaire de Nancy. Von da an ging es steil bergauf: Für die französischen Kolonialstaaten in Westafrika entwickelte er günstige, aber robuste Schulmöbel, hinzu kamen Betten für Sanatorien und Internate, die zu Zehntausenden produziert und exportiert wurden.

Auch seine modular aufgebauten Architekturprojekte standen im Zeichen der Multiplikation, etwa 100 Tankstellenhäuschen in Frankreich sowie 600 Schulklassen in Kamerun. Zeitweise hatten Les Ateliers Jean Prouvé bis zu 200 Mitarbeiter in der Produktion.

„Sein Vermächtnis ist gigantisch“, sagt Luc Bonaccini, in der Hand eine Tasse Tee, während er an seinem Wohnzimmertisch sitzt, ein Entwurf von Jean Prouvé, was sonst. „Er war ein Superstar, der sich aber stets in den Dienst des Produkts, der industriellen Fertigungstechnik und einer gewissen Demokratisierung der einst unerschwinglichen Möbel- und Architekturdisziplin gestellt hat. Es ist eine Ehre, hier wohnen zu dürfen. Aber nein, es ist nicht immer leicht.“

Am 1954 errichteten Haus, das von Prouvé und seiner Familie in nur wenigen Monaten ohne Unterkellerung und ohne umfassende Hangsicherung wie ein modulares Fertighaus zusammengeschraubt wurde, nagt der Zahn der Zeit. Die charakteristischen Bullaugenpaneele aus Aluminium sind verbeult und zum Teil undicht, die vertikalen Fensterläden, die sich in der Brüstung versenken lassen, stecken fest, an den Fenstern sammelt sich Kondensat.

„Doch das größte Problem“, sagt Bonaccini, „ist die sommerliche Hitze. Das Holz-Blech-Dach ist nur wenige Zentimeter dick und so leicht, dass Prouvé im Wohnzimmer eine Säule einbauen musste – und zwar nicht, um das Gewicht zu tragen, sondern um das Dach vor dem Wegfliegen zu sichern.“ Die Temperaturunterschiede haben dem Bauwerk, das seit 1987 unter Denkmalschutz steht, ordentlich zugesetzt. Durch das starke Schwinden und Dehnen sind die Türen, Paneele und Holzverkleidungen vielerorts gerissen.

„Wir sind uns der Schönheit und Besonderheit des Hauses sehr bewusst, umso mehr schmerzt uns der bedauerliche Zustand“, sagt Kenza-Marie Safraoui, Kuratorin für Kulturerbe und zuständig für die Museen der Stadt Nancy. „Leider sind uns in der Museumsverwaltung die Hände gebunden, denn das Haus befindet sich im Eigentum der Stadt. Das Haus wird vermietet, wir hätten viele gute Ideen, haben aber leider keinen Zugriff darauf. Die Situation ist vertrackt.“

Und was sagt Vitra zu alledem? Vor 20 Jahren hat das deutsche Nobelmöbelhaus mit Sitz in Weil am Rhein bei Basel die alten Entwürfe von Jean Prouvé aus den Archiven gehoben und mit Prouvés Erben Kontakt aufgenommen, um den Nachlass des radikalen Avantgardisten in die Vitra-Produktlinie aufzunehmen. Der Stuhl Standard , der Fauteuil Direction , der EM Table und die Wandleuchte Potence werden seit vielen Jahren erfolgreich verkauft. Erst kürzlich stellte Vitra im Rahmen einer Pressereise ein neues Produkt vor – den blitzblauen Lounge-Chair Kangourou , ein Entwurf aus dem Jahre 1948.

Das Herz blutet

„Die Wiederentdeckung des fast verschollenen Jean Prouvé im Jahr 2002 war der Beginn einer Lovestory“, sagt Christian Grosen, Head of Design bei Vitra. „Prouvés Arbeit hat viele Künstler, Designer und Architekten inspiriert. Er zählt ohne jeden Zweifel zu den größten und wichtigsten Pionieren des 20. Jahrhunderts. Uns blutet das Herz, dass ausgerechnet sein eigenes Privathaus in so einem schlechten Zustand ist. Es wäre toll, wenn man das Haus wieder in Schuss bringen könnte.“

Die einen sind Besitzer eines Kulturdenkmals und mit dem Erhalt des Objekts sichtlich überfordert. Die anderen haben einen großen Schatz geborgen und sind in den letzten 20 Jahren zu wahren Prouvé-Connaisseurs aufgestiegen.

Möge dieser Text als Anstoß dienen, die Kräfte und Budgets zu bündeln und das angedepschte Schmuckkästchen in der Rue Augustin Hacquard zu sanieren und einer öffentlichen Nutzung zuzuführen – ob als Museum, Artists-Residency oder Vitra-Hotel für Fans des nüchternen Strichs. Wie sagte doch Prouvé? „Partir du détail pour arriver à l’ensemble.“ Im Kleinen anfangen, um zu einem Ganzen zu gelangen.

Hinweis: Die Reise nach Nancy erfolgte auf Einladung von Vitra.

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