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Profil

Wojciech Czaja, geboren in Ruda Śląska, Polen, ist freischaffender Journalist für Tageszeitungen und Fachmagazine, u.a. für Der Standard, Architektur & Bauforum, VISO, db Deutsche Bauzeitung, und DETAIL. Er ist Autor zahlreicher Wohn- und Architekturbücher, u.a. Wohnen in Wien (2012), Zum Beispiel Wohnen (2012), Überholz (2015) und Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden (2015). Zuletzt erschien HEKTOPOLIS. Ein Reiseführer in hundert Städte im Verlag Edition Korrespondenzen. Er arbeitet als Moderator und leitet Diskussionsrunden in den Bereichen Architektur, Immobilienwirtschaft und Stadtkultur und veranstaltet unter dem Titel Ähm, ja also... Praxis-Workshops zum Thema Kommunikation und Präsentation. Er ist Dozent an der Universität für Angewandte Kunst in Wien sowie an der Kunstuniversität Linz und unterrichtet dort Kommunikation und Strategie für Architekten. Außerdem ist er von 2015 bis 2021 Mitglied im Stadtbaubeirat in Waidhofen an der Ybbs.

Publikationen

Wir spielen Architektur. Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit, Sonderzahl-Verlag, Wien 2005
periscope architecture. gerner gerner plus, Verlag Holzhausen, Wien 2007
Stavba. Die Strabag-Zentrale in Bratislava, Wien/Bratislava 2009
Light/Night. The Nouvel Tower in Vienna, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2010
Wohnen in Wien. 20 residential buildings by Albert Wimmer, Springer Verlag, Wien 2012
Zum Beispiel Wohnen. 80 ungewöhnliche Hausbesuche, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2012
Überholz. Gespräche zur Kultur eines Materials, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2015
Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden, Wien 2015
Der Fuß weiß alles. Markus Scheer, Ecowin Verlag, Wals bei Salzburg 2016
Der Erste Campus, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2017
motion mobility. Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien, Park Books, Zürich 2017
Hektopolis. Ein Reiseführer in hundert Städte, Edition Korrespondenzen, Wien 2018

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Artikel

15. April 2023 Der Standard

Kampf der Herzerln

Vor drei Jahren hat Spittal an der Drau einen neuen Rathausplatz bekommen. Der neue Bürgermeister findet ihn „schiach“ und hat nun begonnen, ihn verbal und materiell zu demontieren. Im Sommer soll er mit Palmen und Pavillons aufgemotzt werden. Hilfe!

Szene 1, 2017: Vor dem Rathaus von Spittal an der Drau steht ein romantisch anmutender Eisenpavillon mit einer weiß lackierten Parkbank. Frisch vermählte Hochzeitspaare, hört man, lassen sich hier gerne fotografieren. Der restliche Rathausplatz ist als Platz kaum existent, eine Mischung aus Parkplatz und Rathausrückseite, überall Asphalt, vollgepfercht mit schräg parkenden Autos, keine Menschenseele weit und breit, in der Mitte ein leerstehendes Haus.

Szene 2, 2020: Es wird ein Wettbewerb zur Umgestaltung ausgeschrieben. Der Sieg geht an das Kärntner Architekturbüro Gasparin & Meier, das den Platz 2020 in eine Begegnungszone umbaut – mit Brunnen, Basketballplatz und gemütlichen Sitzecken, die in ihrer Gestaltung mit Lounge-Möbeln, Omama-Stehlampen und stilisierten Teppichen einem Wohnzimmer nachempfunden sind. Der gesamte Platz ist gepflastert, keine Versiegelung, das Kopfsteinpflaster wie in Italien im Schotterbett verlegt. Im Sinne der Schwammstadt soll das Regenwasser versickern. Es fließt in mehrere Retentionsbecken unter dem Platz und wird zur Bewässerung der 22 neu gepflanzten Bäume verwendet. Auf diese Weise wird die Kanalisation entlastet.

Szene 3, letzte Woche: Auf einem der zehn Quadratmeter großen Teppiche wurden die Lounge-Möbel, da sie „im Weg gestanden“ seien, vom neuen Bürgermeister Gerhard Köfer (Team Kärnten, zuvor Team Stronach, zuvor SPÖ, seit 2021 im Amt) bereits abgebaut. Stattdessen gibt es nun einen immergrünen Kunstrasen, zwölf Quadratmeter in der Fläche, mit weißer Rosamunde-Pilcher-Parkbank, Eisenherzerl und bunten Plastikblumen zum Fotografieren. Laut Köfer solle im Sommer nun auch der restliche Platz umgebaut werden, mit einem Pavillon als „Fotopoint“ in der Platzmitte.

Wir fragen den Bürgermeister:Am Gründonnerstag, Karwoche, wird Der ΔTANDARD von Bürgermeister Köfer in Empfang genommen. „Viel Zeit habe ich nicht. Sie schreiben ja sowieso, was Sie wollen.“ Zum einen kritisiert Köfer im Interview die Gestaltung des Platzes: „Wenn ich da runterschaue, dann sehe ich: Das ist einfach schiach. Das schaut ja lächerlich aus! Wir müssen den Rathausplatz neu beleben. Wir arbeiten nun daran, dass der Platz zeitgemäß wird.“

Noch eine Kritik: „Und zum anderen wurde der Platz so gebaut, dass er nahezu unbegehbar ist.“ Die Kritik richtet sich an den Bodenbelag, also an die Verlegung mit nicht geschnittenen, sondern gebrochenen Pflastersteinen. Es sei schwierig, den Platz mit Rollstuhl zu befahren und mit Stöckelschuhen zu begehen. „Da fällt dir das Gebiss raus, wenn du jemanden im Rollstuhl rüberschiebst.“ Der Landesrechnungshof empfiehlt in einer schriftlichen Stellungnahme, zu prüfen, ob ein Zusatz zum Fugensand mit erhöhtem Feinanteil die Fugenoberfläche besser verfestigen würde. Das könne die Unebenheiten reduzieren.

Bloß bitte nicht Basketball spielen! Auch am ehemaligen Basketballplatz – die bereits montierten Basketballkörbe mussten nach wenigen Tagen, nachdem sich Anrainer wegen des Lärms beschwert hatten, wieder abgebaut werden – lässt Köfer kein gutes Haar: „Übriggeblieben ist dieser weiße Schmutz. Wenn’s regnet, ist das eklig.“ Damit hätten auch die Marktbetreiber, die jeden Donnerstagvormittag hier unten ihren Bauernmarkt aufbauen, keine Freude, meint er. Sie freuten sich auf eine Pavillonüberdachung, versichert er. „Fragen S’ die Leute!“ Das tun wir. Wir hören uns mal um. „Der Platz ist schon okay, ein cooles Ding eigentlich, ganz anders, als man das sonst kennt“, sagt Ivo Burušić, 30 Jahre alt, er betreibt mit seinen Eltern jeden Donnerstag einen Obst-und-Gemüse-Stand. „Aber bitte keinen Pavillon! Wir fahren hier mit unseren Kombis und Lieferwagen auf den Platz, es ist jetzt schon eng!“ Corinna Ebner und Vanessa Goller, zwei befreundete Mütter, die mit ihren Kindern hier sind, meinen: „Früher war das nur eine Durchfahrtsstraße mit Parkplatz. Etwas mehr Grün wäre schön, und vielleicht noch mehr Spielgeräte für die Kinder, aber der Platz mit den Wohnzimmer-Lounges ist sehr nett, endlich mal was anderes!“

Die Sache mit dem Kopfsteinpflaster: Mario Rindlisbacher, Ofensetzer von Beruf, freut sich über den Bodenbelag: „Meist bemüht man sich, ein südliches, historisches Flair in eine Stadt zu bringen. Mit dem Kopfsteinpflaster ist das hier absolut gelungen. Ich würde an diesem Platz absolut nix ändern wollen!“ Etwas anders sieht das Svetlana Thaler, Betreiberin des angrenzenden Stadtcafés: „Schön ist der Platz ja, und auch gemütlich. Nur die Pflasterung finde ich nicht so geeignet. Wenn ein Wind kommt, ist der Sand überall.“

Barrierefreiheit? Am stärksten bekrittelt Bürgermeister Gerhard Köfer die Barrierefreiheit. Wir fragen Lukas Hofer, 34 Jahre alt, er ist in der Tageswerkstätte der Stiftung Liebenau beschäftigt und sitzt im Rollstuhl. Er macht gerade Pause im Eissalon. „Ein ganz glatter Boden wäre natürlich einfacher zu befahren, keine Frage. Aber es geht schon, ich würde sagen, dieser Platz ist sehr wohl barrierefrei. Das viel größere Problem sind die ganzen Randsteine in der Stadt. Die sind ein Kas. Das habe ich dem Bürgermeister schon öfter geschrieben, aber der meldet sich nie zurück.“

Und jetzt? Im Sommer soll der Rathausplatz, der vor erst drei Jahren aus stadtklimatischen Gründen bewusst als Versickerungsfläche angelegt wurde, zum Teil verfugt, versiegelt und umgebaut werden. Dazu hat Köfer im Rahmen des Leader-Förderprogramms der EU bereits einen Förderantrag unter dem etwas befremdlichen Titel „Makeover einer Dame“ gestellt. Mit 20 Palmen solle ein südliches Flair in die Stadt gebracht werden, der Rathausplatz erhalte zudem einen „mediterranen Pavillon mit Bepflanzung“. Auch so kann man der Erderwärmung begegnen.

Das Problem: Gerhard Köfer, der bereits kurz nach Amtsantritt den unabhängigen Gestaltungsbeirat von Spittal an der Drau aufgelöst hat, weigert sich, zur Umgestaltung des Platzes das Büro Gasparin & Meier – oder auch irgendwelche anderen Architekten – heranzuziehen. Das könne er selbst am besten. „Ich habe keine Ausbildung, aber ich mache das schon seit 30 Jahren. Ich habe eine starke Vorstellungskraft für alles, was mit Bauen zu tun hat.“ Oder auch seine Frau Evelyn Köfer. Die leitet den Ausschuss Stadtmarketing. Und ist für Herzerln und Blumenpavillons zuständig. „Wir haben so viel Kreativität im Haus. Und auch viel Gefühl für etwas.“

Fazit: Der Bürgermeister ist in Österreich immer noch die oberste Bauinstanz. Wie g’scheit das ist, wird man im nächsten Sommer in Spittal an der Drau sehen können. Oder aber die Geschichte nimmt doch noch ein gutes Ende.

25. März 2023 Der Standard

Superstadtsanierungsrevolution

Die Cité Le Lignon in Genf ist so etwas wie der Karl-Marx-Hof in Wien, nur mit zwölf Stockwerken und mehr. Nun wurde die Ikone der Moderne saniert. C'est très bon!

Madame Ruth hat Kaffee aufgesetzt. Im Körbchen liegen frische Croissants aus ihrer Lieblingsbäckerei. „Gleich unten ums Eck, denn hier in Lignon, hier kriegt man fast alles! Doch Sie sind ja nicht gekommen, um mit mir über Gebäck zu sprechen. Sie wollen etwas über diese riesige Wohnhausanlage wissen, die in den letzten Jahren saniert wurde. Lieber Herr Architekt, vielen Dank dafür! Meine Heizrechnung hat sich seitdem halbiert. Also, was darf ich Ihnen erzählen?“

Ruth Righenzi-Eggenberger, 81 Lenze alt und ein Lächeln wie ein freches Mädchen, wohnt seit über 50 Jahren in Le Lignon, dem größten Bauwerk der Schweiz. Mit mehr als einem Kilometer Länge, 84 Stiegenhäusern, knapp 2800 Wohnungen und sogar einer eigenen Postleitzahl ist Le Lignon am westlichen Stadtrand von Genf eine der größten Wohnhausanlagen der Welt. Errichtet wurde die Ikone der späten Moderne am Ufer der Rhône in den Jahren 1963 bis 1971 nach Plänen von Georges Addor und Dominique Julliard. Aufgrund ihrer einzigartigen Größe und architektonischen Qualität wurde die Superstadt, die heute rund 6500 Menschen beherbergt, 2009 vom Kanton Genf unter Denkmalschutz gestellt.

„Was seitdem passiert ist, scheint wie ein technisches Paradebeispiel aus dem Bilderbuch“, sagt Ruth. „Mit wenigen Handgriffen wurde die Fassade von innen gedämmt, die Loggia bekam eine Isolierverglasung, die Fenster wurden saniert, die Steigleitungen wurden erneuert, zudem wurden im Stiegenhaus die Türen und Bodenbeläge getauscht.“ Ruth macht einen Bissen vom Croissant. „Resch und knackig, nicht wahr? So wie der Zeitplan der Baufirma, denn soll ich Ihnen was verraten? Die Bauarbeiten in meiner Wohnung haben vielleicht zwei Wochen gedauert, und ich musste in dieser Zeit nicht einmal ausziehen. Wirklich bravo!“

Das freut natürlich den Architekten. Denn genau das war der Plan. Stephan Gratzer, Partner im Genfer Architekturbüro Jaccaud + Associés, betreut das Projekt seit vielen Jahren. Die Wohnungen auf Stiege 49 – also auch jene von Madame Ruth – wurden bereits 2012 saniert und thermisch und energetisch ertüchtigt. Seitdem haben sich die Architekten, Baufirmen, Schlosser, Fensterbauer und Installateure Stiege für Stiege vorgearbeitet. Mittlerweile wurden 47 Stiegen erneuert, und die Bauarbeiten sind noch lange nicht abgeschlossen. Für das außergewöhnliche Sanierungsprojekt wurde das Büro Jaccaud + Associés von der Schweizer Architekturzeitschrift Hochparterre sogar mit dem Goldenen Hasen ausgezeichnet.

„Die Schwierigkeit in Le Lignon ist, dass die 84 Stiegen verschiedenen Bauträgern und Hausverwaltern gehören“, erklärt Gratzer. „Das heißt: Wir haben es hier mit vielen Entscheidern, vielen Ansprechpartnern und vor allem vielen unterschiedlichen Unternehmenskulturen zu tun. Daher war für uns die oberste Prämisse, dass die sanierten Fassaden gegenüber den unsanierten nicht herausstechen. Das Bauwerk muss trotz aller Veränderungen und unabhängig vom jeweiligen Sanierungsfortschritt wie aus einem Guss erscheinen.“

Das erklärt auch den Denkmalschutz. Denn nur mit diesem Kniff war es möglich, das historische Erscheinungsbild und die originale Curtain-Wall-Fassade mit ihren dunkelgrauen Gläsern, ihren kantigen Aluminium-Einfassungen und ihren warmen Loggien aus Zedern- und Mahagoniholz rechtens zu schützen. Als Nächstes wurde das Institut für Technik und Schutz der modernen Architektur (TSAM) der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) beauftragt, mit ihren Studierenden die einzelnen Bauteile zu analysieren und einen Sanierungskatalog zu entwickeln, der erstens die Besonderheiten der Nachkriegsmoderne wahrt und zweitens einen Umbau ohne Gerüst und ohne Auszug der Mieterinnen und Mieter ermöglicht.

Vorbild für Österreich

Auf dieser Basis kamen die Architekten Jaccaud + Associés ins Spiel. „Das ist ein hochkomplexes Projekt mit vielen, vielen Wohnungen“, sagt Gratzer. „So etwas ist nur möglich, wenn alle an einem Strang ziehen und die gewohnten Pfade verlassen.“ Um die behördlichen Wege zu beschleunigen, musste für das gesamte Sanierungsprojekt lediglich eine einzige Rahmenbaubewilligung angesucht werden – ein absolutes Novum. Hinzu kommen einige Hundert technische Leitdetails, die in einem dicken Handbuch festgehalten sind und an die sich die involvierten Generalunternehmer und Handwerker penibel zu halten haben.

„Le Lignon ist trotz seiner hohen räumlichen Qualitäten eine rigide Stahlbetonmatrix mit wenig baulicher Flexibilität“, erklärt Gratzer. „Vor allem bei der Wärmeisolierung mussten wir daher sehr effizient arbeiten.“ Die Decken und Parapete wurden mit Glaswolle gedämmt, auf den Laubengängen kamen sogenannte Aerogel-Kügelchen zum Einsatz, unter den Terrassen und Laubengängen wurden, um wertvolle Höhe zu sparen, Vakuum-Dämmplatten verlegt. „War nicht gerade billig, aber es funktioniert.“

Die Architekten, der Generalunternehmer und das Comité Central du Lignon, der in diesem Projekt als eine Art Schirmbauherr fungiert, sind mit den Bewohnerinnen im engen Kontakt, und es hat sich herausgestellt, dass die Halbierung der Heizrechnung bei Madame Ruth kein Einzelfall ist. Die meisten Mieter berichten von einer Reduktion der Energiekosten und von besseren, angenehmeren Innenraumtemperaturen im Sommer wie im Winter.

„Ich würde sagen, dass 80 Prozent der hier wohnenden Menschen mit der Sanierung sehr zufrieden sind“, sagt Ruth Righenzi-Eggenberger. „Die restlichen 20 Prozent hätten sich wahrscheinlich mehr erwartet und sind enttäuscht, dass das Haus immer noch so aussieht, wie es war. Doch genau das ist die große Qualität! Wir wohnen hier, wir leben hier, wir sind hier zu Hause – und jetzt ist unser Zuhause ökologisch besser und ökonomisch leistbarer, ohne dass sich irgendetwas Großes verändert hätte. Meine Wohnung schaut immer noch aus wie eine alte Bauernstube! Also ich finde das wunderbar.“

Auch in Österreich steht uns mit der rechtlich verankerten Dekarbonisierung bis 2040 ein radikaler Stadtumbau bevor, der in seinen sozialen, ökonomischen und stadtplanerischen Ausmaßen mit der Gründerzeit, vielleicht sogar mit dem Bau der Wiener Ringstraße zu vergleichen ist. Zehntausende Wohnhäuser, die in den Nachkriegsjahren errichtet wurden und die schlecht gedämmt und an fossile Energieträger gebunden sind, müssen zukunftsfit gemacht werden.

Ohne standardisierten Katalog, ohne kollektiven Rückhalt aus Politik und Industrie und ohne den visionären Elan, der in Le Lignon ganz viel Wohnglück produziert hat, wird es nicht gehen.

18. März 2023 Der Standard

An einem Bächlein helle

Am 22. März ist UN-Weltwassertag. Ein guter Anlass, um über die Zukunft von Wasser und Stadtklima nachzudenken. Eine Gruppe von Forschenden will die Wienerwaldbäche, die einst durch die Stadt flossen, wieder an die Oberfläche bringen.

An der Fassade des Palais Montenuovo auf der Freyung erfährt man Wissenswertes über die Geschichte Wiens. Eine kleine Reiterfigur mit Krummsäbel und Turban erinnert an die Erste Türkenbelagerung anno 1529. Doch auch überaus überraschende Trivia zur Wiener Stadtmorphologie sind an dieser Stelle ersichtlich, etwa auf einem verblassten Schild zu Füßen des Osmanen: „Bis zum J. 1456 floß durch diese Gasse und durch den tiefen Graben der Alsbach der Donau zu.“

In wenigen Tagen, am 22. März, findet der alljährliche UN-Weltwassertag statt. Das weltweite Ereignis unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen steht heuer unter dem Motto „Accelerating Change“ („Beschleunigung des Wandels“). Dringliche Worte, die auf den Zusammenhang zwischen Klimakrise, Landnutzung und der elementaren Bedeutung von Wasser für Mensch, Fauna und Flora hinweisen. „Es muss gelingen“, ist auf der Website eines teilnehmenden Regierungspartners zu lesen, „die Resilienz des Wasserhaushalts zu stärken, zu viel und zu wenig Wasser zu managen und Wasser wieder verstärkt in der Fläche zu halten.“

Mammutprojekt

Welchen Beitrag dazu könnte etwa der ehemalige Alsbach leisten, der einst in Dornbach und Neuwaldegg entsprang und nach einer Umleitung im Hochmittelalter durch Hernals und weiter durch die heutigen Straßenverläufe von Währinger Straße, Schottentor, Herrengasse, Freyung, Tiefer Graben und Concordiaplatz plätscherte, ehe er am Werdertor in den Wiener Arm der Donau mündete? Und gibt es den Alsbach heute überhaupt noch?

„Insgesamt gibt es rund 50 Bäche, die im Wienerwald entspringen und die in früheren Zeiten in offener Führung durch Wien flossen“, sagt Renate Hammer, Leiterin des Institute of Building Research & Innovation (IBR&I). „Zahlreiche Straßennamen wie etwa Badgasse, Hofmühlgasse oder Alserbachstraße verweisen auf die einst große Präsenz der Wiener Wasserläufe.“

Allein, mit den Choleraepidemien Mitte des 19. Jahrhunderts wurden viele Bäche aus siedlungshygienischen und volksgesundheitlichen Gründen in künstliche Kanäle gefasst und verschwanden unter der Erde.

„Heute“, meint Hammer, „gehört dieses Problem der Vergangenheit an. Stattdessen haben wir ein neues Problem, nämlich ein stadtklimatisches und ressourcentechnisches, auf das wir dringend reagieren müssen.“ In Zusammenarbeit mit Kolleginnen und diversen Partnerinstituten arbeitet Hammer seit 2021 an einem umfassenden Forschungsprojekt unter dem Titel „ProBach“. Das vierjährige, vom Klima- und Energiefonds mit rund 530.000 Euro geförderte Mammutprojekt untersucht die Durchflussmengen und die unterirdischen Verläufe der Wienerwaldbäche und befasst sich mit der Frage, mit welchen rechtlichen, technischen und städtebaulichen Mitteln die historischen Gewässer wieder an die Oberfläche gebracht werden könnten.

„Die natürlichen Einzugsgebiete im Wienerwald sind bis heute vorhanden, doch spätestens an den Bebauungsrändern werden die Bäche ins Wiener Kanalisationsnetz eingeleitet. Damit geht das kostbare Wasser verloren“, so die Forscherin. Mehr noch: Anstatt es effizient zu nutzen, etwa für die Bewässerung von Stadtbäumen, belastet es die Kanalisation und verlangt zudem nach größeren Kanalquerschnitten. Das kostet Geld.

„Wir haben insgesamt 16 Wienerwaldbäche untersucht, nicht alle davon führen ganzjährig Wasser, doch am ergiebigsten erscheint der Alsbach mit einer kontinuierlichen Wassermenge von zumindest fünf Litern pro Sekunde“, sagt Florian Kretschmer vom Institut für Siedlungswasserbau, Industriewasserwirtschaft und Gewässerschutz, Boku Wien. „Das klingt nicht nach viel, aber selbst im heißen Sommer sind das mehr als 400 Kubikmeter Wasser pro Tag, die erst in den Kanal geführt und verschmutzt und in der Folge in der Kläranlage wieder gereinigt werden müssen. Das müssen wir hinterfragen!“

Stellt sich die Frage: Wie bekommt man das saubere Bach- und Regenwasser wieder aus dem Kanal heraus? „Es gibt in Europa einige gute Rohr-in-Rohr-Projekte, in denen das Reinwasser aus dem Kanal wieder entkoppelt wurde“, erklärt Philipp Stern, Junior Partner und Studienleiter am IBR&I, und nennt als Beispiele den Bründl- und den Einödbach in Graz, den Darmbach in Darmstadt, den Melaan in Mechelen und die Alna in Oslo. Die bislang umfassendste Erfahrung mit der Entkoppelung von Kanal- und Regenwasser hat die Stadt Zürich, die seit den 1980er-Jahren insgesamt 18 Kilometer Bachläufe rekonstruiert und sukzessive an die Oberfläche zurückgeholt hat.

Die Studie „ProBach“, die noch bis 2024 läuft und keineswegs die erste ihrer Art ist (es wurden in den letzten Jahren schon einige Studien beauftragt und durchgeführt, allerdings wurden diese von der Stadt Wien bislang unter Verschluss gehalten), analysiert die unterschiedlichen Bachrouten und kommt zum Schluss, dass der Als-, der Erbsen- und der Schreiberbach – mit einer Durchflussmenge von sieben bis zwölf Litern pro Sekunde an zumindest 300 Tagen im Jahr – ausreichend Wasser führen, um das Bachwasser über weite Strecken im Fluss zu halten.

Attraktive Räume

„Entlang der Bäche“, meint Magdalena Holzer, Stadtklimatologin bei Weatherpark, „könnte man Stauden und Sträucher pflanzen, Bäume setzen, mit großen Steinen arbeiten, verschattete Aufenthaltsbereiche schaffen und auf diese Weise vor allem für sozioökonomisch schwächer gestellte Menschen innerhalb der dicht verbauten Stadt attraktive öffentliche Räume schaffen.“ Aus zahlreichen Untersuchungen wisse man, dass mit großflächiger Beschattung und Verdunstungskälte durch Wasser die subjektiv empfundene Temperatur im Hochsommer um bis zu zehn Grad Celsius reduziert werden könne.

In der Inneren Stadt, am Alsergrund, in Ottakring und in Hernals gibt es großes Interesse an erlebbarem Wasser in der Stadt. Zur Diskussion standen bereits Wasserflächen, mobile Flussoasen und sogar ein offen geführter Schanibach. Auch Bernd Vogl, neuer Geschäftsführer des Klima- und Energiefonds, erklärt auf Anfrage des STANDARD: „Der eine oder andere neue Kilometer Gewässer in Wien wäre ein Beitrag zur Lebensqualität.“

Leider gab es für die Bestrebungen der Bezirke seitens Ulli Sima, der amtierenden Stadträtin für Innovation, Stadtplanung und vieles andere, vertraulichen Quellen zufolge bislang keine Unterstützung. Auch auf Anfrage des STANDARD reagiert sie skeptisch, steht für ein Gespräch nicht zur Verfügung, lässt über die Pressesprecherin der MA 45 (Wiener Gewässer) ausrichten, es gebe in Wien keine unterirdischen Bäche, die freigelegt werden können, denn diese seien Teil des Kanalsystems.

Die Forschungsergebnisse von „ProBach“ könnten dazu herangezogen werden, über ein resilientes, zukunftsfittes Wien nachzudenken. Und mit wissenschaftlich fundierter Forschungsarbeit den Gegenbeweis anzutreten. Dass es vielleicht doch geht. Beschleunigung des Wandels. Es braucht dringend ein Pilotprojekt.

6. März 2023 Der Standard

Margherita Spiluttini 1947–2023

Die Ausnahmefotografin trug dazu bei, dass Architekturfotografie als Kunstmedium anerkannt wurde

Ihre ersten Fotos waren radioaktive und radiologische Innenraumfotografien vom menschlichen Körper, wie sie selbst zu sagen pflegte. Margherita Spiluttini machte eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin und arbeitete in jungen Jahren in der nuklearmedizinischen Abteilung des Wiener AKH. Eines Tages begann sie, auch außerhalb des Krankenhauses zu fotografieren: Menschen, Momente, Landschaften, Stilllebenserien im eigenen Haushalt, Dokumentationsfotos der frühen Frauenbewegungen in Österreich.

In den 1980er- und 1990er-Jahren entdeckte sie ihre Liebe für das Gebaute. Nun ist Österreichs wichtigste Architekturfotografin 76-jährig in Wien verstorben. „Als ich begonnen habe zu fotografieren“, sagte Spiluttini einmal im Interview, „war die Branche traditionell und verkrustet. Fotografie als zeitgenössische Kunstform war ein Fremdwort.“ Spiluttini, aufgewachsen im Pongau, hatte schon früh mit bedrohlichen Bergen und technischen Eingriffen in die Natur zu tun, war geprägt von Rohbauten, Brückenpfeilern und Tunneleinfahrten. Sie fotografierte für die größten und bekanntesten Künstler und Architekten der Welt – unter anderem für Roland Rainer, Peter Zumthor, Aldo Rossi, Álvaro Siza Vieria, Tadao Ando, Sol LeWitt, James Turrell, Olafur Eliasson, Friedensreich Hundertwasser und war jahrelang Haus- und Hoffotografin für das Schweizer Büro Herzog & de Meuron.

Sie beteiligte sich an zahlreichen Biennalen in Venedig, war Vorstandsmitglied der Wiener Secession und lehrte an der Angewandten in Wien sowie an der Kunstuniversität Linz. „Ich liebe diesen Moment, wenn ich unter dem schwarzen Tuch meiner Plattenbodenkamera verschwinde“, sagte sie. „Das Bild auf der Mattscheibe steht am Kopf, alles ist seitenverkehrt, man schaut anders, irgendwie konzentrierter auf die Welt.“ 2014 schoss sie selbstständig das letzte Foto ihrer Karriere. 1995 war bei ihr Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert worden, seit 2006 war sie auf den Rollstuhl angewiesen, das Fotografieren wurde immer schwieriger.

Spiluttini trug dazu bei, dass das fotografierte Bauwerk heute als eigenständige Kunst anerkannt ist. Dafür wurde sie 2006 mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, 2016 mit dem Österreichischen Staatspreis für künstlerische Fotografie ausgezeichnet. Anfang Jänner verstarb ihr Lebensgefährte, der Architekt Gunther Wawrik, wenige Wochen später ist sie ihm nun an den Folgen ihrer MS-Erkrankung nachgefolgt.

Spiluttini hinterlässt ein unschätzbares Œuvre an 120.000 Diapositiven und Negativen, die sie zu Lebzeiten als Vorlass dem Architekturzentrum Wien übergab.

3. März 2023 Der Standard

Architekturfotografin Margherita Spiluttini gestorben

Die österreichische Autodidaktin hat dazu beigetragen, dass Architekturfotografie heute als künstlerisches Medium anerkannt ist

Ihre ersten Fotos waren radioaktive und radiologische Innenraumfotografien vom menschlichen Körper, wie sie selbst zu sagen pflegte. Margherita Spiluttini machte eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin und arbeitete in ihren jungen Jahren in der nuklearmedizinischen Abteilung des Wiener AKH. Eines Tages begann sie, auch außerhalb des Krankenhauses zu fotografieren: Menschen, Momente, Landschaften, Stilllebenserien im eigenen Haushalt, Dokumentationsfotos der frühen Frauenbewegungen in Österreich. In den 1980er- und 1990er-Jahren entdeckte sie ihre Liebe für das Gebaute, für das von Menschenhand Geschaffene. Nun ist Österreichs, wenn nicht sogar Europas wichtigste Architekturfotografin 76-jährig in Wien verstorben.

„Als ich begonnen habe zu fotografieren“, sagte Spiluttini einmal in einem Interview mit dem STANDARD, „war die Branche traditionell und verkrustet. Fotografie als zeitgenössische Kunstform war ein Fremdwort. Ja, es gab die Magnum-Fotos, die alle bewundert haben, aber die waren mir zu anekdotisch.“
Aus Hassliebe wurde Faszination

Spiluttini, Tochter eines Baumeisters, aufgewachsen im Pongau, hatte schon früh mit bedrohlichen Bergen und technischen Eingriffen in die Natur zu tun, war geprägt von Rohbauten, Brückenpfeilern und Tunneleinfahrten. „Es war eine Art Hassliebe“, sagte die Autodidaktin. „Eines Tages ist aus dieser Hassliebe eine tiefe Faszination geworden, eine Faszination für Architektur, die mich nie wieder losgelassen hat.“

Spiluttini fotografierte für die größten und bekanntesten Künstler und Architekten der Welt – unter anderem für Roland Rainer, Peter Zumthor, Aldo Rossi, Álvaro Siza Vieria, Tadao Andō, Sol LeWitt, James Turrell, Ólafur Elíasson, Friedensreich Hundertwasser – und war jahrelang Haus- und Hoffotografin für das Schweizer Büro Herzog & de Meuron. Sie beteiligte sich an zahlreichen Biennalen in Venedig, war Vorstandsmitglied der Wiener Secession und lehrte an der Angewandten in Wien sowie an der Kunstuniversität Linz.

Diagnose: Multiple Sklerose

„Ich liebe diesen Moment, wenn ich unter dem schwarzen Tuch meiner Plattenbodenkamera verschwinde“, sagte sie. „Das Bild auf der Mattscheibe steht auf dem Kopf, alles ist seitenverkehrt, man schaut anders, irgendwie konzentrierter auf die Welt.“ 2014 schoss sie selbstständig das letzte Foto ihrer Karriere. 1995 nämlich war bei ihr multiple Sklerose (MS) diagnostiziert worden, seit 2006 war sie auf den Rollstuhl angewiesen, das Fotografieren wurde immer schwieriger. „Ich hatte einen elektrischen Rollstuhl mit integrierter Stehfunktion. Und jetzt stellen Sie sich einmal diese Situation auf der Straße mit Kamerastativ und großem, schwarzem Tuch darüber vor! Gemeinsam mit meiner Assistentin habe ich am Ende schon oft lustige Blicke geerntet.“

Unschätzbares Œuvre

Margherita Spiluttini hat es geschafft, die Architekturfotografie in ihrer Wertigkeit zu heben. Sie hat dazu beigetragen, dass das fotografierte Bauwerk heute als eigenständige Kunst anerkannt ist. Dafür wurde sie 2006 mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, 2016 mit dem Österreichischen Staatspreis für künstlerische Fotografie ausgezeichnet. Anfang Jänner verstarb ihr Lebensgefährte, der Wiener Architekt Gunther Wawrik, wenige Wochen später ist sie ihm nun – aufgrund der Folgen ihrer MS-Erkrankung – nachgefolgt. Spiluttini hinterlässt ein unschätzbares Œuvre von 120.000 Diapositiven und Negativen, von 120.000 Blicken auf die Welt, die sie noch zu Lebzeiten als Vorlass dem Architekturzentrum Wien übergab.

25. Februar 2023 Der Standard

„Meine Häuser sind eine Heimat für Verletzlichkeit“

Der Münchner Architekt Peter Haimerl hat eine Vorliebe für kaputte Bauten und urbane Dysfunktionalitäten. Kommenden Samstag hält er einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On in Wien.

Standard: Sie gelten als einer der radikalsten Architekten im deutschsprachigen Raum. Sehen Sie das selbst auch so?

Haimerl: Selbstbeurteilung ist eine schwierige Sache. Ich empfinde mich nicht als radikal, aber ich mache eine Architektur, die bis an die Grenzen geht, die sich bemüht, Raum nicht nur als etwas Funktionales zu sehen, sondern immer auch als einen Gedankenraum mit sinnlichen, theoretischen und philosophischen Facetten. Und ja, ich will diese Facetten ohne Kompromiss in die Realität umsetzen.

Standard: Sie haben eine Vorliebe für Schuppen, Stallungen und kaputte Bauernhäuser – aber auch für ausgestorbene und verwahrloste Orte in der Stadt. Woher kommt diese Faszination?

Haimerl: Es ist wie immer im Leben: Gebrochene Charaktere und Lebensgeschichten Gezeichneter sind interessanter als alles, was glatt und eindimensional ist. Mich interessieren Gebäude, die Narben und Nahtoderfahrungen haben, die schon was durchgemacht haben. Es steckt in ihnen eine unverfälschte Wahrheit, die man auch auf die Jetztzeit übertragen kann.

Standard: Was genau können wir von kaputten Häusern lernen?

Haimerl: Die Verletztheit und Verletzlichkeit. Die meisten glauben, es geht in der Architektur um die perfekte Lösung, um die tollste Form, um das schönste Detail. Nein! Es geht darum, Räume zu schaffen, die Würde und Verständnis ausstrahlen und die eine Heimat bieten für die Verletzlichkeit in uns Menschen.

Standard:Ihre Projekte – ob nun Altbau oder Neubau – wirken an sich schon sehr archaisch und dramatisch. Dennoch werden die fertigen Häuser manchmal mit Kühen, Pferden und geheimnisvollen Frauen in Szene gesetzt. Wieso denn das?

Haimerl: Klassische Architekturfotografie langweilt mich zu Tode. Ich möchte über das klassische Bild hinausgehen. Bei der schwarzen Frau, die auf einigen Fotos zu sehen ist, handelt es sich um meine Frau Jutta Görlich, sie inszeniert die Räume gemeinsam mit dem Fotografen Edward Beierle. Dazu betreibt sie Geschichtsforschung zum Ort und zum Haus und verknüpft die Resultate mit Humor und Surrealismus.

Standard: Und dann steht plötzlich eine Kuh in der Badewanne.

Haimerl: Ja, das kann passieren. Dann ist die Badewanne eben nicht nur eine Badewanne, sondern auch ein Behältnis mit Geschichte.

Standard: Seit fast 30 Jahren beschäftigen Sie sich mit der sogenannten Zoomtown. Worum geht es da?

Haimerl: Das Konzept der Zoomtown habe ich schon in den 1990er-Jahren entwickelt. Bei Zoomtown geht es um Europa, denn wenn wir gegen die alten und neuen Supermächte wie USA, Russland, China und Indien kulturell überleben wollen, dann müssen wir damit anfangen, die europäischen Städte als großes Ganzes, als urbanes Kollektiv, als eine Art zusammenhängende Supermetropole zu betrachten: London, Paris, Berlin, Warschau, Madrid, Rom, Wien, Belgrad, Athen, Istanbul und so weiter. Ich bezeichne dieses Netzwerk als UME, als United Metropoles of Europe. Und diese UME sind gemeinsam stark genug, die Fehler der Moderne zu beheben und endlich wieder schöne, lebenswerte, auch menschlich funktionierende Städte daraus zu machen.

Standard: Von welchen Fehlern sprechen wir hier im Speziellen?

Haimerl: Vor allem davon, dass die amerikanische Moderne mit ihren Autos und Autobahnen wie ein Fremdkörper auf den europäischen Kontinent appliziert wurde und diesen in den letzten 70, 80 Jahren massiv verändert und verschlechtert hat. Die europäische Stadt hat seitdem vieles von ihrem historischen Charakter eingebüßt und ist zu einem scheinbar effizienten Straßenraum für individuelle, motorisierte Mobilität geworden. Doch die Wahrheit ist: Das Auto braucht viel Platz – und diesen vielen Platz nimmt es uns Menschen weg. Das müssen wir dringend wieder reparieren.

Standard: Wie?

Haimerl: Mit dem Verdrängen von Autos, mit dem Rückbau von Straßen, mit dem Entrümpeln und Entsiegeln des öffentlichen Raums und mit der Implementierung eines neuen paneuropäischen öffentlichen Verkehrsnetzes – einer Art Europa-Schnellbahn, die aber nicht nur bis zum Hauptbahnhof fährt, sondern bis in die wichtigsten Subzentren und Quartiere hineindringt.

Standard: Klingt gut. Aber wozu braucht es das?

Haimerl: Weil die europäische, historisch gewachsene Stadt ihre eigene Zukunft finden muss, wenn sie kulturell überleben will. Mit einer amerikanischen Moderne-Vision wird das nicht gelingen. Dass wir jetzt schon an die räumlichen und verkehrstechnischen Grenzen stoßen, zeigt sich in vielen europäischen Städten. Einige davon haben bereits begonnen, radikal umzudenken.

Standard:Das diesjährige Architekturfestival Turn On beschäftigt sich mit den geopolitischen Verwerfungen des letzten Jahres. Welche Auswirkungen hat das auf die europäische Stadt?

Haimerl: Das ist eine große Frage! Die Corona-Pandemie, die Energiekrise, der Krieg in der Ukraine und die politische Willkür Russlands haben dazu geführt, dass wir heute in einem Angstraum leben. Und ein solcher Angstraum lässt keine Visionen zu. Lieber flüchtet man ins Lokale, ins Regionale, ins Ruhige, ins Nostalgische, ins intellektuell und emotional gerade noch Fassbare. Es scheint jetzt nicht die Zeit für große Sprünge zu sein – obwohl wir gedanklich, technologisch und wirtschaftlich dazu imstande wären.

Standard: Was wünschen Sie sich?

Haimerl: Dass wir die Kraft der multiplen Krisen dazu nutzen, massiv umzudenken. Ich wünsche mir ein Bekenntnis zu einem Europa ohne Partikularinteressendebatten, ich wünsche mir ein architekturpolitisches und verkehrsräumliches Miteinander, und ich wünsche mir die sofortige Abschaffung von Kurzstreckenflügen.

Peter Haimerl (62) leitet ein Architekturbüro in München und beschäftigt sich mit der Revitalisierung alter Häuser sowie mit der Neuerfindung der europäischen Stadt. Von 2018 bis 2023 war er Professor an der Kunstuni in Linz. Am Samstag, den 4. März, hält er einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On.

Turn On

Die multiplen Krisen der letzten Jahre, allen voran der Krieg in der Ukraine und die Sichtbarwerdung von Abhängigkeiten und Fehlentwicklungen, machen auch vor dem Bauen und Wohnen nicht halt. Mit den konkreten Auswirkungen dieser Zeitenwende befasst sich das Architekturfestival Turn On, das kommende Woche bereits zum 21. Mal über die Bühne geht. Vorgestellt werden etwa das kürzlich eröffnete Parlament, der Ikea am Westbahnhof, das neue Wien-Museum, das Wohnprojekt The Marks, der Campus Tower Hamburg, diverse innovative Modelle im geförderten und freifinanzierten Wohnbau sowie ein Revitalisierungskonzept für Bad Gastein, das „Manhattan der Alpen“. Mit Vorträgen von PPAG, DMAA, feld72, gaupenraub +/–, Pedevilla, bergmeisterwolf, Ripoll Tizón, Sergison Bates, Peter Haimerl u. v. m. Beginn Donnerstag, 2. März, 14.30 Uhr. Bis Samstag, 4. März, 22 Uhr. ORF-Radiokulturhaus, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien. Eintritt frei.

11. Februar 2023 Der Standard

Die Herren L.O.M.O.

Im Gegensatz zu Schwestern haben Brüderpaare in der Architektur eine lange Tradition. Es gibt eine Menge von ihnen. Zum Beispiel Laurids und Manfred Ortner. Der eine in Wien, der andere in Berlin.

In der Seestadt Aspern gibt es einen Wohnbau namens Die drei Schwestern , die einzelnen Häuser heißen Anna, Bella und Clara. In der Architekturgeschichte wiederum werden historische Pionierinnen aus der Zeit der ersten hochschulausgebildeten Architektinnen und Ziviltechnikerinnen gerne als „Margarete Schütte-Lihotzkys Schwestern“ bezeichnet. Auffällig ist auch, dass Schwestern immer wieder als Auftraggeberinnen auftreten – es gibt Doppelhäuser für Schwestern in Wien (querkraft), Innsbruck (Paolo Pizzignacco), Zürich (raumfindung), Brixen (bergmeisterwolf), Kirchheim (Alexander Brenner), Bochum (Eigenentwurf) und in der spanischen Provinz Murcia (Blancafort Reus Arquitectura).

Abgesehen davon jedoch sind weibliche Geschwisterschaften in der Architekturzunft ein eher seltenes Phänomen. Was man von männlichen Geschwisterpaaren definitiv nicht behaupten kann. In den 1920er-Jahren zählten die Stuttgarter Brüder Heinz und Bodo Rasch zu den wichtigsten Vertretern der Moderne, in der Schweiz planten die Gebrüder Pfister eine Vielzahl öffentlicher Bauten, in Preußen hingegen arbeiteten Bruno und Max Taut eher aneinander vorbei als miteinander, und auch heute noch nehmen Brüder gerne zu zweit das Geodreieck in die Hand. Die Liste allein im deutschsprachigen Raum ist lang: Pedevilla Architekten, Marte.Marte, Najjar & Najjar, Chalabi & Chalabi, Brückner und Brückner, Innerhofer oder Innerhofer – oder etwa die beiden Architektenbrüder Laurids und Manfred Ortner, die inzwischen ein Riesenbüro mit 80 Mitarbeitern betreiben, der eine in Wien sitzend, der andere in Berlin.

Von O&O stammen viele zentrale, stadtprägende Bauwerke wie etwa das Wiener Museumsquartier, der Bürocluster Wien-Mitte, das Landesarchiv NRW in Duisburg, das Berliner Shoppingcenter Alexa, das Theater- und Kulturzentrum Schiffbau in Zürich, die Sächsische Landes-Staats- und Universitätsbibliothek in Dresden (übrigens eine der zehn größten der Welt) sowie weitere Wohn-, Büro- und Hotelbauten in ganz Deutschland.

Geboren und aufgewachsen sind die beiden in Linz, Laurids Jahrgang 1941, Manfred Jahrgang 1943. Schon in der Schulzeit zeichneten und malten beide gerne, spielten meist mit ihren Zinnsoldaten, denen sie mit Farbe Kleidung auf den Leib pinselten. Dazu wurden Flaggen entworfen, Schiffe gebaut und Häuser zusammengezimmert. Das brüderliche Spiel empfanden die beiden damals als eine Art kreative Rivalität: Man durfte sich voneinander Inspiration holen und es anders und besser machen, durfte den anderen mit seinen eigenen Waffen schlagen, nur eines war damals schon verpönt im Hause Klein Ortner: nachahmen und kopieren.

Texte, Bilder, Zeichnungen

Und so trennten sich die Wege nach der Matura: Während Manfred an der Wiener Akademie der bildenden Künste aufgenommen wurde, wo er Malerei und Kunsterziehung studierte, musste für Laurids eigens der Familienrat einberufen werden: Der arme Bub, grad noch durch die Schule gekommen, was soll nur aus ihm werden? Architektur an der TU Wien, so der Konsens, schien noch die beste aller Optionen.

In ihrer Studienzeit hatten L. O. und M. O. phasenweise nur wenige Berührungspunkte, holten sich beim anderen aber immer wieder Rat – und Inspiration. Und so entstanden einige Texte, Bilder, Zeichnungen und fiktive Raumentwürfe, die damals schon mit „L.O.M.O.“ signiert wurden. Laurids gründete mit seinen Kollegen Günter Zamp Kelp und Klaus Pinter die viel beachtete Architektur- und Kunstgruppe Haus-Rucker-Co, die international so erfolgreich war, dass Anfang der 1970er-Jahre gleich zwei Studios eröffnet wurden: eines in New York von Zamp Kelp und Pinter, das andere in Düsseldorf von Laurids – und Bruder Manfred, der 1971 in die Gruppe einstieg. Haus-Rucker-Co mischte in der Kunstszene der 70er und 80er kräftig mit. Die „Architekten-Künstlergemeinschaft“, so die Eigendefinition, war zum Beispiel bis zur endgültigen Auflösung 1992 dreimal auf der Documenta in Kassel vertreten.

Im Jahr 1987 beschlossen die Brüder, ein eigenständiges Architekturbüro zu gründen: Ortner & Ortner. Der Rest ist Architekturgeschichte und O&O in der Zwischenzeit ein Imperium mit Niederlassungen in Wien, Köln und Berlin. In ihren Büros: Bücher, Bücher, Bücher und tausende Materialmuster aus Holz, Glas, Beton, Metall und Keramik auf den Tischen. Wir haben L. O. und M. O. getrennt voneinander gefragt:

Architektenbrüder also, wie ist das so?

Was uns heute auszeichnet, nach nunmehr acht Jahrzehnten, das ist ein fast sprachloses Verständnis. Es ist alles schon tausendmal gesagt worden, wir kommunizieren mittlerweile nonverbal, und wir verstehen uns von Grund auf. Über all die kleineren Querelen, die es natürlich gibt, hinweg haben wir eine Art symbiotische Beziehung. Ich weiß nicht, ob ich das zwischen uns als Liebe oder Freundschaft bezeichnen würde, keine Ahnung. Auf jeden Fall aber ist es eine tiefe Verbundenheit, die sich sehr gut anfühlt. Die Rivalität der Kindheit hat sich in eine Differenzierung transformiert: Manfred ist der bessere Zeichner von uns beiden, und er ist auch derjenige, der einen organischeren Zugang im Denken und in der körperlichen Bewegung hat. Ich wiederum bin der Texter, der Stratege, der thematisch besser Aufgestellte. Ob er mir fehlt, wenn wir uns nicht sehen? Ich glaube nicht, es braucht eine gesunde Distanz, nur nicht aufeinanderpicken! Aber wenn wir uns sehen … ein Traum! Niemand bringt mich so zum Lachen wie er!

Was immer schon unser Trumpf war, in all der langen Zeit, ist das gegenseitige Vertrauen. Wir haben schon alle Phasen durchgemacht, von Konkurrenz und Rivalität über ein jahrelanges Nebeneinander bis hin zu einer gegenseitigen Stärkung und Inspiration. Heute hat unsere Beziehung einen so reichen Bodensatz, dass wir manchmal schon zig Schachzüge des anderen vorausdenken können. Und obwohl wir eh schon wissen, was der andere sagen wird, ist uns seine Meinung immer noch wichtig. Wir sind Sparringspartner füreinander. Manchmal fliegen die Fetzen, Laurids ist der schärfste Kritiker, den man sich vorstellen kann, er bringt immer eine zusätzliche Perspektive rein, er denkt und formuliert mit Worten wie ein Schwert. Dafür bin ich derjenige, der den Laden zusammenhält und sich kommunikativ einbringt, ich bin einer, der Dinge erledigt. Es funktioniert gut an zwei Orten, er in Wien, ich hier in Berlin. Wenn wir uns nicht sehen, vermisse ich ihn. Wenn wir uns dann sehen … was wir lachen können!

21. Januar 2023 Der Standard

SOS Gründerzeit

Teil 1 Immer mehr Gründerzeithäuser werden abgerissen. Mit der zunehmenden Zerstörungswut verändert sich auch das Stadtbild. Was heißt das für Wien? Fünf Protokolle.

Gründerzeit? Eine endliche Ressource!

„Die Wiener Gründerzeit ist image- und stadtbildprägend. Mit diesen Bildern sind wir alle aufgewachsen. Mit dem Weiterwachsen der Stadt und mit dem zunehmenden Verwertungsdruck der Immobilienwirtschaft jedoch wird uns allmählich klar, dass die gründerzeitliche Substanz eine endliche Ressource ist.

Der Abbruch eines nicht denkmalgeschützten Hauses und das Füllen einer solchen Baulücke mit einem modernen Wohnbau, der den heutigen Bedürfnissen und der Nachfrage am Markt entspricht, ist im Einzelfall absolut legitim. In der Summe aber müssen wir anerkennen, dass uns ein Stück der Wiener Identität, die auch im Tourismus eine große Rolle spielt, zu verschwinden droht.

Was tun? Mein Begehr ist ein gutes Nebeneinander aus Alt und Neu. Dazu muss man die baukulturelle Qualität im Neubau nach oben heben. In den meisten Fällen lässt diese nämlich zu wünschen übrig. Auch in der Gründerzeit war nicht alles eitel Wonne – mit dem Unterschied allerdings, dass es ein Bewusstsein für Ensembles, für Stadtbilder und für eine gesamtstädtische Verantwortung gab.“

Peter Payer ist Stadtforscher und Stadthistoriker in Wien.

Ästhetik hat im Neubau keinen Stellenwert

„Nicht nur in Wien, auch in anderen Städten bin ich viel unterwegs und beobachte, wie sich die gebaute Stadt verändert. An vielen Orten gelingt es, den Neubau in die historische Stadt so einzuweben, dass zwischen Alt und Neu eine gewisse Balance entsteht. Man nimmt Rücksicht auf Farbe, Material, Geschoßhöhe und Fensterproportionen.

In Wien hat Ästhetik im Neubau keinen Stellenwert. Entweder haben Architekten ein ästhetisches Empfinden, das nicht der breiten Masse entspricht, oder aber die Bauherren, Investorinnen und Wohnbauträger weigern sich, Geld in eine ansprechend gestaltete und im menschlichen Maßstab gegliederte Fassade zu investieren. Natürlich, der gründerzeitliche Stuck war meist vorgefertigt, hört man immer wieder als Kritik, die reinste Katalogware. Na und? Die heutigen Häuser bestehen auch aus vorgefertigten Elementen. Wo ist da der Unterschied?

Das neue Wien fühlt sich an, als würden Laien, Architektinnen und Bauherren in unterschiedlichen Welten leben. Ich wünsche mir mehr Schönheit an den Fassaden und gestalterische Mindeststandards, die ein Wohnhaus im gründerzeitlichen Wien erfüllen muss. Die Stahlbetonkisten mit ihren Vollwärmeverbundsystemen machen die Stadt kaputt.“

Georg Scherer betreibt seit 2018 den Blog wienschauen.at.

2,50 Meter hohe Erdgeschoße sind ein No-Go

„Nicht jedes Haus, das in der Gründerzeit erbaut wurde, ist auch wirklich schützenswert. In Summe aber bietet die gründerzeitliche Bausubstanz Qualitäten, die der gewerbliche Wohnbau der jüngeren Zeit leider nicht mitbringt. Das merkt man auch im Stadtparterre der historischen Bestandsstadt: Früher gab es im Erdgeschoß in den sogenannten G’wölben ein reges Leben mit Handel, Gastronomie und produzierendem Gewerbe.

Das ist heute anders. Die meisten Neubauten bestehen im Erdgeschoß aus Haustor, Garageneinfahrt und Zugang zum Müllraum. Dazwischen parken hunderttausende Autos. Damit ist das Erdgeschoß vielerorts monoton und unbelebt. Die wenigen Erdgeschoßlokale, die man findet, stehen entweder leer oder werden als gewerbliche Storage-Räume genutzt, was aber auch nicht unbedingt zu einer Belebung des Erdgeschoßes beiträgt.

In den 1990er-Jahren haben sich viele Kreative und Architekturbüros im Erdgeschoß eingemietet. Heute findet man immer häufiger Arztpraxen und Zahnärztinnen. Die Möglichkeiten müssen dringend ausgeweitet werden! Denn das Erdgeschoß ist eine Raumressource für künftige Nutzungen, die wir uns heute vielleicht nicht einmal noch vorstellen können. Das heißt: 2,50 Meter Raumhöhe im EG ist ein No-Go.“

Angelika Psenner ist Professorin für Stadtstrukturforschung an der TU Wien.

Auf der Suche nach der gemeinsamen Sprache

„Um Klartext zu sprechen: Nicht nur die heutigen Baulückenhäuser, auch viele Gründerzeithäuser waren gewerblich errichtet, gewinnorientiert, bodenausnutzend, dichte Burgen mit geringem Lebenskomfort. Kein Unterschied also zum heutigen neoliberalen Neubau.

Mit einem Unterschied aber: Damals gab es so etwas wie eine gemeinsame Sprache, die innerhalb der Regeln Variationen zuließ. Der Charakter einer Straße wurde durch den Takt rhythmisiert: Baulinie, Putzfarben, Fenstergiebel, Kordongesimse. Damit blieb das einzelne Haus – trotz seiner individuellen Züge – stets in ein verbindliches Stadtbild eingebunden.

Heute gewinnt man manchmal den Eindruck, als hätten die Häuser mit ihren Nachbarbauten und der Straße, in der sie stehen, nichts zu tun. Zwar ist in der heutigen Bauordnung immer noch vom „Stadtbild“ die Rede, aber die Verbindlichkeit eines solchen Bildes ist Geschichte. Dem gewinnorientierten, gewerblich errichteten Neubau, der steif dasteht und sich auf seine vielleicht schillernde Fassade verlässt, fehlen diese Qualitäten.

Ich wünsche mir mehr Wandlungsfähigkeit, mehr kleinmaßstäbliche Nutzungsvielfalt und mehr Augenmerk auf den Kontext – ohne Heraufbeschwören alter Zeiten, die auch damals nicht rosig waren.“

Gabriele Kaiser ist Architekturhistorikerin in Wien und Linz.

Eine schöne Fassade ist kein Verbrechen

„Wir rechnen heute mit einem Lebenszyklus von 50 Jahren. Die gründerzeitlichen Häuser haben schon 120 Jahre auf dem Buckel, wären nach heutigen wirtschaftlichen Gesichtspunkten also schon doppelt abgeschrieben, stehen aber immer noch da. Den Gebäuden scheint eine Qualität innezuwohnen, die sie überlebensfähig macht. Mit diesem historischen Kapital zu arbeiten und die Stadt in ihrem Charakter weiterzubauen ist unser aller Verantwortung, denn die Qualität der gründerzeitlichen Stadt ist, sobald sie einmal zerstört ist, unwiederbringlich verloren.

Egal, ob wir bei Hild und K neu bauen oder sanieren: Wir verstehen unsere Arbeit als Bauen im Bestand, denn im städtischen Kontext ist man immer von Bestand umgeben. Wir kennen, wenn es um Schönheit an der Fassade geht, keine Tabus. Wir arbeiten gerne mit Humor, mit Zitaten, mit Ornamenten, mit der Freiheit der Transformation. Zudem sind manche Qualitäten – wie etwa eine lebendige Erdgeschoßzone und eine ästhetische und hochwertige Fassade – unverzichtbar.

Abbrüche und Neubauten, die einzig und allein ökonomisch motiviert sind und alle anderen Aspekte ignorieren, sind aus baukultureller und ökologischer Sicht abzulehnen. Diese Abrisse müssen gestoppt werden.“

Matthias Haber ist Partner bei Hild und K Architekten in München und Berlin.

Lesen Sie nächste WocheTeil 2: Zerstörung im ländlichen Raum

24. Dezember 2022 Der Standard

Kann denn Kirche Sünde sein?

Direkt neben dem Ceaușescu-Palast in Bukarest wächst die orthodoxe Nationalkathedrale in den Himmel. Das Projekt bricht sämtliche Weltrekorde – aber auch die Grenzen von Ethik und Angemessenheit.

Letzte Nacht hatte ich einen Traum“, singt Dan Teodorescu, Komponist und Frontman der rumänischen Band Taxi. „Ich ging morgens in die Kathedrale, um nach Gott Ausschau zu halten, aber ich fand ihn nicht, obwohl ich sogar in den Mehrzweckräumen, in den zwölf Aufzügen und in der Tiefgarage nach ihm suchte. Kein Wunder, dass man ihn nicht findet, auf einer Fläche von elf Hektar Land.“

Im Refrain des 2016 erschienenen Chansons Despre Smerenie („Über die Demut“) stimmen schließlich knapp 70 rumänische Promis mit ein, darunter etwa Sänger, Künstlerinnen, Architektinnen, Schriftsteller, TV-Moderatoren, Sportlerinnen und Schauspieler aus Film und Bühne. Gott wird nicht zu finden sein, singen sie, zumindest nicht hier in der neuen Nationalkathedrale, die sich derzeit in Bau befindet, sondern ganz woanders, vielleicht in einer kleinen Holzkirche irgendwo oben auf einem Hügel. 67-mal ist der Refrain zu hören: „Ich glaube, Gott bevorzugt Holz, Holz und kleine Räume.“

Der Bau der neuen rumänisch-orthodoxen Nationalkathedrale (Originalwortlaut Catedrala Mântuirii Neamului Românesc, Kathedrale der Erlösung des rumänischen Volkes) schlägt seit Anbeginn schon Wellen der Empörung. Der Wunsch nach einem riesigen Gotteshaus in der Hauptstadt ist rund 130 Jahre alt und geht auf den rumänischen König Karl I. zurück. Nachdem der über zweieinhalb Jahrzehnte machthabende kommunistische Diktator Nicolae Ceaușescu in seiner Amtszeit ganze Bukarester Stadtviertel – darunter auch eine Vielzahl von Kirchen – hatte abreißen lassen, nahm die Idee nach seinem Tod am 25. Dezember 1989 erneut Fahrt auf.

Erfahrung mit Shoppingmalls

Drei unterschiedliche Standorte standen jahrelang zur Diskussion, wurden von der Stadtregierung aufgrund der Ortsunverträglichkeit jedoch immer wieder abgelehnt. 2010 schließlich konnten sich Staat und Kirche einigen und beschlossen, die neue Nationalkathedrale direkt neben dem Ceaușescu-Palast, dem heutigen Palatul Parlamentului, zu errichten. Aus einem nationalen Wettbewerb ging Augustin Ioan, Architekt und Professor an der Ion-Mincu-Universität für Architektur und Stadtplanung (UAUIM), mit seinem Team an Studierenden als Sieger hervor.

Doch so weit sollte es nicht kommen. Das Projekt wurde gestoppt, stattdessen erteilte das rumänisch-orthodoxe Patriarchat, das bei diesem Mammutprojekt als Bauherr fungiert, einen Direktauftrag an das Ingenieurbüro Vanel Exim S.R.L., das mit Bahnhöfen, Krankenhäusern und zahlreichen Shoppingmalls im ganzen Land bereits reichlich Erfahrung im großmaßstäblichen Bau sammeln konnte. Und die ist hier vonnöten, denn mit 127 Meter Höhe und 127 Meter Länge ist die Nationalkathedrale die größte orthodoxe Kirche Europas. Die 407 Quadratmeter große Ikonostase aus Millionen goldenen Mosaiksteinchen fand sogar den Weg ins Guinness-Buch der Rekorde.

„Es gibt für die Kathedrale kein historisches Vorbild, denn in diesen Dimensionen sind Kirchen im orthodoxen Christentum nicht verankert“, sagt die Bukarester Architektin Adina Buzea. „Die Elemente, die hier verwendet wurden, sind entweder eine Weiterentwicklung und Neuinterpretation von römisch-katholischen Kirchen oder aber eine Vergrößerung und Aufblasung orthodoxer Versatzstücke bis zu einem Maßstab, der einfach nur lächerlich und übertrieben wirkt.“

Kritisch sieht Buzea nicht nur die Architektursprache, sondern das Projekt an sich: „Aufgrund budgetärer Engpässe wurden in Rumänien in den letzten Jahren etliche Krankenhäuser geschlossen. Das Land ist mit Gesundheitseinrichtungen chronisch unterversorgt. Für eine Kirche in diesen Dimensionen aber ist das Geld da.“ Kolportierte Baukosten: 185 bis 300 Millionen Euro. Das Grundstück an der Ecke Calea 13 Septembrie und Strada Izvor, direkt neben dem Ceaușescu-Palast, wurde der – per Verfassung wohlgemerkt steuerbefreiten – Kirche kostenlos zur Verfügung gestellt.

Das Bild im städtischen Gefüge ist grotesk. Inmitten eines sechs- bis achtspurigen Straßenrings, fernab von U-Bahn und infrastrukturellen Einrichtungen entstehen ein Gotteshaus für 7000 Besucher, ein steinerner Vorplatz mit beheizten Stufen und eine unterirdische Garage mit hunderten Pkw-Stellplätzen. Auf den Renderings am Bauzaun ist kein einziges Stückchen Grün zu sehen. Stattdessen überall Marmor, Beton und gülden glitzernde Kuppeln. Oder, wie dies der einstige Wettbewerbssieger Augustin Ioan in einem Interview formuliert: „Was hier entsteht, sieht alt und neu zugleich aus. Das ist Mittelmaß, korrupter Zynismus, Eitelkeit ohne Konsequenz. Dieses Projekt ist eine einzige Sünde.“

Constantin Amâiei, Architekt im Planungsbüro Vanel Exim, hat vom Patriarchat einen Maulkorb verpasst bekommen und darf sich zum eigenen Projekt nicht äußern und keine Informationen zur Verfügung stellen. Das Patriarchat wiederum lehnt jedes Medieninterview ab und schickt stattdessen per Mail einen Haufen Links zu selbstherrlichen Artikeln auf der Website der orthodoxen Nachrichtenagentur, basilica.ro. Da erfährt man unter anderem, dass das Geläut in der Innsbrucker Glockengießerei Grassmayr hergestellt wurde. Mit 25 Tonnen Gewicht und 3,35 Meter Durchmesser handelt es sich dabei um die größte Schwingglocke Europas. Guinness-Buch der Rekorde.

Quantität statt Qualität

„Die Nationalkathedrale ist die Summe von Macht und Weltrekorden, sie ist ein Symbol für die Kohabitation von Staat und Religion“, sagt Ștefan Simion, Associate Professor für Architektur an der Ion-Mincu-Universität sowie Herausgeber des architekturtheoretischen, zeitkritischen Magazins Mazzocchioo. „Es geht um Quantität und nicht um Qualität, die architektonische und baukulturelle Leistung liegt fast bei null. Leider wurde diese Kirche ohne Rücksicht auf die Stadt, auf ihre Menschen und ihre Bedürfnisse errichtet. Das Resultat ist eine Art Disneyland, nur viel böser.“

Am Nachmittag geht der Schichtbetrieb zu Ende. Die Bauarbeiter stellen die Helme ins Regal und steigen in dutzende Busse ein, die auf dem Parkplatz stehen. An der Karosserie große Klebebuchstaben, geschwungener Schriftzug, Basilica, Abfahrt im Konvoi. Geplante Fertigstellung: 2025. Dann startet die Suche nach Gott.

10. Dezember 2022 mit Maik Novotny
Der Standard

„Alles ist so ernst geworden“

Am 13. Dezember feiert Wolf Prix seinen 80. Geburtstag. Dem ΔTANDARDerzählt er, wofür er heute brennt, warum er es für blödsinnig hält, die Bauwirtschaft als CO2 -Sünderin hinzustellen, und wie es ist, für Autokraten zu bauen.

STANDARD: In Ihren jungen Jahren haben Sie gesagt: „Architektur muss brennen.“ Muss sie das, wenn man 80 ist, immer noch?

Prix: Freilich! Die meisten glauben, dass wir wirklich Feuer legen wollen, aber das wollen wir natürlich nicht. Im übertragenen Sinne muss Architektur aber auf jeden Fall Emotionen erzeugen.

STANDARD: Was wurde aus den „jungen Wilden“, wie Sie sich damals genannt haben? Wird man zu einem alten Wilden? Oder doch zu einem jungen Gemäßigten?

Prix: Heute bin ich gelassener. Ich ärgere mich nicht mehr über unsere Fehler und die Fehler der anderen, sondern ich ärgere mich gar nicht mehr, ich lache gerne. Allerdings wurde früher mehr gelacht, die Architekten waren lustiger und frecher, die Medien waren provokant, die Gesellschaft war offener. In den letzten Jahren ist alles ernst geworden, man versteht keinen Spaß mehr. Vielleicht liegt das auch an den Architektenverträgen, die immer dicker und umfangreicher werden.

STANDARD: Die Rolling Stones galten früher als Rebellen, heute füllen sie Stadien für die ganze Familie. Auch Sie waren ein frecher Rebell, heute bauen Sie für Zentralbanken und Regierungen. Sehen Sie hier Parallelen?

Prix: Kann sein, dass es hier tatsächlich Parallelen gibt. Auch die Karriere eines bauenden Architekten wandelt sich mit der Zeit. Stellen Sie sich vor, ich würde heute das Gleiche planen wie 1968, als wir mit unseren Gedankenräumen eine neue Lebensweise wecken wollten. Das ist heute unvorstellbar! Beim Bauen und Realisieren und mit dem Älterwerden geht man mit der Kraft ökonomischer um. Um diese Erfahrung kommt man nicht herum.

STANDARD: Gemeinsam mit Ihren Zeitgenossen – mit Zünd-Up, Missing Link und Haus-Rucker-Co – haben Sie in den 1960er-Jahren an der Verbesserung der Welt gearbeitet. Was wurde aus den damaligen Visionen?

Prix: Ich sage gerne, dass wir verloren haben. Die Idee der optimistischen Gedankengebäude war nicht durchsetzbar. Der Unterschied ist nur, dass wir damals das zukünftige Leben völlig neu definiert haben! Heute ist die Lebensqualität einer Stadt nichts anderes als ein neues Biedermeier: Rückzug in die Ego-Privatheit, Rückzug aus dem öffentlichen Raum, Rückzug in die Gemütlichkeit, auf dem grünen Balkon im Liegestuhl sitzend, mit einer Flasche Bier in der Hand, die romantische Scheinrealität einer grünen Stadt. Wo sind die zukünftigen innovativen Lebenskonzepte?

STANDARD: Heute reden wir über Ressourcenschonung. Die Bauwirtschaft steht als CO2 -Sünderin am Pranger.

Prix: Oje, schon wieder diese blödsinnige Feststellung.

STANDARD: Wissen Sie, wo der Stahl für Ihre Museen und Konferenzzentren herkommt?

Prix: Nein, das weiß ich nicht. Muss ich auch nicht. Aber ich mag diese Diskussionen nicht. Denn wenn wir von Materialverschwendung sprechen, dann müssen wir schon die Architekturindustrie mit der Waffenindustrie vergleichen. Wir bauen Waffen aus Unmengen von Stahl, die nur einen einzigen Zweck haben: Zerstörung. Und wir bauen Kampfflugzeuge, wovon eines so viel kostet wie das Musée des Confluences in Lyon, und nach spätestens fünf Jahren wird es abgeschossen. Das müssen wir vergleichen! Vergleichen wir doch den CO2 -Ausstoß des Kriegs in der Ukraine mit dem CO2 -Ausstoß von unseren Kulturbauten auf der Krim. Darüber müssten wir sprechen!

STANDARD: Ihre größten und wichtigsten Projekte haben Sie stets im Ausland realisiert, zuletzt vor allem in China. Aktuell bauen Sie in Russland und auf der Halbinsel Krim. 1998 haben Sie in einer Rede in Wien gesagt: „Autoritäre Systeme vertragen keinen Ungehorsam.“ Wie verträgt sich das?

Prix: Es kommt nicht darauf an, für wen oder wo wir bauen, sondern was wir bauen. Was Russland betrifft, so habe ich alles Relevante schon im Spiegel -Interview gesagt. Außerdem sind wir jetzt von der EU sowieso sanktioniert. Wir dürfen nicht mehr für Russland arbeiten – ein demokratisches Arbeitsverbot. Alle Aufträge, die wir in Arbeit haben, Hochhäuser, Theater, Schulen und Kulturzentren, können wir wegwerfen. Toll!

STANDARD: Auf der Krim nach 2014 zu bauen dient der Legitimierung einer völkerrechtswidrigen Annexion. Sehen Sie das anders?

Prix: Wir hatten auf der Krim nie ein Arbeitsverbot, denn Kulturbauten waren von den Sanktionen ausgenommen. Aber ja, nun müssen wir auch dieses Projekt stoppen. Ein Freund von mir hatte auf der Krim eine Fabrik für Maschinenteile und wurde ebenfalls sanktioniert. Wer, glauben Sie, hat diese Lieferungen übernommen? Ein Amerikaner! Also hören Sie mir auf mit den moralischen und angeblich politischen Darstellungen ...

STANDARD: Die meisten und größten Ihrer Aufträge kommen von autokratischen Regimen. Was macht das mit Ihnen?

Prix: Gar nix. Gegenargument: Ich habe Sympathie für eine Gesellschaft, demokratisch oder autokratisch, die sich erlaubt, auf einen Schlag in sieben Städten Kulturzentren zu bauen. Bei uns heißt es nur: Brauchen wir nicht! Es wird gerne vergessen, dass auch ein François Mitterrand autokratisch entschieden und zahlreiche Großprojekte beauftragt hat. Und ganz ehrlich: Es macht keinen Unterschied, ob man für Autokraten oder für Turbokapitalisten baut. Für Autokraten ist es sogar etwas angenehmer, weil sie nicht jeden Cent berechnet haben wollen, um zu wissen, wie viel sie mit einem Projekt verdienen.

STANDARD: Welche Auswirkungen haben die Russland-Sanktionen auf Ihr Büro?

Prix: Wir arbeiten nun für einen anderen Autokraten und sitzen mit all jenen, die gesagt haben, dass sie für Russland nicht mehr arbeiten wollen, Schulter an Schulter in Saudi-Arabien. Dort planen wir alle an der 170 Kilometer langen Linearstadt Neom. Das ist eine der radikalsten Stadtplanungsideen, eine Mischung aus Le Corbusier und Superstudio.

STANDARD: Im Rückblick auf mehr als 50 Jahre Schaffen: Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?

Prix: Auf drei Dinge: auf den Dachbodenausbau in der Wiener Falkestraße, auf das Musée des Confluences in Lyon und auf das Mocape-Museum in Shenzhen, weil ich bei diesem Projekt Piranesi am nächsten gekommen bin.

STANDARD: Am 13. Dezember werden Sie 80. Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?

Prix: Weiß ich nicht. Das ist ein Tag wie jeder andere. Das ganze Drumherum ist mir völlig egal. Aber ich weiß, dass ich nicht noch weitere 80 Jahre vor mir habe. Und dass ich gewisse Dinge nicht mehr erleben werde, von denen ich als junger Architekt dachte, ich würde sie noch erleben. Zum Beispiel die Projekte in Russland. Oder dass ich noch lerne, Keith Richards Riff in Gimme Shelter spielen zu können.

STANDARD: Gibt es einen Wunsch für die Zukunft?

Prix: Ich habe immer noch den Wunsch, dass wir die großen Probleme der Welt mit Wissen und Optimismus lösen können – und dabei nicht vergessen zu lachen.

STANDARD: Wofür brennt Wolf Prix heute?

Prix: Für die Möglichkeit, Architektur zu bauen, die beweist, dass wir mit manchen Aussagen recht gehabt haben könnten. Und trotzdem: Jeder hat recht, aber nichts ist richtig.

Wolf Dieter Prix, geboren am 13. Dezember 1942 in Wien, gründete 1968 mit Helmut Swiczinsky und Michael Holzer das Büro Coop Himmelb(l)au, das er seit 2001 allein leitet. Er zählt zu den wichtigsten Vertretern des Dekonstruktivismus.

3. Dezember 2022 Der Standard

Anti-Asphalt-Manifest

Alle reden von Entsiegelung. Doch keiner tut es. Wie genau müsste man so etwas in Angriff nehmen? Eine Handlungsanleitung anhand der Wiener Kirchengasse. Leider nur eine Utopie. Oder doch nicht?

1. Der grüne Traum

Eine Klatschmohnwiese wie bei den Fernsehbienen Willi und Maja, damals in den Siebzigern, mit allerlei buntem Gestrüpp und Geblüm, mit Viecherln und Insekten, ja sogar ein Eichhörnchen hat den Weg hierher gefunden und hält auf einer der aufgebrochenen Asphaltschollen nun Ausschau nach Nussigem. „Wir träumen von einem richtigen Urban Jungle“, sagen Christian Kircher, Philipp Buxbaum und Viola Habichel, die in der Kirchengasse 23, siebter Wiener Gemeindebezirk, aktuell eine Beton- und Asphaltwüste, das Büro Smartvoll Architekten leiten. „Gerade in der gründerzeitlichen Stadt, die nur wenig Grün zu bieten hat, wäre so eine Entsiegelung ein Beitrag für mehr Lebensqualität und ein besseres, erträglicheres Stadtklima.“ Alles nur ein Traum? „Es reicht ein Blick auf die U-Bahn-Baustelle U2 und U5. Wenn der Wille da ist, geht alles.“

2. Die graue Wahrheit

Österreich ist Versiegelungseuropameister. Pro Minute werden 80 Quadratmeter Boden versiegelt, das sind 11,5 Hektar pro Tag, 42 Quadratkilometer pro Jahr. Mit anderen Worten: Jahr für Jahr wird in Österreich Grünland in der Größe von Eisenstadt zubetoniert und mit Asphalt zugegossen. Die dringend benötigte Produktion von Wohnraum in städtischen Ballungsräumen lässt die Entwicklung nicht abflachen. Vom politischen Ziel, den Flächenverbrauch bis 2030 auf 2,5 Hektar pro Tag zu reduzieren, sind wir Lichtjahre entfernt. Was tun? In Anlehnung an das Wiener Baumschutzgesetz, demnach für jeden gefällten Baum ein Ersatzbaum zu pflanzen ist, könnte man einen Eins-zu-eins-Tausch für Versiegelung und Entsiegelung gesetzlich verankern. In Anbetracht der dramatisch zunehmenden Klimakrise fragt man sich, warum diese Diskussion nicht schon längst geführt wird.

3. Die Standortsuche

In mikroklimatischer Hinsicht ist jede einzelne Straße für eine Entsiegelung geeignet. Durch den Wegfall von massiven Baustoffen, durch die Verdunstungskälte der Pflanzen (Evapotranspiration) und nicht zuletzt durch die Verschattung mittels Bäumen würde selbst das kleinste Gasserl von einem Asphaltabbruch profitieren. In stadtklimatischer Hinsicht eignen sich für eine Entsiegelung vor allem größere, zusammenhängende Grünbänder, die im Idealfall in die heißesten Urban-Heat-Islands hineingeschlagen werden – im Falle von Wien also im Bereich der Innenbezirke und entlang des Westgürtels. Einen noch höheren Effekt erzielt man durch die Entsiegelung von West-Ost-Kaltluftschneisen: Auf diese Weise könnte die frische Wienerwald-Luft aus dem Westen durch begrünte Kanäle noch schneller, noch kühler, noch effizienter bis in die Innenstadt vordringen.

4. Das Entsiegelungs-Einmaleins

Ein klassischer Straßenaufbau misst rund 70 Zentimeter. In der historischen Stadt jedoch sind die historisch gewachsenen Aufbauten oft bis zu zwei, drei Meter dick. Hinzu kommen zahlreiche Einbauten für Strom, Telefon, Glasfaser, Gas, Wasser, Abwasser und Fernwärme, die im Falle einer Entsiegelung verlegt oder zumindest geschützt werden müssten. Anbieten würde sich dafür eine Bündelung aller Installationsleitungen in sogenannten Kollektorgängen, wie sie in einigen Städten weltweit bereits Standard sind. Nachdem der unter einer Versiegelung befindliche Boden biologisch und chemisch betrachtet tot ist, müsste der Bodenaufbau komplett neu komponiert werden. Denn: Nur ein gesunder, lebendiger Boden trägt zur Klimaregulierung bei und ist in der Lage, mit einer biodiversen Fauna und Flora Wärme zu puffern und Wasser zu speichern.

5. Die technischen Gefahren

Technisch betrachtet ist die Stadt – mit Ausnahme von grünen Plätzen und Parkanlagen – ein versiegeltes Bauwerk, das über ein komplexes, künstlich angelegtes Kanalsystem entwässert wird. Reißt man die Versiegelung an einer x-beliebigen Stelle auf, ist es, als würde man in der Badewanne den Stöpsel ziehen. Gar nicht gut. Damit die entsiegelte Fläche also nicht unkontrollierbare Regenwassermengen abbekommt, müssen Topografie und Beschaffenheit der angrenzenden Häuser und Dachflächen sowie die Retentions- und Entwässerungskonzepte genau überprüft werden. Die angrenzenden Hausfassaden und Kellerwände müssten – wie bei einem Einfamilienhaus auf der grünen Wiese – mit Abdichtungen und Drainagen ertüchtigt werden.

6. Die juristische Hürden

Die größte Herausforderung jedoch liegt nicht in der Bautechnik, sondern in den hochkomplexen magistratischen Strukturen: Um einen so starken Eingriff ins Straßensystem zu ermöglichen, müssten nach Auskunft von Experten rund 20 Wiener Magistratsabteilungen ihr Einverständnis geben – darunter etwa die Abteilungen für Stadtteilplanung und Flächennutzung (MA 21), Straßenverwaltung und Straßenbau (MA 28), Baupolizei (MA 37), Wiener Stadtgärten (MA 42) sowie Bau-, Energie-, Eisenbahn- und Luftfahrtrecht (MA 64). Hinzu kommen die Okays von weiteren Stellen wie etwa Wiener Netzen, Wien Kanal und Feuerwehr, vom jeweils zuständigen Bezirk sowie vom Wiener Planungsdirektor Thomas Madreiter, vom Stadtbaudirektor Bernhard Jarolim sowie von der amtierenden Planungsstadträtin Ulli Sima.

7. Die Moral von der Geschicht

Die Entsiegelung bereits versiegelter Verkehrsflächen ist technisch und juristisch möglich – wenn auch mit hohem baulichem Aufwand und einem Höllenritt durch die Magistrate. Zudem muss der tote, kontaminierte Boden – wie beim Rudolf-Bednar-Park (Nordbahnhof) oder Helmut-Zilk-Park (Sonnwendviertel) – abtransportiert und durch neues, gesundes Substrat ersetzt werden. Eine günstigere Alternative ist die punktuelle Begrünung und Bepflanzung mit Schwammstadtbäumen oder kompakten Street-Trees, die auf einer Fläche von nur einem Pkw-Stellplatz ihr Auslangen finden. Wasserreserven sind genug vorhanden. Aktuell versickern in Wien lediglich sieben Prozent des Regenwassers im Untergrund, 93 Prozent müssen über Kanäle abgeleitet werden. Das ist teuer, aufwendig und stadtklimatisch unvernünftig. Fakt ist: Die zubetonierte Stadt in ihrer heutigen Form ist nicht zukunftsfähig. Wir müssen unsere Zukunftsbilder neu malen.

Der Artikel entstand in enger Zusammenarbeit mit Christian Kircher, Philipp Buxbaum und Viola Habichel (Smartvoll Architekten), Daniel Zimmermann (3:0 Landschaftsarchitektur), Susanne Formanek (Innovationslabor Grün Statt Grau), Bernhard Scharf (Green 4 Cities), Simon Tschannett (Weatherpark), Renate Hammer (Institute of Building Research and Innovation), Thomas Hauck (Institut für Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung, TU Wien) und Markus Busta (HSP Rechtsanwälte).

Danke für Ihre Expertise!

12. November 2022 Der Standard

Kreislaufwirtschaft ist kein Klumpert

Vor wenigen Tagen hat das neue Social-Business-Hotel Magdas in Wien seine Pforten geöffnet. Und nun öffnet es uns die Augen, was im Bereich von Pflege, Erhaltung und Kreislaufwirtschaft alles möglich ist.

Da, wo jetzt die Hugos, Aperol-Spritzer und Magdas-Habibi-Special-Gin-Drinks ausgeschenkt werden, wurde auch früher schon allerhand Sünde zutage gefördert, wenn auch dereinst ohne Alkoholeinfluss, tagein, tagaus, viele, viele Tausende Male über all die Jahrzehnte. „Was glauben Sie, woher das Holz hinter der Bar stammt? Das erraten Sie nie!“ Und recht hat sie, die Frau Sonnleitner. Denn die dunkle Holzvertäfelung mit ihren vertikalen, leicht genuteten Sprossen, die nun den Background für Mohammeds und Magdalenas Schanktat am Tresen bilden, war früher einmal Teil eines Beichtstuhls im sogenannten Waldkloster, Wien-Favoriten.

Die Zeiten der Rosenkränze sind vorbei. Heute führen die hochwertig gearbeiteten Holztafeln – so wie viele andere Möbel und Bauteile auch – ein Leben nach dem Materialtod, und zwar im neuen Magdas Hotel in der Ungargasse, das seit wenigen Tagen in Betrieb ist. Im Erdgeschoß gibt’s Drinks, Frühstücke, supergute Mittagsmenüs, regionale und levantinische Köstlichkeiten sowie ein eigenartiges, halbherzig interpretiertes Austrian Vitello Tonnato vom Mageren Meisel mit leider von Bord gegangenem Thunfisch. In den Etagen darüber kann man sich für 89 Euro aufwärts in ein Vintage-Paradies mit Omama-Kommoden und Großvaters Lounge-Fauteuils betten.

„2015 haben wir unser erstes Magdas Hotel im Prater eröffnet“, sagt Gabriela Sonnleitner, Hotelmanagerin und Geschäftsführerin von Magdas Social Business. „Wir haben dort mit wenig Aufwand ein ehemaliges Pflegehaus der Caritas in ein Hotel mit sozialem Schwerpunkt umgebaut, in dem wir vor allem Geflüchtete, Asylwerber und Langzeitarbeitslose beschäftigen konnten. Aufgrund des Nutzungsvertrags hatte das Projekt ein Ablaufdatum. Umso besser, dass das Konzept seitdem reifen konnte und wir nun in zentraler, städtischer Lage unser noch schöneres Nachfolgeprojekt in Angriff nehmen können.“

Errichtet wurde das Haus 1963 vom damaligen Dombaumeister Kurt Stögerer. Bis vor kurzem diente das schmucklose Gebäude in der Ungargasse 38 als Priesterwohnheim, alles sehr karg und wenig hedonistisch, eher nach innen gekehrt und auf die wortlose Begegnung mit Gott ausgerichtet, lediglich die Kapelle im sechsten Stock, die wie ein betonierter Schiffsbug durch die Fassade in den Straßenraum hinausbricht, machte schon von weitem auf die ungewöhnliche Funktion aufmerksam.

„Viele Häuser der Nachkriegszeit haben eine gewisse unaufgeregte Eleganz“, sagt Johann Moser, Partner bei BWM Architekten. „Doch dieses spezielle Haus ist eine Besonderheit, weil es irgendwie Fluch und Segen zugleich ist.“ Einerseits, so der Architekt, seien viele Bauteile wie etwa Wände, Decken und Oberflächenmaterialien sehr billig und zum Teil minderwertig gebaut worden. Andererseits aber sei das Haus aufgrund seiner semisakralen Nutzung so gut gepflegt und so wenig verändert worden, dass sich die asketische, spirituelle Atmosphäre bis zur Gegenwart erhalten habe. „Darauf konnten wir echt gut reagieren.“

Der Tisch war mal ein Schrank

Die Umbauarbeiten umfassen vor allem Reparaturen und Ertüchtigungen: Die Wände wurden aufgedoppelt und schallisoliert, die Deckenplatten, die an einigen Stellen gerade mal fünf Zentimeter dick waren, wurden statisch verstärkt und bekamen einen neuen Estrich, das Erdgeschoß wurde entkernt, ein barrierefreier Lift wurde eingebaut, der Parkplatz auf der Rückseite des Hauses wurde wegrationalisiert und in einen Gastgarten mit Salbei, Mangold und Pfefferminze umgestaltet.

„Die Außenfassade“, sagt Moser, „wurde erfreulicherweise schon in den 1980er-Jahren gedämmt und mit neuen Kunststoffisolierfenstern aufgepäppelt. Ist zwar alles nicht wirklich schön, aber absolut brauchbar und auch energetisch durchschnittlich gut. Das konnten wir unverändert belassen – was uns im Sinne der Kreislaufwirtschaft natürlich sehr freut.“ Die technisch größte Veränderung liegt in der Tiefe verborgen: Um das Haus mit geothermischer Energie zu versorgen, wurde darunter 18-mal in die Tiefe gebohrt. Zur Abdeckung der Winterspitzen gibt es einen neuen Fernwärmeanschluss. Gesamtinvestitionsvolumen: neun Millionen Euro, finanziert mit einem konditionsgünstigen Social-Business-Kredit der Bank Austria.

Platz nehmen, Fritz-Kola bestellen, in ein paar Minuten wird die Menüsuppe serviert. Die Tische im Restaurant, schönes Ulmenfurnier, wie man es heute kaum noch irgendwo findet, waren früher einmal Schranktüren, oben in den Priesterschlafzimmern. Irgendwo, sagt der Kellner, versteckt sich noch ein Schlüsselloch in der Tischplatte. Die Holzstühle, ein Entwurf des Architekten und Angewandte-Professors Franz Schuster, waren bereits im Prater-Hotel im Einsatz und wurden nun in der Caritas-Werkstatt in Retz einer Frischekur unterzogen. Und die Lampen stammen – wie auch schon die Beichtstuhlpaneele – aus besagtem Waldkloster in Favoriten. Amen.

„Wir wollen nicht nur sozial, sondern auch baulich, klimatisch und ökologisch nachhaltig agieren“, sagt Hotelchefin Gabriela Sonnleitner. „Das heißt: Wir wollten möglichst wenig von hier raustragen und wegschmeißen und möglichst viel Klumpert erhalten.“ Das kreislaufwirtschaftliche Konzept entstand in Zusammenarbeit mit den Materialnomaden, die Möbelumbauten, die in den Zimmern bisweilen lustige Formate annehmen und zum Schmunzeln anregen, sind ein Kunst-am-Bau-Projekt des Wiener Künstlers und Designers Daniel M. Büchel. Am Ende schaut’s aus, als wäre es nie anders gewesen, nur mit ein bissl mehr Humor.

Der Beweis ist gelungen, wieder einmal. Mit seinen 85 Zimmern und 171 Betten ist das Magdas Hotel ein wirklich entzückendes Exempel für Erhalt, für Weiterbauen, für Kreislaufwirtschaft. Jetzt liegt es an der Politik und Verwaltung, mit ihren Baugesetzen Projekte wieder diese nicht mehr zu erschweren, sondern zu fördern und Incentives für Investoren und Entwicklerinnen zu schaffen. Das Magdas darf keine exotische Orchidee bleiben, sondern muss zum neuen, normativen Baukulturstandard werden.

Aktuell arbeitet Wien gerade an einer Bauordnungsnovelle, die 2023 in Kraft treten soll. Diese Woche fand im Wiener Rathaus eine Enquete dazu statt. Experten und Expertinnen aus sämtlichen technischen Bereichen gaben Impulse, was in der Novellierung alles Niederschlag finden muss. Liebe Stadt, da geht die Reise hin! Bitte anschauen und Weichen stellen, dringender Handlungsbedarf.

22. Oktober 2022 Der Standard

Eine andere Sicht auf die Dinge

Am Donnerstag wurde in Wien der Anotherviewture Award verliehen. Der Preis honoriert die Leistungen und Initiativen von Architektinnen und Ziviltechnikerinnen. Dahinter steckt eine unglaubliche Power.

Im Sommer, sagt sie, wurde hier ein Kinderbuch präsentiert. Kurz darauf hat der Kosmetikhersteller Maybelline New York mit Freiheitsstatuen aus Pappkarton seine neue Produktlinie Winter 2022 vorgestellt. Und erst kürzlich hat sich ein privates Unternehmen eingemietet, um mit seinen Kundinnen und Kunden auf die kommende Saison anzustoßen – mitsamt Showeinlage von Dragqueens und Akrobaten.

„Dieser Raum ist für alle“, sagt Sabina Grincevičiūtė. „Wir wollen diesen schönen, exotischen Ort bekannt machen und dafür sorgen, dass dieses bislang unsichtbare Eck von Vilnius, das die Leute meist nur mit Lagerhallen und Heizkraftwerk assoziieren, endlich auf der Mental Map landet, denn eigentlich ist es hier wirklich großartig.“

Grincevičiūtė, 35 Jahre alt, ist Partnerin im litauischen Büro Do Architects. Gemeinsam mit Algimantas Neniškis und ihren beiden Kolleginnen Andrė Baldišiūtė und Gilma Teodora Gylytė leitet sie ein Team mit knapp 60 Leuten – und zählt damit zu den drei größten Architekturbüros des Landes. Die Projekte umfassen sämtliche Bautypologien von Wohn-, Büro- und Bildungsbau über Quartiersentwicklungen und urbane Refurbishments bis hin zu rein kommerziellen Corporate-Projekten, mit deren lukrativen Planungshonoraren diverse Pro-bono-Projekte für NGOs und karitative Zwecke finanziert werden.

„Wir sind ein junger Haufen aus Architektinnen, Landschaftsarchitekten, Designern, Interior-Spezialisten, Projektmanagern, Soziologinnen und Rechtsexpertinnen, und in den neun Jahren seit unserer Gründung ist es uns gelungen, uns nicht nur als ein Büro unter zu drei Vierteln weiblicher Führung zu etablieren, sondern uns auch zu den wichtigsten Aktivistinnen im Stadt- und Kulturbereich zu entwickeln. Das ist eine unglaubliche Power, die wir nutzen wollen. Wir können was bewegen!“

Und Do Architects meinen es mit ihrem programmatischen Büronamen wirklich ernst: In regelmäßigen Abständen veranstalten sie im öffentlichen Raum und in irgendwelchen Innenhöfen Feste, Picknicks und Bauernmärkte. Sie nehmen Kontakt zu Fonds, Rechtsanwälten und Immobilienentwicklern auf und halten Workshops zum Thema Architektur und Stadtkultur ab – denn: „Wir müssen die Macherinnen und Macher in der Immobilienbranche dringend sensibilisieren – dahingehend, dass sie nicht nur Grundstücke verwerten, sondern die Stadt weiterbauen und damit eine große kulturelle und gesellschaftliche Verantwortung tragen.“

Und als wäre das alles nicht genug, hat sich das Büro bei seiner Gründung 2013 vorgenommen, alle drei Jahre zu übersiedeln und jeweils ein neues Stadtentwicklungsgebiet in Angriff zu nehmen oder eine vergessene, verwaiste Stadtbrache mit seiner Präsenz wachzuküssen. Die letzte Übersiedlung führte sie nach Vilkpėdė, rund fünf Kilometer außerhalb der Altstadt.

„Seit ein paar Monaten sind wir nun an unserem insgesamt vierten Standort“, sagt Grincevičiūtė, „und zwar in einer ehemaligen Betonfabrik im Südwesten der Stadt. Nachdem die Produktion aufgelassen wurde, war es hier still und leer. Wir waren die Ersten vor Ort, haben bereits einige Kreative anlocken können und betreiben auch einen Veranstaltungsraum, den wir zu diversen Zwecken an Externe weitervermieten.“ Mittlerweile ist Betono Fabrikas ein stadtbekannter Hotspot in der Kulturszene.

Unterrepräsentierte Frauen

Für ihre außergewöhnlichen Leistungen wurde Sabina Grincevičiūtė am Donnerstag in der Akademie der bildenden Künste Wien mit dem verbal-phonetischen nicht ganz einfachen Anotherviewture Award ausgezeichnet. Das bissl verkopfte Kofferwort birgt das englische „her view“ im Namen und hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur die weibliche Perspektive auf das Bauen anschaulich zu machen, sondern auch planerisch beeindruckende Leistungen von Architektinnen, Stadtplanerinnen und Ziviltechnikerinnen vor den Vorhang zu holen.

„Es gibt tolle Frauen, die im Bereich des Planens und Bauens viel bewegen, aber in vielen Ländern ist der Anteil weiblicher Architekturschaffenden in den Medien und in der Berufspraxis immer noch massiv unterrepräsentiert“, sagt Bettina Dreier, Architektin in Graz und innerhalb der Länder- und Bundeskammer Arch+Ing Vorsitzende des Ausschusses der Ziviltechnikerinnen – mit kleinem „i“, wie sie betont, denn dieser Ausschuss widmet sich ausschließlich den Anliegen und der Sichtbarmachung der Frauen.

Vor einigen Jahren startete Dreier mit ihrem Kolleginnenteam eine Initiative unter dem Titel Yes We Plan!. In Kooperation mit Deutschland, Frankreich, Spanien und Slowenien wurde die aktuelle Situation von Architektinnen und Ziviltechnikerinnen analysiert – mit einem erschreckenden Ergebnis: 52 Prozent aller Architektur- und Bauingenieur-Absolventen in Österreich sind weiblich (Stand 2019). Unter den insgesamt 5741 beeideten Architekturschaffenden jedoch beträgt der Frauenanteil dann nur noch 15,2 Prozent. Damit ist Österreich hinter Frankreich (28,6 %), Spanien (31,5 %), Deutschland (33,1 %) und Slowenien (45,2 %) trauriges Schlusslicht.

Ein ganzes Bündel an nationalen und internationalen Maßnahmen soll nun dafür sorgen, dass sich die Situation bessert: Ausstellungen, Publikationen, Symposien und nicht zuletzt der erstmals verliehene Anotherviewture Award, der in Anlehnung an den französischen, schon längst etablierten Prix des Femmes Architectes von der Arch+Ing-Kammer ins Leben gerufen wurde. Zu den österreichischen Preisträgerinnen, die sich ebenfalls über 5000 Euro Preisgeld freuen dürfen, zählen Barbara Poberschnigg, Catharina Maul und Carla Lo. Der ΔTANDARD gratuliert – und hofft, dass dieser Preis eines Tages absurd erscheinen wird.

1. Oktober 2022 Der Standard

Der Glücklichmacher

Karl Schwanzers BMW-Hochhaus in München ist 50 Jahre alt. Filmemacher Max Gruber und Schauspieler Nicholas Ofczarek widmen dem Ausnahmearchitekten eine Hommage. Und was für eine!

Sobald wieder ein Stockwerk am Boden zusammengebaut war, zeiteffizient und auf den Millimeter genau, wurde es an den rund 80 Meter langen Stahlseilen um ein paar Meter nach oben gezogen und hydraulisch nach oben gepumpt, und die nächste Etage war dran. Damit hat Karl Schwanzer die Gesetzmäßigkeiten von Architektur und Schwerkraft komplett auf den Kopf gestellt: Der 22. Stock wurde zuallererst montiert, der erste zuallerletzt. Architektur ist ja nicht etwas Statisches, sondern wird erlebt.

Das 1972 fertiggestellte BMW-Hochhaus am Petuelring im Norden Münchens ist laut DIN-Norm kein Gebäude, sondern eine Hängebrücke. Um das Gewicht der einzelnen Bauteile zu reduzieren, hat Schwanzer ausschließlich mit Leichtbauelementen gearbeitet. So wurde für die 2304 Fassadenelemente etwa – erstmals in Europa – ein Alugussverfahren eingesetzt, das Schwanzer auf einer seiner Reisen nach Japan entdeckt hat. Ohne völlige Hingabe an ein Werk ist keine Optimierung einer Leistung denkbar.

Die charakteristische Schrägstellung der Fenster ist nicht etwa gestalterische Willkür, sondern hatte die Aufgabe, den Raumschall von Tippen und Telefonieren, aber auch den eindringenden Straßenlärm gegen die Akustikdecke zu lenken, ehe er abgedämpft auf die Arbeitsplätze zurückreflektiert wurde. Das Streben nach der besten Lösung, nach Vollkommenheit ist dem menschlichen Wesen zutiefst inhärent.

Sogar schon in der Wettbewerbsphase landete Schwanzer einen Coup. Um den damals noch skeptischen BMW-Vorstand vom Entwurf und vor allem von der runden Konstruktion zu überzeugen, ließ er in den Bavaria-Filmstudios auf eigene Kosten eine ganze Büroetage als 1:1-Modell aufbauen – mit Fassade, Möblierung, Schreibmaschinen, Münchner Fotopanorama und einer ganzen Crew an Schauspielerinnen und Statisten. Eine Million Schilling kostete ihn das taktische, wiewohl erfolgreiche Unterfangen. Die Architekturgeschichte zeigt, dass für großzügige Lösungen auch Opfer erbracht werden müssen.

Bis heute ist der „BMW-Vierzylinder“, seit 1999 unter Denkmalschutz stehend, eine der wichtigsten Ikonen europäischer Nachkriegsarchitektur – und zudem ein absoluter Pionier in Sachen Büroarbeit und Corporate Architecture. Aber hat ein Haus nur die Funktion, den Menschen drinnen zu dienen – und nicht auch den vielen, die es von außen erleben und anzusehen haben? Das Haus als Erscheinung, wie es die Umwelt bestimmt, gehört uns allen.

Rechtzeitig zum 50. Geburtstag des Vierzylinders hat der österreichische Filmemacher Max Gruber, der vor drei Jahren bereits mit seinem genialen Comic Schwanzer. Architekt aus Leidenschaft auf sich aufmerksam gemacht hatte, nun einen Dokumentarfilm gedreht, der den Wahnsinn dieses Projekts und die unendliche Passion Schwanzers anschaulich macht. Wenn man sich entschlossen hat, Architekt zu sein, muss man den Mut aufbringen, Visionen erfüllen zu wollen.

„Schwanzer steht für eine große künstlerische Kraft, für eine dramatische, aber undogmatische Suche nach tiefer Wahrhaftigkeit“, sagt Gruber. „Mich fasziniert, wie ganzheitlich er gedacht und gearbeitet hat. Auf der einen Seite war er ein Poet, hat Texte und Lyrik geschrieben, auf der anderen Seite war er ein grandioser Manager und hat damals schon ein Büro mit mehr als 100 Mitarbeitern geschupft. Er war ein Billy Wilder der Architektur!“ Oft werde ich gefragt: Was ist Ihre Spezialisierung? Meine Spezialisierung ist die Mehrgleisigkeit, die ins Weite führt.

Die 73-minütige Doku basiert auf aktuellen Bildern, historischem TV-Material und bislang unveröffentlichten Super-8-Filmen aus dem privaten Archiv. Zu Wort kommen ehemalige Studenten und Mitarbeiterinnen Schwanzers, aber auch BMW-Leute und zeitgenössische Kommentatoren. Und dann ist da noch ein nachdenklich dreinblickender Nicholas Ofczarek, Hornbrille und Stecktuch, in der Verkörperung des 1975 verstorbenen Ausnahmearchitekten. Dass niemand an die Denkmäler von morgen denkt! Das aber ist unser Auftrag, den wir von der Geschichte bekommen haben – dass wir Architekten Spuren hinterlassen.

„Ich bin kein Architekt, und ich nehme mir nicht das Recht, mir ein Urteil über seine Bauten zu bilden“, sagt Ofczarek im Interview mit dem ΔTANDARD. „Aber die Auseinandersetzung mit seiner Persönlichkeit entfaltet einen Sog, dem man nicht widerstehen kann. Wie dieser Mann gedacht hat und wie er formuliert hat, was Architektur, Kunst und Schönheit anbelangt, ist für jeden kreativen – und auch unkreativen – Menschen eine große Inspiration. Der Versuch, ins Unbekannte vorzustoßen, erfordert den Mut zur Unvollkommenheit – wie den zum Besseren.

„Ich kannte zwar das Philips-Haus und natürlich auch das 20er-Haus im Schweizergarten, aber wirklich kennengelernt habe ich Schwanzer letztendlich über seine Texte“, meint Ofczarek. „Der Charakter formt sich energetisch in dem, was der Mensch gesagt hat und was in Schrift und Sprache materialisiert ist. Wenn man auf diesen Inhalt vertraut, schafft man es, zum Wesen vorzudringen. Ich glaube, ich bin Schwanzer nähergekommen.“ Das Abtauchen in die eigene Tiefe, der Wahrheit auf den Grund gehen, das kann man nur selbst.

Max Gruber, Nicholas Ofczarek und den zu Wort kommenden Zeitgenossen ist es gelungen, Schwanzer in einer großen Vielschichtigkeit zu porträtieren – als Architekten, Manager, Lehrer, als leidenschaftlichen Visionär und unermüdlichen Workaholic, als einen, der es versteht, das Künstlerische und Programmatische mit dem Unternehmerischen und Pragmatischen zu verbinden. Nur wenige Menschen sind zu Spitzenleistungen prädestiniert. Diese Auswahl ist die Macht des Schicksals.

Der Film hilft zu verstehen, was früher einmal war und heute nicht mehr ist. Nämlich die Überzeugung, dass Architektur die Welt nicht nur zubaut, sondern sie auch ein Stückchen schöner und besser macht. Wie sagte doch Karl Schwanzer?Die Architekten besitzen ein Instrument, Menschen glücklich zu machen.

„Er flog voraus. Karl Schwanzer. Architektenpoem“. Premiere am Dienstag, 4. Oktober, im Gartenbau-Kino, 19.30 Uhr, in Anwesenheit von Max Gruber und Nicholas Ofczarek. Regulärer Kinostart in Österreich: 14. Oktober.

17. September 2022 Der Standard

Das überalle Klassenzimmer

Diese Woche war Schulbeginn in Oberösterreich. Das Oberstufengymnasium Rose in der Tabakfabrik Linz ist ein exotischer, mit der Stadt vernetzter Ausreißer. Ein Lokalaugenschein.

Ich war früher in einer HTL für Hoch- und Tiefbau“, sagt Tobias Lammer, 18 Jahre alt, seit wenigen Tagen Schüler in der achten Klasse, „und da war das pädagogische Konzept ganz klar: „Ich Lehrer, ich bin der G’scheite, und ihr Schüler, ihr seids die Depperten.„ So macht Lernen doch keinen Spaß, oder?“ Tobias sitzt auf einer vorgestrig gemusterten Oma-Couch, neben ihm ein übermaltes Nachtkastl aus dem Vintageladen, vor ihm eine Vase mit einer Sonnenblume drin. „Doch dann wurde mir die Rose empfohlen, alles andere als eine klassische, konventionelle Regelschule. Es ist ein pädagogisches Konzept auf Augenhöhe. Und der Raum, der ist richtig cool.“

Rose – das ist die Abkürzung für „Reformpädagogisches Oberstufenrealgymnasium Steyr der Evangelischen Kirche“, und vom S wie Steyr darf man sich nicht irritieren lassen, denn da war die Privatschule bis vor kurzem beheimatet. Vor wenigen Monaten jedoch übersiedelte man nach Linz, genauer gesagt in die ehemalige Tabakfabrik von Peter Behrens und Alexander Popp, einen denkmalgeschützten Industriebau aus den frühen 1930er-Jahren, den ersten Stahlskelettbau Österreichs. Im Erdgeschoß des ehemaligen Zollwarenlagers, des heutigen Haus Havanna, hat sich die Rose auf nunmehr 675 Quadratmetern eingemietet. Und zwar so richtig cool.

Über ein paar Stufen gelangt man vom Innenhof der Tabakfabrik auf eine vorgelagerte Terrasse, von dort in ein riesiges Loft, das lediglich von ein paar gläsernen Trennwänden und simplen Tischlereinbauten aus Schichtsperrholz mehr atmosphärisch denn akustisch zoniert und gegliedert wird. Dazwischen immer wieder Bauernschränke, Ohrenfauteuils, Thonet-Sessel und diverse Kleinmöbel, die das Mid-Century-Herz höherschlagen lassen. Es ist, als würde man einen Coworking-Space oder eine abgerockte Berliner Werbeagentur durchschreiten.

Keine Sonderräume

Erster Schultag im neuen Wintersemester 2022: Rund hundert Schülerinnen und Schüler sind heute in die Rose gekommen, manche mit besonderen Bedürfnissen, andere mit besonderen Talenten. Sie lümmeln gemütlich in der Ecke, tragen Hoodies mit der Aufschrift „Out of space“, so wie Tobias, sitzen auf den Tischen, lesen, lernen, trinken, essen, erzählen sich Highlights aus den Sommerferien, besprechen die morgige Klassensprecherwahl, stimmen gerade über die Schulordnung fürs kommende Semester ab, und auch über die Lernaufträge, die bis Ende September erfüllt werden müssen. Man muss schon genauer hinschauen, um in der Menge der Jugendlichen den sogenannten Lehrkörper auszumachen.

Doch irgendetwas fehlt. Und bald wird man feststellen: Die Rose hat keine Aula, keine Direktion, kein Lehrerzimmer, keine Bibliothek, keinen Festsaal, keinen Musiksaal, keinen Zeichensaal, keinen Werkerziehungssaal, keinen Turnsaal, keinen Speisesaal, keinen Chemiesaal für gefährliche H2 SO4 -Experimente. „Und genau das ist der Grund“, meint Michael Zinner, Schulraumforscher und Vorstandsmitglied im Evangelischen Schulerhalterverein der Rose, „warum wir uns für diesen besonderen Standort in der Tabakfabrik entschieden haben.“

Denn anstatt die Schule mit all diesen kostspieligen und die überwiegende Zeit ungenutzten Sonderräumen auszustatten, was im Rahmen der monatlichen Schulgelder ohne Großsponsor auch gar nicht finanzierbar gewesen wäre, gibt es Nutzungsvereinbarungen und Vereinsmitgliedschaften mit den benachbarten, in die Tabakfabrik eingemieteten Start-ups, Maker-Spaces, Unternehmen, Institutionen und universitären Bildungseinrichtungen.

In der Grand Garage können die Jugendlichen auf Fotostudios, Werkstätten, Hightech-Labore, Computerarbeitsplätze und 3D-Drucker zurückgreifen. Größere Technologieprojekte gehen an der Johannes-Kepler-Universität und im Ars Electronica Center über die Bühne. Die Modeklasse der Kunstuniversität Linz stellt ihre Studios und Textilateliers zur Verfügung. Im Festsaal der Tabakfabrik und des benachbarten Kulturhofs können größere Veranstaltungen stattfinden. Das Mittagessen kommt auf Wunsch von einem der vielen Lokale am Areal im Riesenkochtopf angerollt. Und zum Turnen gehen die Jugendlichen ins Martial-Arts-Studio nebenan, in die Pädagogische Hochschule oder einfach nur über den Zebrastreifen an die Donau.

Omniloziertes Lernen

„Wir sind zwar eine kleine, einfache Schule“, sagt Zinner, der nebenbei das architektonische Herzstück geplant und die ökologiezertifizierten Holzmöbel und Raum-in-Raum-Module entworfen hat, Gesamtinvestitionsvolumen 240.000 Euro, ein absolutes Low-Budget-Projekt, das sich nur ausgegangen ist, weil ein paar Eltern Tische zusammengeschraubt und Holzoberflächen eingeölt haben. „Aber dafür sind wir umgeben vom schönsten Klassenzimmer, das man sich nur vorstellen kann, mit bester technischer Infrastruktur und vielen tollen Synergieeffekten. Aus dem dislozierten Unterrichten wird ein omniloziertes Lernen.“

In der heutigen Gesellschaft, sagt Ulrike Schmidt-Zachl, pädagogische Leiterin der Rose, die unter anderem von der Future-Wings-Privatstiftung unterstützt wird und die sich an der renommierten Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ) orientiert, gebe es einen enormen Bedarf an Veränderung. „Mit unserem räumlichen, funktionalen und pädagogischen Konzept kriegen die Schülerinnen und Schüler jeden Tag hautnah mit, wie Vernetzung, wie Kooperation, wie Kollaboration, wie städtische Gesellschaft und wie Kommunikation auf Augenhöhe funktionieren. Wenn sie das lernen und in ihrem späteren Berufsleben umsetzen und weiterentwickeln, dann haben wir schon viel erreicht.“

Charlie, ein Labradormischling, einer von insgesamt drei Schulhunden, die hier den ganzen Schultag genüsslich auf und ab spazieren, hat es sich gerade gemütlich gemacht, will von Mirjam Katzensteiner, Maturaklasse, offenbar am Kopf gestreichelt werden. „Im Biologieunterricht“, sagt sie, „haben wir letztes Semester Augen seziert und wochenlang den Verschimmelungsprozess von Toastbrot analysiert und dokumentiert. Wo gibt es das schon! Dafür haben wir halt keine Klassenräume mit Tür, es kann ganz schön laut werden, und manchmal geht’s ein bissl chaotisch zu. Na und!“

Die Rose, ein dritter Pädagoge mit Schönheit und Stachel, irgendwie „out of space“. Besser kann man Schule nicht machen.

20. August 2022 Der Standard

Im Tempel der Nüchternheit

In Teil 3 unserer Sommerserie reisen wir nach Nancy: Das 1954 errichtete Privathaus des Architekten Jean Prouvé steht zwar unter Denkmalschutz, doch sein Zustand ist ein sehr trauriger.

Geht zum Regal und nimmt eine Ausgabe der Zeitschrift AMC Revue d’Architecture zur Hand, Juni 1984, 80 Franc das Heft. „Hier ist es, Seite 54, genau danach habe ich gesucht.“ Luc Bonaccini, 57 Jahre alt, zerzauste Haare wie ein Professor, blättert hin und her, mal zum Text, dann zum Interview, schließlich zu den Plänen und Schwarz-Weiß-Fotografien. „Auf den Artikel über dieses Haus hier bin ich während meines Architekturstudiums gestoßen: Maison Jean Prouvé in Nancy. Es war Liebe auf den ersten Blick. Eines Tages, dachte ich mir damals, will ich das Haus von innen sehen. Und jetzt das: Ich wohne hier!“

Bonaccini ist Architekt, genauer gesagt Mitarbeiter im regionalen Architektur-, Stadtplanungs- und Umweltberatungsamt CAUE im Département Meurthe-et-Moselle. Vor 17 Jahren ist er von Straßburg nach Nancy gezogen, nahm seinen neuen Job im öffentlichen Dienst an und bekam von der Stadt Nancy ausgerechnet die Maison Jean Prouvé, Rue Augustin Hacquard 4–6, zur Miete angeboten. „Ich und dieses Haus! Ich konnte es kaum glauben! Die einzige Auflage war, dass ich mich um das Haus kümmern und es bei Bedarf einmal pro Woche für Besucher zugänglich machen müsse. Nichts leichter als das!“

Das Privathaus von Jean Prouvé, 1954 im Nordwesten von Nancy errichtet, ist eines der wenigen, erhaltenen Gebäude des französischen Ausnahmearchitekten. Während im Europa der Nachkriegszeit vor allem mit Beton gebaut und mit Nierentischen und pastelligen Farbtönen eine Renaissance der Gute-Laune-Heimat zelebriert wurde, experimentierte Prouvé in seinen Haus- und Möbelentwürfen mit industrieller Vorfertigung und gezielter Einsparung von Gewicht, Baustoffen und energetischen Ressourcen. Je weniger Material, je weniger Handgriffe, je weniger Komplexität, desto besser.

Im Zeichen der Multiplikation

Zu Beginn befasste sich der ausgebildete Kunstschmied und Metallarbeiter mit Reparaturen und historischen Rekonstruktionen. Seinen Durchbruch erzielte der autodidaktische Architekt und Möbelbauer 1931 mit seinem Wettbewerbsentwurf für die Möblierung der Cité Universitaire de Nancy. Von da an ging es steil bergauf: Für die französischen Kolonialstaaten in Westafrika entwickelte er günstige, aber robuste Schulmöbel, hinzu kamen Betten für Sanatorien und Internate, die zu Zehntausenden produziert und exportiert wurden.

Auch seine modular aufgebauten Architekturprojekte standen im Zeichen der Multiplikation, etwa 100 Tankstellenhäuschen in Frankreich sowie 600 Schulklassen in Kamerun. Zeitweise hatten Les Ateliers Jean Prouvé bis zu 200 Mitarbeiter in der Produktion.

„Sein Vermächtnis ist gigantisch“, sagt Luc Bonaccini, in der Hand eine Tasse Tee, während er an seinem Wohnzimmertisch sitzt, ein Entwurf von Jean Prouvé, was sonst. „Er war ein Superstar, der sich aber stets in den Dienst des Produkts, der industriellen Fertigungstechnik und einer gewissen Demokratisierung der einst unerschwinglichen Möbel- und Architekturdisziplin gestellt hat. Es ist eine Ehre, hier wohnen zu dürfen. Aber nein, es ist nicht immer leicht.“

Am 1954 errichteten Haus, das von Prouvé und seiner Familie in nur wenigen Monaten ohne Unterkellerung und ohne umfassende Hangsicherung wie ein modulares Fertighaus zusammengeschraubt wurde, nagt der Zahn der Zeit. Die charakteristischen Bullaugenpaneele aus Aluminium sind verbeult und zum Teil undicht, die vertikalen Fensterläden, die sich in der Brüstung versenken lassen, stecken fest, an den Fenstern sammelt sich Kondensat.

„Doch das größte Problem“, sagt Bonaccini, „ist die sommerliche Hitze. Das Holz-Blech-Dach ist nur wenige Zentimeter dick und so leicht, dass Prouvé im Wohnzimmer eine Säule einbauen musste – und zwar nicht, um das Gewicht zu tragen, sondern um das Dach vor dem Wegfliegen zu sichern.“ Die Temperaturunterschiede haben dem Bauwerk, das seit 1987 unter Denkmalschutz steht, ordentlich zugesetzt. Durch das starke Schwinden und Dehnen sind die Türen, Paneele und Holzverkleidungen vielerorts gerissen.

„Wir sind uns der Schönheit und Besonderheit des Hauses sehr bewusst, umso mehr schmerzt uns der bedauerliche Zustand“, sagt Kenza-Marie Safraoui, Kuratorin für Kulturerbe und zuständig für die Museen der Stadt Nancy. „Leider sind uns in der Museumsverwaltung die Hände gebunden, denn das Haus befindet sich im Eigentum der Stadt. Das Haus wird vermietet, wir hätten viele gute Ideen, haben aber leider keinen Zugriff darauf. Die Situation ist vertrackt.“

Und was sagt Vitra zu alledem? Vor 20 Jahren hat das deutsche Nobelmöbelhaus mit Sitz in Weil am Rhein bei Basel die alten Entwürfe von Jean Prouvé aus den Archiven gehoben und mit Prouvés Erben Kontakt aufgenommen, um den Nachlass des radikalen Avantgardisten in die Vitra-Produktlinie aufzunehmen. Der Stuhl Standard , der Fauteuil Direction , der EM Table und die Wandleuchte Potence werden seit vielen Jahren erfolgreich verkauft. Erst kürzlich stellte Vitra im Rahmen einer Pressereise ein neues Produkt vor – den blitzblauen Lounge-Chair Kangourou , ein Entwurf aus dem Jahre 1948.

Das Herz blutet

„Die Wiederentdeckung des fast verschollenen Jean Prouvé im Jahr 2002 war der Beginn einer Lovestory“, sagt Christian Grosen, Head of Design bei Vitra. „Prouvés Arbeit hat viele Künstler, Designer und Architekten inspiriert. Er zählt ohne jeden Zweifel zu den größten und wichtigsten Pionieren des 20. Jahrhunderts. Uns blutet das Herz, dass ausgerechnet sein eigenes Privathaus in so einem schlechten Zustand ist. Es wäre toll, wenn man das Haus wieder in Schuss bringen könnte.“

Die einen sind Besitzer eines Kulturdenkmals und mit dem Erhalt des Objekts sichtlich überfordert. Die anderen haben einen großen Schatz geborgen und sind in den letzten 20 Jahren zu wahren Prouvé-Connaisseurs aufgestiegen.

Möge dieser Text als Anstoß dienen, die Kräfte und Budgets zu bündeln und das angedepschte Schmuckkästchen in der Rue Augustin Hacquard zu sanieren und einer öffentlichen Nutzung zuzuführen – ob als Museum, Artists-Residency oder Vitra-Hotel für Fans des nüchternen Strichs. Wie sagte doch Prouvé? „Partir du détail pour arriver à l’ensemble.“ Im Kleinen anfangen, um zu einem Ganzen zu gelangen.

Hinweis: Die Reise nach Nancy erfolgte auf Einladung von Vitra.

6. August 2022 Der Standard

Die Verchipperfieldisierung Berlins

Im August begeben wir uns auf eine Reise durch Europa. Teil eins: Berlin, das in den letzten Jahren durch einen Architekten besonders stark geprägt wurde. Aber was macht David Chipperfield so deutsch? Und warum fügt sich seine Handschrift so gut in diese Stadt?

Über ihr ein alter, verrosteter Kran, an schweren Ketten von der Decke hängend, daneben eine ganze Batterie an Schläuchen und Spritzdüsen, die ehemalige Glasreinigungsanlage. „Sehen Sie die alten Mörtelfugen? Die gusseisernen Säulen? Die vielen Spuren von Fenstern, Gewölbedecken und Mauerdurchbrüchen, die man im Putz noch so wunderbar erkennen kann?“ Annette Hähn deutet durch die Glastür in die Halle. Die Zufriedenheit mit ihrem Arbeitsplatz ist ihr ins Gesicht geschrieben. „David Chipperfield hat schon das Neue Museum auf der Museumsinsel gebaut und die Neue Nationalgalerie saniert, und jetzt arbeiten auch wir in einem Chipperfield-Bau. Schon toll, oder?“

Nach der Wende stand die in den 1880er-Jahren errichtete Bötzow-Brauerei am Prenzlauer Berg, nur wenige Gehminuten vom Alexanderplatz entfernt, lange Zeit leer, ehe sie mehrere Male den Besitzer wechselte und schließlich 2010 in den Händen von Hans Georg Näder, Eigentümer der Ottobock SE, landete. Das niedersächsische Unternehmen ist auf die Herstellung von Prothesen, Orthesen, Exoskeletten und High-End-Rollstühlen spezialisiert – und hat beschlossen, das denkmalgeschützte Areal zu sanieren und sich hier mit Teilen der Verwaltung und einer Forschungsabteilung für Rollstühle anzusiedeln.

„Wir sind ein traditionsreiches Unternehmen, das seit über hundert Jahren besteht und sich seit seiner Gründung durch technische Innovation auszeichnet“, sagt Hähn, Assistentin am Berliner Standort von Ottobock, während sie den Journalisten durch die sanierte Brauerei begleitet und ihn auf eine kleine materialkundliche Entdeckungsreise entführt. Überall Stahl, Glas, nackter Beton, grober Reibputz an den Wänden, ockerfarbene, eigens für dieses Projekt gebrannte Ziegelklinker an der Fassade. „Auch in unsere Produkte kann man hineinblicken, ihnen die Funktionsweise ansehen und verstehen, wie sie beschaffen sind und welchen Zweck sie erfüllen. So gesehen, denke ich, passt die Architektur gut zu uns.“

In den kommen Jahren – die Grundplatten werden bereits betoniert – werden auf der noch unbebauten Freifläche, Prenzlauer Allee 242, drei Neubauten für Wohnen und Arbeiten errichtet, eingebettet in einen grünen Campus, geplante Fertigstellung Ende 2024. Damit ist die Bötzow-Brauerei – nach einem gefühlten Dutzend stadtprägender, gestaltgebender Chipperfield-Bauten in ganz Berlin – ein weiteres Riesenprojekt aus der Feder des britischen Neoklassizisten, der seit fast 25 Jahren ein Schwesternbüro in der deutschen Bundeshauptstadt betreibt. Mittlerweile ist die Berliner Dependance mit 140 Mitarbeitern phasenweise sogar größer als das Mutterbüro in London.

Der einzige Stararchitekt?

Gegründet wurde das Berliner Büro 1998 anlässlich des gewonnenen Architekturwettbewerbs für die Sanierung des Neuen Museums. In der Zwischenzeit wurden von hier aus bereits einige Hundert Projektplanungen in ganz Europa begleitet und betreut, ein Teil davon in und für Berlin – neben dem Neuen Museum beispielsweise die James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel, die Galerie am Kupfergraben, das Gropius-Ensemble, der Umbau des Ullstein-Verlags in der Friedrichstraße, der eigene Bürocampus in der Oranienburger Vorstadt oder zuletzt die Generalsanierung der Neuen Nationalgalerie von Ludwig Mies van der Rohe.

„Er baut viel in Berlin, ist oft in der Zeitung und im TV zu sehen“, sagt Annette Hähn. „Ich habe sogar das Gefühl, dass Chipperfield unter den Berliner Architekten der prominenteste ist, derjenige, der auch in der breiten Bevölkerung am häufigsten in Erscheinung tritt. Mich freut seine Präsenz insofern, als ich ihn, soweit ich das als Nichtarchitektin überhaupt beurteilen kann, für einen sehr sensiblen Architekten halte. Er eckt nicht an, er provoziert nicht, er ist einfach nur bestrebt, Schönheit zu erschaffen.“

In Fachkreisen ist immer wieder das spitze Bonmot zu hören, dass Chipperfield, obwohl in London zu Hause und im Besitz eines britischen Reisepasses, der berühmteste, wenn nicht sogar einzige Stararchitekt Deutschlands sei – bekannter, schillernder und einzigartiger im Auftreten als ein Gunter Henn, ein Werner Sobek, ein Meinhard von Gerkan. Aber was macht ihn so deutsch? Warum fügt sich seine Handschrift so gut in diese Stadt?

Unkompromittierte Häuser

„Die Arbeit am Neuen Museum war mit Sicherheit ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung einer eigenen Architekturhaltung des Berliner Büros“, sagt Alexander Schwarz, Partner bei David Chipperfield Architects und Leiter der deutschen Niederlassung. „Am Neuen Museum lässt sich beispielhaft ablesen, wie Berlin beschaffen ist. Es ist gebrochen, fragmentarisch, im stetigen Wandel, in einer bis heute noch immer nicht abgeschlossenen Transformation befindlich. Dieser Umgang mit Leerstellen, diese Sehnsucht nach dem Weiterschreiben der Stadt ist ohne Zweifel ein Motor unseres Schaffens. Das passt gut zu Berlin.“

Oft finden sich dort Ziegel, roher Beton und sandfarbener Stein. Häufiger zumindest als bei den Projekten in München, London, New York, Ottawa oder Shanghai. Auch in Wien befindet sich das dritte Chipperfield-Projekt – nach dem Peek-&-Cloppenburg-Gebäude auf der Kärntner Straße und einem Hotel in Margareten – in Bau. Es handelt sich um Luxusvillen in Hietzing.

„Nein, wir wollen keine Bildebene bedienen, und wir betreiben auch keine metaphorische Architektur“, meint Schwarz. „Was wir machen, ist hochwertiges, langlebiges Bauen, das sich gut ins Umfeld fügt. Das ist selten laut und meistens zeitlos elegant. Und als Reaktion auf den Charakter dieser Stadt ist unsere Architektursprache in Berlin wahrscheinlich klassischer und klassizistischer als anderswo.“

Die nächsten Projekte sind bereits in Bau, darunter etwa der Jannowitz-Tower an der Jannowitzbrücke in Berlin-Mitte, eine 75 Meter hohe Landmark direkt an der Spree. In der Berliner Öffentlichkeit ist das Projekt bereits weitgehend bekannt. Über weitere Bauvorhaben, die sich bereits in der Pipeline befinden, wird vorerst noch nicht gesprochen. Paris hatte seinen Baron Haussmann, Ljubljana seinen Plečnik, Barcelona seinen Gaudí. Sind wir nun Zeugen einer Berliner Verchipperfieldisierung?

„Das halte ich für übertrieben“, meint Alexander Schwarz. „Doch Fakt ist: Es ist schwierig, in Deutschland herausragende Bauten hinzustellen, denn die Gesetzeslage und Mentalität führt zwar zu einer Kultur der hohen Nivellierung – allerdings mit wenig Luft nach oben für Extravagantes. Dass es ausgerechnet uns gelungen ist, hier so viele unkompromittierte Häuser zu realisieren, steht für das radikale Understatement unserer Herangehensweise.“ Wie Berlin wohl in den kommenden 25 Jahren Gestalt annehmen wird? Abwarten und Tee trinken.

23. Juli 2022 Der Standard

Der geschrumpfte Baumeister

Der bayerische Architekt Max Otto Zitzelsberger macht zwar immer wieder auch richtig große Häuser, doch die meisten seiner Projekte baut er en miniature. Wie schön! Aber warum eigentlich?

Die Wände aus Wellpappe und Büttenpapier, vor dem Haus ein Kilo Sand und Kieselsteinchen, eine Vegetation aus Lavendel, Schafgarben und getrocknetem Lampenputzergras. „Meist stammen die Bäume und Sträucher von einem schönen Feldblumenstrauß, den meine Frau bekommen hat, manchmal sogar von mir. Nachdem der Strauß in der Vase nach Wochen komplett vertrocknet ist, heißt es kurz vor der Entsorgung: Schatz, kannst du damit noch was anfangen?“

Und ob er das kann! Für Max Otto Zitzelsberger, Architekt in der bayerischen Pampa, sind die kleinen Dinge und Reststoffe unseres täglichen Wohnens und Arbeitens wertvolle Baumaterialien. Aus Drähten, Eis-am-Stiel-Stäbchen und Papieren in allen erdenklichen Farben, Strukturen, Grammaturen entstehen Häuser, Anbauten, Umbauten, Schulen, Kindergärten, Bauernhöfe und Verkaufsschuppen für Metzger und Fleischereibetriebe. Bloß sind seine Bauwerke meist kleiner, als man es gewohnt ist, denn Zitzelsbergers Welt ist eine Welt im Maßstab 1:25.

„Ich mag das Kleine, das Winzige, und mein allererstes Projekt, das ich realisiert habe, war ein Hühnerstall mit drei Quadratmetern Grundfläche“, sagt der ausgebildete Architekt, der drei kleine Bürostandorte in Bayern leitet und an der TU Kaiserslautern eine Juniorprofessur für Tektonik im Holzbau innehat. Für seinen Schwiegervater, einen Bauern mit Hühnern und Puten, entwarf er 2011 einen hölzernen Massivbau mit zehn Zentimeter dicken Wänden, die aus Holzklötzchen wie in einem klassischen Ziegelverband aufgemauert wurden. Der Stall wurde in diversen Fachmedien veröffentlicht. „Ein kleines Projekt für den Menschen, ein großes Haus für das Huhn“, so Zitzelsberger.

Kleinheit dominiert

Und heute? „Das Kleine und Geschrumpfte ist in meinen Bauten immer noch ein dominanter Faktor, denn die Architektur im großen Maßstab stellt mich schon lange nicht mehr zufrieden“, sagt der 39-Jährige mit einer Mischung aus breitem Grinsen und tiefem Seufzen. „Der Beruf des Architekten hat sich stark gewandelt, es gibt kaum noch schöne Aufträge, in die man als junger Planer hineinwachsen kann. Wer heute als Architekt tätig ist, der ist eine Projektmaschine, die verhältnismäßig wenig kreativen Spielraum hat – dafür aber immer mehr über Normen, Haftung, Finanzierung, Kostengarantien und rechtliche Gefahren wissen und sich um Verträge kümmern muss. Das macht keinen Spaß.“

Stattdessen könne man dies als Chance sehen, um das Gebiet der Baukultur neu zu definieren. „Jedes Gebäude, das errichtet wird, ist immer nur das Modell einer ursprünglich perfekten Planungsidee, einer Utopie“, sagt Zitzelsberger – und stimmt damit in den Kanon nichtbauender Architekten wie etwa Yona Friedman, Raimund Abraham, Friedrich Kiesler, Lebbeus Woods, Paul Laffoley oder Wolfgang Tschapeller ein. „Mit dem Bauen muss man den Perfektionismus und Idealismus aufgeben und Kompromisse eingehen. Für mich aber sind diese vielen, vielen Kompromisse nicht mehr tragbar. In der Welt en miniature muss ich weniger Eingeständnisse machen, kann Baukultur betreiben, wie ich will.“

In dieser, seiner Welt, in der die Häuser meist nicht höher als 30 Zentimeter, die Grundstücke nicht größer als zwei Quadratmeter sind, entstanden in den letzten Jahren die Sanierung eines 60er-Jahre-Wohnhauses in Vötting, ein Wohnbau für einen gemeinnützigen Bauträger in Salzburg, die Erweiterung des historischen Rathauses in Sinzing bei Regensburg, das längst aus allen Nähten platzt, sowie die Umnutzung des ehemaligen Distlerhofs in Berngau, der in Zitzelsberger erfundenen Breitengraden nun als Gemeindebauhof mitsamt generationengerechtem Wohnen fungiert.

Eine seiner liebsten Utopien jedoch ist das Geschäftshaus für einen Metzger, das sogenannte Wurst-Haus in Floß in der Oberpfalz. Im Vordergrund stand die Errichtung eines „dekorierten Schuppens“ in der architekturhistorischen Definition von Robert Venturi und Denise Scott Brown – mit einem Dach aus Wellkarton, einer dekorierten Fassadenfront, überdimensionierten Buchstaben über der Attika und eigenwilligen Beschattungselementen, wie sie etwa in der Architektur von John Hejduk zu finden sind. Postmoderne pur, geschrumpft auf die Größe eines Wohnzimmercouchtischs.

Zauberwelt Modelleisenbahn

Manchmal finden die Projekte, die von Kommunen und Privatbauherren als Entwurfsideen und Bebauungsstudien in Auftrag gegeben werden, dann aber doch den Weg in den Maßstab 1:1, wenn auch nicht in überbordender Regelmäßigkeit. „Ich fühle mich in der fiktiven Miniaturwelt wohl“, sagt Zitzelsberger, dessen Minihäuser die schlichte Eleganz eines Architekturmodells und zugleich die Detailliebe einer Märklin-Modelleisenbahn aufweisen. „Doch wenn das Schicksal es will, dass ein Projekt groß gemacht werden soll, dann wehre ich mich nicht dagegen. Es ist schön, wenn sich das ab und zu ergibt.“

Zu diesen Zufällen zählen neben dem schwiegerväterlichen Hühnerstall auch eine kleine Pfarrgalerie, ein Wohnungsumbau, ein Buswartehäuschen, ein revitalisierter Stadl sowie die sogenannte Erkläranlage in Berngau, eine Art Ideenwerkstatt und Open-Air-Freiluftklasse für Kinder mit und ohne Behinderung, die auf dem Areal einer alten, mittlerweile ungenutzten Kläranlage realisiert wurde. Das Projekt – entstanden in Kooperation mit Nonconform, der Lebenshilfe Neumarkt und dem Sozialwissenschaftlichen Institut für regionale Entwicklung (SIREG) – wurde vielfach publiziert und war sogar für den DAM-Preis für Architektur 2021 nominiert.

Was also ist neben diesen wenigen, aber vielbeachteten Bauten der Motor fürs Nichtbauen? „Mit den politischen, wirtschaftlichen und klimatischen Krisen hat sich die Architektur radikal verändert“, sagt Max Otto Zitzelsberger mit einem verschmitzten Lächeln, in dem hie und da die Weisheit eines hochbetagten Architekturtheoretikers durchblitzt.

„Wir haben unser Gespür für Schönheit verloren, wir haben das Zepter an die Immobilienwirtschaft abgegeben, wir müssen erst wieder verstehen lernen, was uns Baukultur überhaupt noch wert ist. Solange wir die Antwort darauf nicht haben, gehe ich diesen Fragen in 25-facher Verkleinerung nach.“

25. Juni 2022 Der Standard

Lernen von den Schwammerln

Nach sieben Jahren Laufzeit erreicht die Internationale Bauausstellung Wien nun ihren Höhepunkt. Doch was ist die IBA Wien überhaupt? Und welches Vermächtnis wird sie uns hinterlassen haben?

Das Bettsofa Flottebo, 120 Zentimeter breit, gab es um wohlfeile 699 Euro, das Kommodensystem Bestå schlug mit 440 Euro zu Buche, und den kleinen, kompakten Esstisch Tommaryd konnten die Architekten aus dem Selbstbedienungslager um 219 Euro mit heimnehmen. Neben der Terrassentür hängt ein schwarz-weißes Rendering, so soll’s hier eines Tages mal ausschauen, glückliche Menschen sitzen auf einer Picknickdecke in der Wiese, umzingelt von Bäumen, an der Wand daneben sind ein paar Porträtfotos zu sehen, Kinderfotos aus dem historischen Fundus der hier involvierten Planerinnen und Architekten.

„Schon alles sehr weiß hier, ein bisschen zu weiß vielleicht, wenn man das mit einem realistischen Wohnalltag vergleicht, in dem es meist etwas wilder und chaotischer zugeht“, sagt Musterbewohnerin Klara, 26 Jahre alt, „aber durchaus schön und gemütlich. Und man kriegt eine Idee davon, wie diese Wohnung eines Tages aussehen könnte.“ Für Mustermitbewohner Bernhard (56) sind vor allem die Schiebewände ein Hit, denn mit einer einzigen Handbewegung, sagt er, wird man in der Lage sein, Wohn-, Schlaf- und Arbeitsbereiche je nach Bedürfnis, je nach Tageszeit zusammenzulegen oder akustisch und atmosphärisch voneinander zu trennen.

Die weiße Gerbera auf dem künstlich-klapsmühlig in Szene gesetzten Foto mag zwar echt sein, doch darüber hinaus ist hier – noch – nichts real. Denn die 52 Quadratmeter große Musterwohnung im Gemeindebau Neu in der Mela-Köhler-Straße 7, Baufeld H4B in der Seestadt Aspern, rundherum Bagger und behelmte Bauarbeiter unterwegs, geplante Fertigstellung Frühjahr 2023, ist lediglich ein erster früher Vorbote der flexiblen, experimentell erarbeiteten Grundrisse, die die WUP Architekten für den gemeinnützigen Bauträger Wigeba hier realisieren.

Mit seinen 74 Wohnungen – ein Drittel davon mit schiebbaren Wänden ausgestattet – ist der innovative Gemeindebau eines der Pilotprojekte, die im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) Wien auf Schiene gebracht wurden und nun, von einem Qualitätsmonitoring begleitet, sukzessive umgesetzt werden. Nach sieben Jahren Projektzeit erreicht die IBA Wien damit ihren Höhepunkt. Seit vorgestern ist die finale IBA-Ausstellung Wie wohnen wir morgen? im IBA-Zentrum in der Nordwestbahnstraße, Brigittenau, zu sehen.

Vier-Zimmerchen-Wohnung

„Wohnen wird immer teurer, und wir stehen heute vor der immensen Herausforderung, dass sich viele Menschen – vor allem Alleinerziehende mit ein oder zwei Kindern – kaum noch eine ausreichend große Wohnung leisten können“, sagt Bernhard, Musterstatist in Weiß, Partner bei WUP Architekten, Weinberger mit Nachnamen. „Also haben wir im Prinzip eine Zwei-Zimmer-Wohnung entwickelt, die im Kreis begehbar und bei Bedarf mittels Schiebewänden im Nu in eine Vier-Zimmerchen-Wohnung umfunktioniert werden kann – mit einer kleinen Privatsphäre für jeden und für jede.“

Während selbst im günstigen, geförderten Wohnbau die Bestrebungen zunehmend in Richtung hoher Materialqualität gehen, begnügt sich der Gemeindebau in der Mela-Köhler-Straße mit Laminatböden, Kunststofffenstern und verzinkten Eisengeländern. Das materielle Hirnschmalz floss stattdessen in echt clevere Grundrisse, die mit Standardmöbeln und 60 Zentimeter tiefen Schrankwänden wohlfeil und intelligent einzurichten sind. „Im Fokus steht nicht die architektonische Ästhetik“, so Weinberger, „sondern das Raum- und Zimmerbedürfnis von Menschen in prekären Lebenssituationen.“ 7,50 Euro kostet die Miete pro Quadratmeter.

Die Entwicklung neuer, innovativer Lösungen auf Wohn- und Stadtteilebene – genau darum geht es bei der IBA Wien. Weniger handelt es sich dabei um eine Ausstellung im klassischen Sinne, wie der seit 1901 (!) gebräuchliche Titel vermuten lassen würde, als vielmehr um eine Initiative und einen experimentellen Prozessrahmen, in dem bislang unbekannte, unerprobte urbane Habitatmodelle und konkrete Pilotprojekte beispielhaft durchexerziert werden – mit dem Ziel, voneinander zu lernen, die Regelwerke und Standards zu überdenken und der eigenen, irgendwie zur Routine gewordenen Planungskultur wieder einen Schubs in Richtung Zukunft zu geben.

„Früher waren die IBAs tatsächlich eine Nabelschau von realisierten Projekten, im Vordergrund stand dabei meist die Exzellenz“, sagt Kurt Hofstetter, Leiter und Koordinator der IBA Wien. „Doch spätestens mit der IBA Hamburg 2013 hat sich der Fokus vom Projekt auf den Prozess verlagert. Heute geht es nicht mehr um exzellente Architektur im Sinne einer Einzelerscheinung, sondern um die Anhebung der Lebensqualität aller an einem Ort wohnenden, lebenden Menschen.“

Zwischen den Häusern

Die Argusaugen der IBA Wien, die Konzeption, Entwicklung, Planung, Errichtung und Wohnbetrieb gleichermaßen unter die Lupe nimmt, richten sich dabei zum einen auf singuläre Wohnbauten wie etwa den Gemeindebau Neu in der Seestadt Aspern, das Loft Living und den Grünen Markt im Sonnwendviertel oder das Holzbausystem Vivihouse, das als gebauter Prototyp derzeit am Donaufeld zu besichtigen ist.

Zum anderen aber hat sich die IBA Wien – mehr als die parallel stattfinden IBAs in Basel, Heidelberg, Stuttgart, Thüringen und in der Region Parkstad im südlichsten Zipfel der Niederlande – dem Quartiersmaßstab verschrieben, also dem Grätzel, der Nachbarschaft, der sozialen, technischen und gewerblichen Infrastruktur zwischen den Häusern.

„Als wir Anfang der 1990er-Jahre mit mehreren Bauträgern ein großes Wohnquartier in der Donaustadt entwickelt haben“, erinnert sich Hofstetter, „gab es keinen einzigen Plan, der die Erdgeschoßzone aller involvierten Bauträger abgebildet hat. Niemand wusste, was sein Nachbar für Pläne schmiedet. Also habe ich mich hingesetzt und mit Tusche einen quartiers- und bauträgerübergreifenden Erdgeschoßplan gezeichnet. Und zu meiner großen Verwunderung muss ich sagen: Bis heute ist das noch immer nicht Standard.“

In den letzten sieben Jahren ist es der IBA immerhin gelungen, dass im magistratsabteilungsparifizierten Wien die einzelnen Planungsstellen heute endlich miteinander reden und abteilungs- und kompetenzübergreifend im Kollektiv die Wohnquartiere der Zukunft planen. Die in der Ausstellung präsentierten und in vielen, vielen Stadttouren erkundbaren Quartiere – ob das nun im verdichteten, revitalisierten oder ganz neuen Wien ist – geben Einblick in die intensive Netzwerkarbeit, die schon fast zur Normalität geworden ist.

Damit ist das größte und wichtigste Exponat der Internationalen Bauausstellung Wien fast unsichtbar. Oder, wie Kurt Hofstetter meint, der gerade Merlin Sheldrakes Buch Verwobenes Leben über das Verhalten von Pilzen am Nachtkastl liegen hat: „Pilze, Schimmel und Myzelien sind hochintelligente Systeme, die sich untereinander austauschen und einander mit Nährstoffen versorgen. Wer grad hat, der gibt. Wer grad braucht, der nimmt. Wir alle, die wir Stadt bauen, können von Pilzen noch viel lernen.“

Schlusspräsentation IBA Wien im IBA-Zentrum, Nordwestbahnstraße 16, 1200 Wien. Zu sehen bis 18. November 2022. Mit einem sehr umfangreichen Veranstaltungs- und Exkursionsprogramm.

18. Juni 2022 Der Standard

Tonnenschwerer Leuchtturm

Das Nationalmuseum Oslo, vor kurzem eröffnet, ist optisch und programmatisch ein Kulturmonolith von enormen Dimensionen. Architektonisch kollidieren südliche Romantik und nordische Pragmatik.

Eigentlich hätte Klaus Schuwerk jeden Grund, glücklich zu sein. Der deutsche Architekt steht in dem von ihm entworfenen Nationalmuseum in Oslo, 6,05 Milliarden Kronen (rund 600 Millionen Euro) teuer und zwölf Jahre nachdem der weitgehend unbekannte Architekt im Team mit dem Berliner Büro Kleihues + Kleihues den Wettbewerb gewonnen hatte. Die Institution, 2003–2005 durch die Zusammenlegung von fünf Museen entstanden, hatte sich ein prestigeträchtiges Grundstück ausgewählt: auf dem Areal des ehemaligen Bahnhofs Oslo Vest am Ufer des Oslofjords, gegenüber dem monumentalen Rathaus.

Aber Klaus Schuwerk ist nicht glücklich. Dabei wurde sein Entwurf, der die gigantische Baumasse in ein gedrungenes Gebilde aus ineinandergeschobenen Quadern packte, plangemäß umgesetzt, und auch die Massen aus graugrünem norwegischem Quarzit an Fassade und im Foyer verbaut. Doch erstens, sagt er, sei es ein langer Kampf gewesen, einheimischen Stein und nicht billigeren Import zu verwenden, es hätten sich zu viele Beteiligte in seine Kernkompetenzen eingemischt, und überhaupt – er deutet resigniert in den Raum: Diese Möbel! Diese Mistkübel! Schrecklich! Für all das habe er eigene und schönere Entwürfe geliefert und sei ignoriert worden. Und das schwarze „Nm“-Logo auf der Fassade gefällt ihm auch nicht, das Museum sei schließlich auch so als solches erkennbar.

Nationale Identität

Es passiert nicht oft, dass man einen Architekten trösten möchte, sein neues Gebäude sei doch gar nicht so schlecht geworden, wie er sagt. Zugegeben, die tonnenschwere kantige Masse, in die wenige tiefe Fensterlöcher gestanzt wurden, empfängt die Besucher nicht gerade mit offenen Armen, doch ist man einmal drinnen, atmet das hohe, geräumige Foyer mit seinen schweren Eichenholztüren eine zeitlose Eleganz. Wer einmal durch Peter Zumthors berühmte Therme im Graubündner Ort Vals mit ihrer archaischen Steininszenierung wandelte, wird mit einem kleinen Déjà-vu belohnt.

Direktorin Karin Hindsbo wiederum ließ anlässlich der Eröffnung am 11. Juni mit nordisch-lockerer Sachlichkeit jedes Pathos vermissen, obwohl sie von nun an dem größten Museum der nordischen Länder vorsteht: 400.000 Objekte von Malerei über die Antike bis zum Designobjekt, davon 6500 in insgesamt 86 Räumen ausgestellt. Stattdessen betonte sie die gesellschaftliche Verpflichtung: „Das kulturelle Erbe einer Nation ist ihre Identität. Museen spielen hier eine wichtige Rolle, weil die Menschen ihnen vertrauen; mehr noch als Büchern oder Schulen. Diese Glaubwürdigkeit müssen wir erhalten.“

Für die erste Ausstellung I Call It Art wurden in einem Open Call 147 Werke von meist unbekannten Norwegern ausgewählt, um gleich von Beginn an zu vermitteln: Dieses Museum gehört euch allen. Das Ergebnis ist ein etwas anstrengendes Sammelsurium unbändigen Ausdruckswillens, das einen mit Dankbarkeit für die Existenz von Kunsthochschulen zurücklässt. Darüber hinaus lassen Eintrittspreise von 18 Euro diese Inklusionsgeste eher symbolisch erscheinen. Auch Architekt Klaus Schuwerk winkt ab. Er hätte sich stattdessen Werke gewünscht, die den Raum zur Geltung bringen. Vielleicht eine Stahlskulptur des (bei Architekten stets beliebten) Richard Serra.

Nun sind Unterschiede zwischen Bauherr und Architekt nichts Außergewöhnliches, hier jedoch sind sie Indiz für ein grundsätzliches kulturelles Missverständnis. Auf der einen Seite die romantisch-mediterrane Vorstellung des Architekten als Gesamtkünstler. Sein ideales Museum: hehr und heilig, erhaben und ewig, nobel und solide. Auf der anderen Seite die nordische Tradition der Offenheit, Teamarbeit und Inklusion. Hier elitäres 19. Jahrhundert, dort demokratisches 21. Jahrhundert. Hier Tempel, dort Sitzkreis. Selbst im düsteren Edvard-Munch-Saal laden didaktische bunte Bauklötze die kleinen Besucher ein, den Schrei nachzubauen.

Doch diese Widersprüche kann das Museum schon angesichts seiner schieren Größe gut aushalten, und die klassische Enfilade von Räumen lässt allen Exponaten der Dauerausstellung (Ausstellungsarchitektur: Guicciardini & Magni Architetti) genügend Raum. Gibt man den Anspruch auf, alles sehen zu wollen, hat das Megamuseum durchaus seinen Reiz. In der Malerei kann man sich ebenso verlieren wie in der fantastischen Design-Ausstellung und ihren großen Glaskabinetten, in denen Textilien, Möbel, Grafik und Objekte thematisch klug kombiniert werden und wo auch das berühmte Animationsvideo zu a-has Take on Me seinen Platz findet.

Quarzit-Gebirge

Mit einer nennenswerten Ausnahme: Das Quarzit-Gebirge bekam eine verglaste Halle aufgesetzt, die für Wechselausstellungen dient und nachts als horizontaler Leuchtturm aufglüht. Klaus Schuwerk nennt sie den „Alabaster Room“, doch die antike Erhabenheit, die dieser Name suggeriert, stellt sich nicht ein. Mit 130 Meter Länge ist die Halle im Inneren von ermüdender Endlosigkeit, die sieben Meter hohe transluzente Fassade drängt sich unruhig in den Raum und nimmt der Kunst die Freiheit zur Entfaltung. „Man kann an das Glas zwar keine Bilder hängen, aber es sieht gut aus“, sagt Sammlungsdirektorin Stina Högkvist lakonisch. Der nordische Pragmatismus wird es schon hinbekommen.

Möglicherweise sind die beiden Direktorinnen auch so entspannt, weil der größere Plan, in den sich das Nationalmuseum einordnet, mit Sicherheit aufgehen wird. Auch wenn es auf eine ikonische Großform verzichtet, mit der Stadt verschmilzt und seine kulturelle Bedeutung fast ausschließlich im Inneren zeigt, ist es ein Schlüsselelement in der Osloer Waterfront, deren Wiederentdeckung die Stadt komplett umkrempelt.

Ein Prozess, der 1993 mit Renzo Pianos leichtfüßigem Astrup-Fearnley-Museum begann und mit dem 2007 eröffneten, sofort zum Wahrzeichen gewordenen Opernhaus den Turbo einschaltete. 2020 kam die exzellente städtische Deichmann-Hauptbibliothek dazu, 2021 der recht emotionslos-anämisch geratene Stahl-Glas-Stapel des Munch-Museums. Das Nasjonalmuseet komplettiert diese Reihe und soll Oslo nun endgültig in die Königsklasse der globalen Kulturdestinationen katapultieren. Auch wenn der granitschwere Kunst-Leuchtturm, unter seinem eigenen Gewicht fast versinkt, dürfte er wie geplant Einheimische und Touristen an den Fjord locken. Und vielleicht macht auch der Architekt eines Tages seinen Frieden damit.

Die Reise nach Oslo erfolgte auf Einladung der norwegischen Botschaft Wien.

31. Mai 2022 Der Standard

Vanillesaucengelb trifft auf großes Drama

Viel Architektur auf wenig Raum im Horten-Museum

Constantin Luser bläst in seinen 6,22 Meter hohen Vibrosaurier . 25 Blasinstrumente erklingen in schrillen Tönen. Die Kakofonie füllt das ganze Haus. „Dieses Freispielen der Ecken und Durchbrechen der Decken war uns von Anfang an wichtig“, sagen Ernst J. Fuchs und Marie-Thérèse Harnoncourt vom Wiener Architekturbüro The Next Enterprise, die sich mit ihrem Entwurf im Wettbewerb 2019 gegen Kuehn Malvezzi und Ortner & Ortner durchsetzten. „Auf diese Weise gibt es kleine und große, gemütliche und dramatische Räume, und die Kunst kann sich optisch und akustisch ausbreiten.“

Mit nicht einmal 1500 Quadratmetern, verteilt auf drei Ausstellungsebenen und eine Büroetage im Dachgeschoß, ist das Haus deutlich kleiner, als man auf den ersten Blick glauben möchte. Das Foyer mit eingezogenen Ebenen und einer schluchtartigen Raumhöhe von über 17 Metern bis unters Dach verströmt beim Eintreten eine Weite, die man im Wiener Mumok etwa vergeblich sucht und im New Yorker MoMA erfolgreich findet. Die 240 Quadratmeter großen Lichtdecken und die frech in den Altbau eingeschriebene, um rund 45 Grad verdrehte Geometrie tun ihr Übriges.

Highlight sind die beiden Treppenläufe, die sich trotz ihres imposanten Gewichts von 6,5 Tonnen fast schwerelos an die schwebenden „Plateaus“ klammern. Die massiven Edelstahlskulpturen, die vor Ort zusammengeschweißt und in einem aufwendigen Verfahren glasperlengestrahlt wurden, animieren die Besucher zum Klopfen und Streicheln – und verraten nebenbei, dass die Auftraggeberin Heidi Horten weder Kosten noch Mühen gescheut hat.

Von 13 Millionen Euro Nettobaukosten war in der Wettbewerbsausschreibung die Rede. Zu den tatsächlichen Kosten will sich Museumsdirektorin Agnes Husslein-Arco nicht äußern.

„Das Wichtigste ist doch, dass dieses private Museum viele unterschiedliche Nutzungen und Bespielungen zulässt“, so Husslein-Arco. „Ich persönlich finde die Sequenz aus permanenten Überraschungen zwischen Altbau und Neubau am faszinierendsten.“ Ein solcher Überraschungsmoment ist auch der Tea Room in einem der Kabinette. Markus Schinwald entwickelte eine fast romantische Vitrinenwand mit gläsernen Bullaugen, und Hans Kupelwieser verschrottete mit einem Bagger 13 Alutafeln, die er in einem metallisch-samtigen Rot eloxieren ließ.

Fazit: Der 1914 errichtete, komplett entkernte und vanillesaucengelb gestrichene Altbau im Innenhof des Hanuschhofs ist von außen keine Wucht, aber das ist mit 29 Grundstückseigentümern an so einer Adresse auch kein Wunder. Doch in seinem Inneren entfaltet das Ding eine kleine, dramatische Museumslandschaft mit architektonischem Seltenheitswert.

21. Mai 2022 Der Standard

„Jetzt will ich feiern!“

Kommenden Freitag wird in London der heiß begehrte Pritzker-Preis an den heurigen Laureaten Diébédo Francis Kéré vergeben. Ein Gespräch über Lehm, unbequeme Schulmöbel und rauschende Feste mit dem ganzen Dorf.

Wo sind Sie gerade? Berlin, Benin, Burkina Faso? „Alles gut, ich bin in meinem Büro in Berlin, die Baustellen laufen gerade gut, außerdem muss ich mich noch auf die Zeremonie nächste Woche vorbereiten“, sagt Diébedo Francis Kéré am Beginn des Zoom-Interviews. Er mag Zoom und Telefonate, sagt er, da passiere meist Gutes. Und dann erzählt er vom Anruf der Pritzker-Preis-Direktorin Manuela Lucá-Dazio irgendwann im Februar, er war gerade in Benin, die Verbindung war schlecht, er verstand nur Wortfetzen: Pritzker, 2022, Jury, Gratulation. Er konnte es nicht fassen!

STANDARD: Viele Leute haben schon seit längerer Zeit damit spekuliert, wann der Pritzker-Preis endlich an Diébédo Francis Kéré vergeben wird. Sie auch?

Diébédo Francis Kéré: Wow! Was? Echt? Wollen Sie mich veräppeln? Emotional, würde ich sagen, habe ich die Botschaft schon ein wenig verarbeiten können. Da war alles dabei, von Lachen bis Weinen. Intellektuell kann ich es noch immer nicht fassen.

STANDARD: Was bedeutet Ihnen der Preis?

Kéré: Einerseits eine persönliche Genugtuung, andererseits eine gewaltige Anerkennung für die Arbeit, die ich mit meinen Leuten seit über 20 Jahren leiste. Zu Beginn hat man als Architekturstudent ja überhaupt keine Ahnung, was einem der Job später abverlangen wird, und geht mit einer gewissen Naivität in den Beruf hinein. Diese Naivität hat mir Tür und Tor geöffnet. Und es macht mich überglücklich, dass sich diese naive Annäherung an die Materie im Laufe der Jahre als so erfolgreich herausgestellt hat.

STANDARD: Wie sind Sie zum Bauen gekommen?

Kéré: Über viele Umwege. Schon mit sechs, sieben Jahren musste ich an den Nachmittagen nach der Schule arbeiten, um ein bisschen Geld zu verdienen. Ich hatte die Aufgabe, mit einem Eselskarren Baumaterialien anzuschaffen. Die Baustellen haben mich fasziniert. Eine weitere Prägung war, dass ich mich eines Tages gefragt habe, warum es im Klassenzimmer immer so heiß war. Wir sind unter einem Blechdach gesessen, es gab kaum Licht oder Frischluft, es war dunkel und unfassbar heiß. Ach, und dann die Schultische! Das waren Holzbretter mit Beinen, einfach zusammengenagelt, nicht einmal verschraubt, alles hat gewackelt. Die Nägel haben sich in den Stoff gebohrt und meine Hosen und Unterhosen kaputtgemacht. Ich habe nicht verstanden, warum das Leben so unbequem sein muss. Ich wollte es schöner, heller und bequemer machen.

STANDARD: Sie haben eine Tischlerausbildung gemacht.

Kéré: Ja, mit neun bin ich zu einem Tischler gekommen, der mich als Lehrling aufgenommen hat. Danach habe ich in Fada N’Gourma eine professionelle Tischler- und Mechanikerlehre absolviert. Ich wollte nie als Mechaniker arbeiten, aber ich wollte so gut mit Metall umgehen können, dass ich selbst Dächer decken kann. Ich wollte bessere Dächer machen als die, die wir in der Schule hatten.

STANDARD: Mit 20 Jahren sind Sie nach Berlin gekommen. Was war Ihr erster Eindruck?

Kéré: Nach Berlin bin ich mit einem Stipendium der Carl-Duisberg-Gesellschaft und des Deutschen Entwicklungsdienstes gekommen. Es war ein Stipendium für eine Tischlerausbildung. Mein erstes Mal außerhalb von Afrika. Dieser kontinentale Winter! Ich wusste nicht, wie ich diese Kälte überleben soll. Doch was mich wirklich schockiert hat, war die Erkenntnis, dass in einer deutschen Großstadt alle Flächen komplett versiegelt, zubetoniert und -asphaltiert sind. Nirgendwo gibt es ein Stückchen natürlicher Erde, nirgendwo ist Natur, überall ist Mensch. Das war ein Schock.

STANDARD: Obwohl Sie seit 2004 ein Büro in Berlin betreiben, bauen Sie vor allem in Burkina Faso, aber auch in Mali, Kenia, Senegal, Mosambik sowie in Benin und im Sudan. Wie schaffen Sie es, diese großen Projekte von Deutschland aus zu leiten?

Kéré: Zum einen bin ich selbst viel auf den Baustellen unterwegs, zum anderen bemühen wir uns immer sehr, vor jedem Projekt ein paar Handwerker und Fachleute vor Ort auszubilden und mit ihnen eine Art Crashkurs für bestimmte Bauweisen oder technische Details zu machen. Das funktioniert eigentlich sehr gut.

STANDARD: Sie arbeiten oft mit lokalen Materialien wie Stein, Holz und Lehm. Gerade im Global South sind dies jedoch Baustoffe, die oft stigmatisiert sind und mit Armut konnotiert werden. Was setzen Sie dem entgegen?

Kéré: Das ist tatsächlich ein enormes Problem in vielen armen Ländern im globalen Süden. Die Elite ignoriert meist alle Logiken lokalen und regionalen Bauens und kopiert stattdessen den Westen, denn aus dem Westen – so hält sich die Legende – kommen die guten, perfekten, hoch entwickelten Dinge. Bloß achtet man leider nicht darauf, ob sich diese westlichen Dinge auch in südlichen Klimaregionen eignen. Die Vorbildwirkung dieser Elite ist leider katastrophal.

STANDARD: Wie schaffen Sie es, dass Ihre Lehmbauten dann doch realisiert werden?

Kéré: Mit Argumenten. Ich kläre die Leute auf und rechne ihnen vor, wie viel Geld, Zeit und Energie sie sparen, wenn sie so und nicht anders bauen. Es geht um Kosten, Effizienz und Langlebigkeit. Solche Faktoren versteht jeder.

STANDARD: Ihre aktuellen Projekte werden immer größer. Ich denke da nur an die Benin National Assembly in Porto-Novo. Wie gelingt es Ihnen, den Geist zu bewahren und die Idee lokalen und regionalen Handwerks auf die nächste Maßstabsebene zu transferieren?

Kéré: Das ist keine leichte Aufgabe! Der Maßstabssprung von einer lokalen, räumlich überschaubaren Größe auf eine politische, in gewisser Weise internationale Ebene braucht ein unglaubliches Transformationsmoment – und auch symbolische Gesten. Wir bezeichnen das Projekt nicht als National Assembly, sondern als „L’arbre à palabres“, als Palaverbaum. Man kennt den Palaverbaum ja als traditionellen Versammlungsort, in dessen Schatten sich die Menschen über Politik, Gesellschaft und das Zusammenleben im Dorf austauschen. Das Parlamentsgebäude ist nichts anderes, bloß größer. Außerdem wollen wir für die Böden im ganzen Haus Steine aus Steinbrüchen in ganz Benin zusammenzutragen. Auch das ist ein Beitrag zu einer lokalen, regionalen Ökonomie.

STANDARD: Haben Sie einen Wunsch für die Zukunft?

Kéré: Natürlich! Ich wünsche mir, dass ich fit bleibe, weiterhin inneren Frieden finde und mir meine Kraft, Energie und Inspiration behalte, um Projekte zu realisieren, die die Menschen glücklich machen.

STANDARD: Der Pritzker-Preis ist mit 100.000 US-Dollar dotiert. Was werden Sie damit tun?

Kéré: Ganz ehrlich? Der Pritzker-Preis ist eine enorme Sache für mich und meine gesamte Familie. Meine Mutter hat mich immer schon gepusht, ermuntert und zur Schule geschickt, und auch heute noch verfolgt sie die Arbeit ihres Sohnes mit Stolz und Interesse mit. Auch einige meiner Freunde und Geschwister freuen sich mit mir mit. Ich lade sie alle zur Preisverleihung nach London ein – Visumanträge, Flugkosten, Unterbringung, einfach alles. Wir sind eine große Familie, da bleibt nicht mehr viel übrig.

STANDARD: Was machen Sie mit dem Rest?

Kéré: Mein ganzes Leben besteht aus Effizienz, sinnstiftender Arbeit und sorgfältigem Umgang mit Geld. Jetzt will ich feiern und in meinem Dorf in Burkina Faso ein großes Fest schmeißen.

[ Diébédo Francis Kéré, geb. 1965 in Gando, Burkina Faso, betreibt seit 2004 sein Architekturbüro in Berlin. Als erster afrikanischer Architekt wurde er heuer mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet. Am 27. Mai findet in London die Verleihung statt. ]

9. April 2022 Der Standard

Sattelfest

Nichts ist unter Architekten verschmähter als das gute, alte Satteldach. Was wurde nicht schon gespottet und geschimpft! Das Wiener Architekturbüro Smartvoll macht das ungeliebte Ding wieder salonfähig.

Vom Haupteingang bis ins Büro des Bürgermeisters sind’s keine 30 Schritte. Immer nur gradaus, meist steht die Tür sperrangelweit offen, direkt in der Sichtachse sitzt er, alles gut im Blickfeld habend, zugleich einsichtig wie nur was, tippt grad irgendwas in den Computer. „Ah, da sind Sie ja!“ Alois Zetsch, laut Gemeinde-Homepage bei der ÖVP, aber irgendwie mehr schwarz-rotgrün als türkis, ist eigentlich gelernter Elektriker, leitet seit vielen Jahren ein eigenes Elektrounternehmen. Seit 2005 ist er Mitglied im Gemeinderat, 2014 wurde er – keine Kurzschlusshandlung, sondern mit ziemlich überzeugender Mehrheit – zum Bürgermeister gewählt.

„Eine der Agenden“, sagt der 62-Jährige, Flanellhemd und Fleece-Jacke, „war ein neues Rathaus, denn das alte Gebäude platzte aus allen Nähten, war in keinster Weise barrierefrei, und selbst wenn wir es mühsam saniert hätten, wäre es dennoch ein hermetisches, altmodisches Haus geblieben. Ich aber wollte, dass Großweikersdorf endlich ein offenes, einladendes Gemeindeamt bekommt.“ Zur Auswahl standen zwei Grundstücke im Eigentum der Gemeinde, eines direkt am historischen Hauptplatz, eines am Stadtrand neben dem Bauhof. Gut, dass man sich fürs richtige entschieden hat.

Vier Architekten wurden im Rahmen eines kleinen geladenen Wettbewerbs um einen Entwurf gebeten – drei Büros aus der Region sowie ein Wiener Büro, von dem der Elektriker Zetsch bei einem Projekt vor vielen Jahren mal einen Auftrag bekommen hatte und dessen freche, innovative Architektur ihm seitdem in Erinnerung geblieben war. Diesmal drehte sich der Spieß um, und die Architekten bekamen den Auftrag vom zum Statthalter aufgestiegenen Professionisten. Im Herbst 2021 wurde das neue Rathaus feierlich eröffnet.

Wie eine Scheune in Iowa

Die Straßenfront wurde durchbrochen, statt einer langweiligen, verputzten Fensterfassade wurde mit städtebaulichem Wagemut eine hölzerne Satteldachfront in die Baulücke gestellt, links und rechts davon zwei wilde, verwunschene Gehwege, ein Abstecher in die Wohnsiedlung dahinter, gelegentlich kann man die Gemeindemitarbeiterinnen hier bei einer Zigarette und einer Tasse Kaffee antreffen, dazwischen erstreckt sich das Gebäude – wie eine Scheune irgendwo in Iowa – 60 Meter weit nach hinten.

„Wir wollten ein wirklich offenes, öffentlich zugängliches Rathaus, das sich anfühlt wie ein Kumpel, dem man gern mal auf die Schulter klopft, weil man ihn so gern hat“, sagt Philipp Buxbaum, der gemeinsam mit seinem Partner Christian Kircher das Wiener Büro Smartvoll Architekten leitet. Das Ziel wurde erreicht: Während in einem klassischen Rathaus, wie Buxbaum vorrechnet, lediglich zehn bis 15 Prozent der Nutzfläche hausfremden Personen zur Verfügung stehen, sind in Großweikersdorf rund 55 Prozent des Gebäudes öffentlich begehbar – darunter auch eine Art Wohnzimmer-Lounge mit Bibliothek und Sitztribüne. Den schulterklopfenden Sympathiefaktor erreicht man über das gute alte Satteldach.

„Wir sind überhaupt keine Satteldach-Spezialisten und auch keine Satteldach-Liebhaber, aber wir haben auch keine Scheu davor, wie viele andere Architekten“, sagt Kircher. „In diesem Fall hat sich das Satteldach angeboten, weil es das optische Erscheinungsbild des Gebäudes reduziert und irgendwie handlicher und kompakter macht. Und auch, weil es eine aus dem eigenen Einfamilienhaus bekannte Architekturtypologie ist, die sich den Bürgerinnen und Bürgern als Willkommensgruß und freundliches Kommunikationsmittel präsentiert.“

Großstadtdschungel

Bürgermeister Alois Zetsch hat bislang nur beste Rückmeldungen bekommen. „Die Leute lieben das Haus, und sie haben das Gefühl, dass ihnen die Gemeinde hier ein zweites Wohnzimmer hingestellt hat. Wenn sie einen Termin auf der Gemeinde haben und ein bissl warten müssen, dann sitzen sie nicht auf einem Konferenzstuhl im Wartezimmer, sondern auf einem grünen Sofa unter einem riesengroßen Holzdachstuhl.“ Der Erfolg des 5,3 Millionen Euro teuren Projekts hat schon weite Kreise gezogen: Nominierung für den Holzbaupreis und den INA Award 2021, Anerkennung beim Holzbaupreis, Sieger beim Architizer A+Award.

Und die Satteldach-Euphorie in der digitalen Crowd ist noch lange nicht zu Ende: Erst letztes Wochenende veröffentliche der Architekturblog designboom eine Projektstudie von Smartvoll, die sich – abermals mit einem Satteldach gekrönt – mit städtischer Nachverdichtung und urbanem Wohnen mit Zugang ins Grüne beschäftigt. Zwischen zwei Feuermauern im dichtest verbauten Wien-Ottakring stellen Buxbaum und Kircher fiktiv einen hölzernen Leichtbau auf das Dach eines niedrigen Gründerzeithauses und verwandeln die Lücke zwischen den beiden Feuermauern solcherart in einen wilden Großstadtdschungel.

„Die hohe Schule der österreichischen Architektur lehrt einen, 80 Stunden pro Woche zu arbeiten, niemals zu lachen, stets ernst zu bleiben, dem Flachdach zu huldigen und in modernen Raumkontinua wie bei Mies van der Rohe zu denken“, sagt Philipp Buxbaum. „Solche Kisten zu bauen ist unter Architekten eine Art Modeerscheinung – ach was, Religion! Doch es gibt auch eine Architektur jenseits dieser monokulturellen Dogmatik. Wir nennen das Biodiversität.“

7. März 2022 deutsche bauzeitung

Wie man einen Regenbogen baut

Kirchenneubau in Brünn (CZ)

Die Kirche der Seligen Maria Restituta in Brünn ist eine Skulptur aus Licht und Beton. Architekt Marek Jan Štĕpán hat sich an Vorbildern des 20. Jahrhunderts orientiert und einen ambivalent großartigen Ort geschaffen, bei dessen Anblick die Reaktion zwischen Begeisterung und Enttäuschung oszilliert.

Kaum hat man die Banalität des Außenraums hinter sich gelassen, kaum ist die gläserne, mit Holzlatten verkleidete Brandschutztür mit Panikbeschlag wie aus dem Baumarktkatalog mit einem metallischen Klick zugefallen, überfällt einen eine Mischung aus Schock und zauberhafter Überraschung. Man steht plötzlich mitten in einer Raum-Zeit-Maschine, in Millisekunden reist man nach Ronchamp zu Le Corbusiers Notre-Dame du Haut. Nackter Beton in unterschiedlichen Qualitäten und Oberflächen, mal glatt, mal rau, mit Besenstrich gekratzt oder konzentrisch in kleinen, 8 cm breiten Holzlatten geschalt, und über genau jene Fläche, die sich mit einem magischen Licht-Schatten-Spiel in 18 m Höhe über den Kirchenraum stülpt, legt sich wie ein dematerialisierter Schleier aus Licht ein kreisrunder Regenbogen in allen Farben dieser Welt.

»Schon seit Jahrhunderten beschäftigen sich die Menschen damit, wie man höhere, spirituelle Kräfte darstellen kann, und auch Umberto Eco bezeichnete die Identität Gottes einst als einen Lichtstrom, der das ganze Universum durchdringt«, sagt Architekt Marek Jan Štěpán. »Genau darum geht es in dieser Kirche. Die eigentliche Lichtquelle ist von unten betrachtet unsichtbar, und doch dringt dieses wunderbare sphärische Licht in den Innenraum und breitet sich auf der gesamten, im Durchmesser 25 m großen Kuppel aus. Das ist meine ganz persönliche Art und Weise, Spiritualität und universelle Kraft darzustellen. Es geht um Immaterialität und um eine fast uterushafte Sanftheit und Sicherheit.« Štěpán, 54 Jahre alt, selbst praktizierender Christ und Professor für sakrale Räume an der Technischen Hochschule Brünn, beschäftigt sich schon seit geraumer Zeit mit Kirchenarchitektur. Sein Portfolio umfasst katholische, evangelische und jüdische Gotteshäuser sowie zahlreiche Entwürfe für Altäre, Tabernakel und diverse liturgische Geräte. Mit besagtem Standort in Lesná, einer modernen Wohnsiedlung im Norden Brünns, die in den 60er Jahren von František Zounek und Viktor Rudiš nach dem Prinzip einer Gartenstadt errichtet wurde, hatte er schon mal während seines Diplomstudiums 1991 zu tun. Damals wurde ein öffentlicher Wettbewerb für eine Kirche und ein Glaubens- und Gemeindezentrum ausgeschrieben, den er gemeinsam mit Zdeněk Bureš gewinnen konnte. Das Gemeindezentrum von Bureš wurde realisiert, der Entwurf für die Kirche der Seligen Maria Restituta allerdings blieb in den Akten.

»Es vergingen 25 Jahre mit weit über 30 Entwurfsvarianten vieler beteiligter Architekten, doch die Diözese von Brünn konnte sich auf keine Lösung einigen«, erinnert sich Štěpán. 2016, ein Vierteljahrhundert später, wurde daher ein zweiter Wettbewerb ausgeschrieben. Und: »Ich konnte es kaum glauben, aber den habe schon wieder ich gewonnen! Es gibt einige Analogien zu meinem Erstentwurf, vieles ist ähnlich, aber im Großen und Ganzen ist das Projekt wohl reifer und erwachsener geworden. Während ich mich als Student noch mit einer expressiven Holzkonstruktion verewigen wollte, die ein wenig an Moby Dicks Skelett erinnert, ist meine Sprache im Laufe der Jahre ruhiger und in gewisser Weise entmaterialisierter geworden. Es geht um Baustoff in seiner reinsten Form und um Licht – um viel Licht.«

Zu ebener Erde liegt glatter Granit, an den Wänden ist die archaische Sprache Štěpáns ablesbar, sei es in Form von bauüblichen Betonfertigteilen, sei es in Form von unterschiedlich behandelten Kratztexturen und Schalungsadrücken. An zwei Stellen, die einen vagen rechten Winkel markieren, ragen organische, konvex geformte Emporen in den Kirchenraum, und fast scheint es, als habe Štěpán die beiden charakteristischen Betonvordächer in Ronchamps Kapelle mit einem bildhauerischen Kunstkniff von außen nach innen gestülpt. Unter den Kratzstrukturen verbergen sich vorgespannte Balkonplatten mit einer schiffsbauartigen Unterkonstruktion aus Holzleichtbau. Da ist er also wieder, Moby Dicks Bauch. Die erste Empore dient als erweiterter Sitzbereich, falls die Messe mal mehr Besucher locken sollte, die zweite, leicht höhenversetzte Galerie gehört den Chören und Organisten. Das räumliche Angebot dürfte nicht übertrieben sein. Nach Auskunft des Architekten besuchen rund 500 bis 600 Gläubige regelmäßig die beiden Sonntagsmessen. »Zwar gibt es in Mähren bloß 4 % praktizierende Christen, und tatsächlich befinden sich in der Brünner Altstadt viele Kirchen, die oft leer stehen, aber gerade in so dicht besiedelten Wohnquartieren wie hier in Lesná ist der Bedarf an gotteshäusern meist nicht gedeckt.« Rund 20 000 Menschen leben hier, und der Blick auf die Häuser, Lokale und Geschäfte, auf die waghalsig konstruierte Schwimmhalle und auf das heterogene atmosphärische Straßenbild lässt vermuten, dass die Bewohnerschaft von Lesná eine sozial, kulturell und demografisch durchmischte ist.

So facettenreich wie das Lichtspiel an der Decke

Die Geometrie der gesamten Kuppelkonstruktion ist so gelöst, dass das Fensterband von unten unsichtbar bleibt. Vor den thermischen Fenstern – kleine, handelsübliche Kippflügel, mit denen der Raum entlüftet werden kann – befindet sich die farbgebende Fassadenebene aus 4 m hohen Verbundsicherheitsgläsern, 120 Stück an der Zahl, die mit durchgefärbten Klebe- und Verbindungsfolien ihr volles Regenbogenspektrum entfalten. Zwischen Fenster und Kuppelvolute gibt es eine schmale Galerie, die über Turm und Stahlbrücke zu Wartungs- und Reparaturzwecken der Beleuchtungsanlage erreicht werden kann. Welch Freude, dass sich diese irdischen Funktionen dem perfekt inszenierten, illusorischen Bild des Betrachters entziehen.

Anders sieht es leider aus, sobald man den Innenraum verlassen hat. Im Anschluss an Štěpáns Neubau der Seligen Maria Restituta – benannt zu Ehren der Ordensschwester und Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime, die 1943 hingerichtet und 1998 seliggesprochen wurde – befindet sich das bestehende Gemeindezentrum von Zdeněk Bureš, das im Zuge der Kirchenbauarbeiten lediglich in einem unauffälligen Grauton überstrichen wurde. Errichtet wurde die kreisrunde Kirche daneben auf einem rechteckigen Betonpodest, in dessen Mitte kleine Bäumchen gepflanzt wurden. Darunter befindet sich eine Tiefgarage mit rund 40 Stellplätzen und mechanischer Belüftung. Flankiert wird der mit Granit verkleidete Vorplatz schließlich von einem 31 m hohen Glockenturm mit dreieckigem Grundriss. Die Wendeltreppe im Innern des Turms dient in den unteren Metern als Garagenzugang und im oberirdischen Bereich als Erschließung der Fenstergalerie und des 16-teiligen Glockenspiels.

Und leider, spätestens hier, kippt die Euphorie über dieses sinnliche, spirituelle, mit wenig Budget und viel Leidenschaft gestaltete Projekt ins Gegenteil. Die euklidische Mengenlehre aus kreisrundem Zylinder, rechteckiger Garagenschachtel und dreieckigem Turm, die banale Kombination aus weißer Putzfassade, buntem Glasband und gelb-roter Glockenloggia am höchsten Punkt des Turms entwickelt an dieser Stelle des Gebäudes banale, ja fast naive Momente pseudo-postmoderner Gestaltungslehre. Marek Jan Štěpáns Erläuterungstext zum Konzept und zur architektonischen und religiösen Bedeutung des Kreises als perfekter, ganzheitlicher, formvollendeter Körper macht die Sache auch nicht besser. Verstärkt wird das kindliche Erscheinungsbild durch ein zum Teil technisch bedingtes Kunstprojekt an der Kirchenaußenwand. Um auf klassische Dehnungsfugen zu verzichten, legte der Künstler Petr Kvíčala ein amorphes, sich immer wieder überschneidendes Liniengeflecht über die gesamte Vollwärmedämmsystemfassade. Die linearen Mulden dienen der 3 cm dicken Putzschicht bei Temperaturschwankungen als Dehn- und Sollbruchstelle. Dazwischen schweben hieroglyphenartige, ebenfalls in den Putz hineingekratzte Piktogramme, die Aufschluss über das Leben und die Vorlieben der Ordensfrau Maria Restituta Kafka geben sollen: Sonnen, Kerzen, ‧Fische, Weintrauben, Blumen, Bücher und sogar ein Glas Bier, das über dem Eingang zu entdecken ist. Man ist hin- und hergerissen zwischen Schmunzeln und Schnaufen. Eigentlich schade.

Seinen Frieden schließen kann man mit diesem Bauwerk erst wieder aus der Entfernung. Wenn man den Ort verlassen und sich in die Straßenbahn gesetzt hat, ragt über den Baumkronen von Lesná – in einer fast schon wieder Le-Corbusier-haften Weise – der Kirchturm der Seligen Maria Restituta empor. Die zwei gelben und roten, weit in die Ferne hinausleuchtenden Glockenloggien ganz oben sind ein schöner, sympathischer städtebaulicher Orientierungspunkt. Und so bleibt der letzte Eindruck eines Hauses, das im sehr Kleinen und sehr Großen überzeugt – und dazwischen Abbild eines einst klerikal-kommunistischen Dilemmas ist, in dem die Bautypologie Kirche jahrzehntelang architektonischen Entwicklungsstillstand erleiden musste. Das Projekt in drei Worten: Himmel, Hölle, Himmel.

26. Februar 2022 Der Standard

„Wir dürfen die Fantasie nicht unterschätzen“ Turn On

Die Pariser Architektin Sophie Delhay hat es geschafft, mit den Richtlinien des geförderten Wohnbaus zu jonglieren. Ihre Häuser sind eine Anleitung zur Freiheit. Nächste Woche hält sie einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On.

STANDARD: Wer ist die rote Frau auf den Fotos?

Delhay: Sie sind der Erste, der das fragt. Das bin ich!

STANDARD: Wie denn das?

Delhay: Es war alles organisiert. Die Wohnungen waren gereinigt, der Fotograf Bertrand Verney war mit seiner ganzen Ausrüstung vor Ort, und plötzlich haben wir gemerkt, dass es unmöglich ist, einen zweigeschoßigen, fünf Meter hohen Raum zu fotografieren, ohne dabei einen Größenbezug herzustellen. Es war sonst niemand da. Also haben wir mich als Maßstab inszeniert.

STANDARD: Die Fotos zeigen das Wohnhaus „32 Logements-Cathédrale“ in Dijon. Warum fünf Meter hohe Räume?

Delhay: Jedes Haus, das ich plane, hat seine eigene Religion. Dieses Wohnhaus in Dijon, das wir 2020 fertiggestellt haben, zeichnet sich dadurch aus, dass wir die Wohnzimmer zum Teil zweigeschoßig ausgeführt haben. Viel Raum, viel Licht, viel Großzügigkeit im Sein und Denken. Wir haben uns getraut, dem Wohnhaus den Namen „Cathédrale“ zu geben. Man fühlt sich irgendwie frei.

STANDARD: Sie sprechen von Religion. Wie kann sich diese Religion sonst noch bemerkbar machen?

Delhay: In unserem Projekt „Unité(s)“, ebenfalls in Dijon, sind wir von gleich großen Raumquadraten ausgegangen. Jedes Zimmer hat genau 13 Quadratmeter und ist über Schiebetüren mit den anderen Zimmern verbunden oder auch von ihnen getrennt. Wir geben keine Nutzung vor, sondern überlassen den Bewohnern, ob und wie sie die Räume zusammenlegen wollen. In wiederum einem anderen Projekt in Nantes haben wir uns getraut, jeweils ein Zimmer aus dem Wohnungsverband herauszulösen.

STANDARD: Das heißt?

Delhay: Man kann das Zimmer nur erreichen, indem man die Wohnung verlässt und im Garten oder auf der Terrasse ein paar Schritte durch den Außenraum schreitet. Es ist eine Art Exklave.

STANDARD: Wie reagieren die Bewohner darauf?

Delhay: Unsere Auftraggeber bitten uns meistens, zu jedem Projekt eine kleine Broschüre zu erstellen, in der wir in wenigen Worten das Konzept des Wohnprojekts erklären und niederschreiben, was wir uns dabei gedacht haben. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich das so gut finde.

STANDARD: Warum nicht?

Delhay: Weil jede Erklärung die Fantasie wegnimmt, weil jede Regulierung etwas kaputtmacht. Uns Architektinnen wird immer nachgesagt, wir hätten ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen. Nun, ich glaube auch an die Vorstellungskraft meiner Bewohnerinnen und Bewohner. Wir dürfen die Fantasie der Menschen nicht unterschätzen!

STANDARD: Sind Ihre Wohnkonzepte eine Herausforderung?

Delhay: Für manche wahrscheinlich schon. Für andere sind sie eine Anregung oder sogar eine Fantasiemaschine. In der Regel, wenn nicht gerade Covid ist, besuche ich nach circa zwei Jahren ein Projekt und frage die Bewohner, ob ich mir ihre Wohnungen anschauen darf. Und manchmal bin ich ganz schön überrascht.

STANDARD: Bitte ein Beispiel.

Delhay: In dem Projekt in Nantes, wo ein Zimmer der Wohnung nur über den Garten zu erreichen war, habe ich einen Mann getroffen, der diesen Extraraum als Wohnzimmer nutzt. Ich war ganz perplex. Und dann hat er mir erklärt, dass er seine Tochter nach der Scheidung nur selten sieht – doch wenn er sie bei sich hat, dann wohnen sie hier draußen, wo sie stundenlang spielen, reden und gemeinsame Momente teilen. Ist das nicht schön?

STANDARD: Was machen Sie, wenn ein Mieter mit Ihrer Wohnung überhaupt nichts anfangen kann?

Delhay: Im geförderten Wohnbau in Frankreich bekommt jeder Interessent genau drei Wohnungen präsentiert, aus denen er auswählen kann. Wer mit so einem Konzept nicht zurande kommt, kann auf zwei andere Wohnungen ausweichen. Die Vielfalt der Wohnkonzepte ist kein Problem, sondern eine Bereicherung.

STANDARD: Die meisten Ihrer Wohnprojekte sind sehr rough, haben Sichtbeton an den Wänden oder Metallgitter an der Fassade. Wieso denn das?

Delhay: Jede Entscheidung verändert das gesamte System. Wenn ich mich entscheide, hohe Räume zu machen, Schiebetüren einzubauen oder getrennte Wohnbereiche zu schaffen, dann kostet das Geld, dann muss ich das Geld an anderer Stelle wieder einsparen. Im Wohnhaus „32 Logements-Cathédrale“ mussten wir auf teure Böden und ausgemalte Wände verzichten, sonst wären wir mit dem Budget nicht ausgekommen. Es sind kommunizierende Gefäße.

STANDARD: Müssen Sie sich nicht an gewisse Mindeststandards im sozialen Wohnbau halten?

Delhay: Doch, und diese Mindeststandards definieren die Zimmergrößen, die Fußbodenoberflächen, weiß ausgemalte Wände und vieles mehr. Ich halte mich nicht daran. Aber ich halte mich daran, dass wir pro Quadratmeter Nutzfläche nur ein gewisses Budget verbauen dürfen. Wir verbauen es halt anders.

STANDARD: Das geht?

Delhay: Früher war ich jung und gutgläubig. Ich war eine „tête brûlée“, ein brennender Kopf, eine Art kompromissloser Geist. Und irgendwie hatte ich immer Glück, denn die Bauträger haben das Konzept verstanden – und erkannt, was sie an Mehrwert bekommen, wenn sie woanders auf gewisse Qualitäten verzichten. Heute ist das anders. Die Unternehmen wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie mich zu einem Bauträgerwettbewerb einladen.

STANDARD: Gewinnen Sie oft?

Delhay: Nein, die meisten Wettbewerbe verlieren wir. Aber wenn wir gewinnen, dann mit großer Euphorie unter allen Beteiligten.

STANDARD: Manchmal werden Sie als experimentell bezeichnet. Stimmen Sie dem zu?

Delhay: Nein. Ein Experiment hat immer mit Risiko und Laborversuch zu tun. Ich aber bemühe mich lediglich, ein architektonisches Vokabular für das zu finden, was schon längst da ist – und zwar für eine Gesellschaft, die sich verändert hat, die nach Freiheit und Offenheit verlangt, die nicht mehr in ein paar wenige Standards zu pressen ist. Unsere Wohnkultur braucht dringend eine neue Architektursprache.

STANDARD: Nächste Woche halten Sie einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On. Worüber werden Sie sprechen?

Delhay: Über Freiheit – und darüber, dass es als Architekten, als Architektinnen unsere Aufgabe ist, diese Freiheit zu befreien.

[ Sophie Delhay (48) gründete das Architekturkollektiv Boskop in Lille und leitet seit 2008 ihr eigenes Architekturbüro in Paris. Sie unterrichtet an der École d’Architecture in Versailles. ]

Publikationen

2024

Wien Museum Neu

Der Band ist eine visuelle und essayistische Reflexion über ein bedeutendes Kultur-Bauprojekt an einem der zentralen Orte Wiens in unmittelbarer Nachbarschaft zu Karlskirche, Künstlerhaus und Musikverein.
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Müry Salzmann Verlag

2022

mittendrin und rundherum
Reden, Planen, Bauen auf dem Land und in der Stadt Ein nonconform Lesebuch

Seit über 20 Jahren ist nonconform in Deutschland und Österreich in der räumlichen Transformation tätig. Architektur ist für das interdisziplinäre Kollektiv nie bloß ein fertiges, fotogenes Resultat, sondern immer auch ein lustvoller, horizonterweiternder Prozess, in den die Bürger:innen einer Gemeinde,
Hrsg: Wojciech Czaja, Barbara Feller
Verlag: JOVIS

2022

Brick 22
Ausgezeichnete internationale Ziegelarchitektur

Vom handgemachten Ziegelstein zum hoch entwickelten modernen Produkt: Das Bauen mit gebrannten Tonblöcken schöpft heute aus einem Erbe von neun Jahrtausenden Baugeschichte und dank ihrer vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, ihrer konstruktiven Qualitäten und ihrer Nachhaltigkeit sind Ziegel bis heute
Hrsg: Wienerberger AG
Autor: Wojciech Czaja, Anneke Bokern, Christian Holl, Matevž Celik, Anna Cymer, Isabella Leber, Henrietta Palmer, Anders Krug
Verlag: JOVIS

2021

Frauen Bauen Stadt

Wie weiblich ist die Stadt von morgen? Im Jahr 2030 werden weltweit 2,5 Milliarden Frauen in Städten leben und arbeiten. Traditionell war die Arbeit am Lebenskonzept Polis in ihrer Beauftragung, Planung und Ausführung jedoch männlich dominiert. Frauen Bauen Stadt porträtiert 18 Städtebauerinnen aus
Hrsg: Wojciech Czaja, Katja Schechtner
Verlag: Birkhäuser Verlag

2020

Almost
100 Städte in Wien

Was macht ein Reisender, wenn er nicht reisen kann? Er reist trotzdem. Wojciech Czaja setzte sich im Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 aus Frust auf die Vespa und begann, seine Heimatstadt Wien zu erkunden. Er fuhr in versteckte Gassen, unbekannte Grätzel und fernab liegende Adressen am Rande der Stadt
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Edition Korrespondenzen

2018

Hektopolis
Ein Reiseführer in hundert Städte

Jede Stadt ist anders. Jede Stadt hat ihren eigenen Charakter, aber auch ihre ganz eigenen Geschichten. Der vielreisende Stadtliebhaber Wojciech Czaja widmet sich in seinem Buch Hektopolis genau diesen ortsspezifischen, feinstofflichen Beobachtungen, Erlebnissen und Anekdoten. Porträtiert werden hundert
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Edition Korrespondenzen

2017

Motion Mobility
Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien

In einem von der Grundstückssuche bis zur Fertigstellung interdisziplinären Prozess planten Pichler & Traupmann Architekten, FCP Fritsch, Chiari & Partner als Ingenieure und das Beratungsunternehmen M.O.O.CON in Zusammenarbeit mit der Agentur Nofrontiere Design und SIDE Studio für Information Design
Autor: Wojciech Czaja, Matthias Boeckl
Verlag: Park Books

2012

Wohnen in Wien
20 residential buildings by Albert Wimmer

Wie wohnen die Wienerinnen und Wiener? Inwiefern decken sich architektonisches Konzept und gelebter Alltag? Der Architekturjournalist Wojciech Czaja und die Fotografin Lisi Specht werfen gemeinsam einen Blick hinter die Fassaden des geförderten Wiener Wohnbaus und bitten die Mieter und Eigentümerinnen
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: SpringerWienNewYork

2012

Zum Beispiel Wohnen
80 ungewöhnliche Hausbesuche

Wohnen ist eine zutiefst persönliche Sache. Kein Raum in unserem Leben steht uns so nahe wie unsere eigene Wohnung, wie unser eigenes Haus. Die beiden Autoren Wojciech Czaja und Michael Hausenblas reisen quer durch Österreich und sind zu Besuch bei Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Wirtschaft. Die
Autor: Wojciech Czaja, Michael Hausenblas
Verlag: Verlag Anton Pustet

2007

91° More than Architecture

Architektinnen und Architekten sind Arbeitstiere. Viele von ihnen arbeiten zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 50 Wochen im Jahr. Die wenige Zeit, die zwischen den dichten Arbeitsstunden noch übrig bleibt, ist wie ein Heiligtum und muss als solches respektiert werden. In diesem Sinne ist 91°
Hrsg: Wojciech Czaja, Eternit Österreich, Dansk Eternit Holding
Verlag: Birkhäuser Verlag

2007

Periscope Architecture
gerner°gerner plus

Vor zehn Jahren haben Andreas und Gerda Gerner mit einem Einfamilienhaus begonnen: „Für ein erstes Projekt ist das Haus Hinterberger sehr unkonventionell. Wir haben uns permanent gefragt: Trauen wir uns das? Seitdem hat man sich oft aus dem Fenster gelehnt“ Entstanden ist das schwebende Haus Südsee in
Hrsg: GERNER GERNER PLUS.
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Verlag Holzhausen GmbH

2005

Wir spielen Architektur
Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit

Was ist eigentlich ein Kind? Der Jurist wird uns darauf eine andere Antwort geben als der Soziologe, der Pädagoge eine andere als der Philosoph. Und der Architekt? Wird er schweigen und weiterbauen?
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Sonderzahl Verlag