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„Meine Häuser sind eine Heimat für Verletzlichkeit“
Der Standard

Der Münchner Architekt Peter Haimerl hat eine Vorliebe für kaputte Bauten und urbane Dysfunktionalitäten. Kommenden Samstag hält er einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On in Wien.

25. Februar 2023 - Wojciech Czaja
Standard: Sie gelten als einer der radikalsten Architekten im deutschsprachigen Raum. Sehen Sie das selbst auch so?

Haimerl: Selbstbeurteilung ist eine schwierige Sache. Ich empfinde mich nicht als radikal, aber ich mache eine Architektur, die bis an die Grenzen geht, die sich bemüht, Raum nicht nur als etwas Funktionales zu sehen, sondern immer auch als einen Gedankenraum mit sinnlichen, theoretischen und philosophischen Facetten. Und ja, ich will diese Facetten ohne Kompromiss in die Realität umsetzen.

Standard: Sie haben eine Vorliebe für Schuppen, Stallungen und kaputte Bauernhäuser – aber auch für ausgestorbene und verwahrloste Orte in der Stadt. Woher kommt diese Faszination?

Haimerl: Es ist wie immer im Leben: Gebrochene Charaktere und Lebensgeschichten Gezeichneter sind interessanter als alles, was glatt und eindimensional ist. Mich interessieren Gebäude, die Narben und Nahtoderfahrungen haben, die schon was durchgemacht haben. Es steckt in ihnen eine unverfälschte Wahrheit, die man auch auf die Jetztzeit übertragen kann.

Standard: Was genau können wir von kaputten Häusern lernen?

Haimerl: Die Verletztheit und Verletzlichkeit. Die meisten glauben, es geht in der Architektur um die perfekte Lösung, um die tollste Form, um das schönste Detail. Nein! Es geht darum, Räume zu schaffen, die Würde und Verständnis ausstrahlen und die eine Heimat bieten für die Verletzlichkeit in uns Menschen.

Standard:Ihre Projekte – ob nun Altbau oder Neubau – wirken an sich schon sehr archaisch und dramatisch. Dennoch werden die fertigen Häuser manchmal mit Kühen, Pferden und geheimnisvollen Frauen in Szene gesetzt. Wieso denn das?

Haimerl: Klassische Architekturfotografie langweilt mich zu Tode. Ich möchte über das klassische Bild hinausgehen. Bei der schwarzen Frau, die auf einigen Fotos zu sehen ist, handelt es sich um meine Frau Jutta Görlich, sie inszeniert die Räume gemeinsam mit dem Fotografen Edward Beierle. Dazu betreibt sie Geschichtsforschung zum Ort und zum Haus und verknüpft die Resultate mit Humor und Surrealismus.

Standard: Und dann steht plötzlich eine Kuh in der Badewanne.

Haimerl: Ja, das kann passieren. Dann ist die Badewanne eben nicht nur eine Badewanne, sondern auch ein Behältnis mit Geschichte.

Standard: Seit fast 30 Jahren beschäftigen Sie sich mit der sogenannten Zoomtown. Worum geht es da?

Haimerl: Das Konzept der Zoomtown habe ich schon in den 1990er-Jahren entwickelt. Bei Zoomtown geht es um Europa, denn wenn wir gegen die alten und neuen Supermächte wie USA, Russland, China und Indien kulturell überleben wollen, dann müssen wir damit anfangen, die europäischen Städte als großes Ganzes, als urbanes Kollektiv, als eine Art zusammenhängende Supermetropole zu betrachten: London, Paris, Berlin, Warschau, Madrid, Rom, Wien, Belgrad, Athen, Istanbul und so weiter. Ich bezeichne dieses Netzwerk als UME, als United Metropoles of Europe. Und diese UME sind gemeinsam stark genug, die Fehler der Moderne zu beheben und endlich wieder schöne, lebenswerte, auch menschlich funktionierende Städte daraus zu machen.

Standard: Von welchen Fehlern sprechen wir hier im Speziellen?

Haimerl: Vor allem davon, dass die amerikanische Moderne mit ihren Autos und Autobahnen wie ein Fremdkörper auf den europäischen Kontinent appliziert wurde und diesen in den letzten 70, 80 Jahren massiv verändert und verschlechtert hat. Die europäische Stadt hat seitdem vieles von ihrem historischen Charakter eingebüßt und ist zu einem scheinbar effizienten Straßenraum für individuelle, motorisierte Mobilität geworden. Doch die Wahrheit ist: Das Auto braucht viel Platz – und diesen vielen Platz nimmt es uns Menschen weg. Das müssen wir dringend wieder reparieren.

Standard: Wie?

Haimerl: Mit dem Verdrängen von Autos, mit dem Rückbau von Straßen, mit dem Entrümpeln und Entsiegeln des öffentlichen Raums und mit der Implementierung eines neuen paneuropäischen öffentlichen Verkehrsnetzes – einer Art Europa-Schnellbahn, die aber nicht nur bis zum Hauptbahnhof fährt, sondern bis in die wichtigsten Subzentren und Quartiere hineindringt.

Standard: Klingt gut. Aber wozu braucht es das?

Haimerl: Weil die europäische, historisch gewachsene Stadt ihre eigene Zukunft finden muss, wenn sie kulturell überleben will. Mit einer amerikanischen Moderne-Vision wird das nicht gelingen. Dass wir jetzt schon an die räumlichen und verkehrstechnischen Grenzen stoßen, zeigt sich in vielen europäischen Städten. Einige davon haben bereits begonnen, radikal umzudenken.

Standard:Das diesjährige Architekturfestival Turn On beschäftigt sich mit den geopolitischen Verwerfungen des letzten Jahres. Welche Auswirkungen hat das auf die europäische Stadt?

Haimerl: Das ist eine große Frage! Die Corona-Pandemie, die Energiekrise, der Krieg in der Ukraine und die politische Willkür Russlands haben dazu geführt, dass wir heute in einem Angstraum leben. Und ein solcher Angstraum lässt keine Visionen zu. Lieber flüchtet man ins Lokale, ins Regionale, ins Ruhige, ins Nostalgische, ins intellektuell und emotional gerade noch Fassbare. Es scheint jetzt nicht die Zeit für große Sprünge zu sein – obwohl wir gedanklich, technologisch und wirtschaftlich dazu imstande wären.

Standard: Was wünschen Sie sich?

Haimerl: Dass wir die Kraft der multiplen Krisen dazu nutzen, massiv umzudenken. Ich wünsche mir ein Bekenntnis zu einem Europa ohne Partikularinteressendebatten, ich wünsche mir ein architekturpolitisches und verkehrsräumliches Miteinander, und ich wünsche mir die sofortige Abschaffung von Kurzstreckenflügen.

Peter Haimerl (62) leitet ein Architekturbüro in München und beschäftigt sich mit der Revitalisierung alter Häuser sowie mit der Neuerfindung der europäischen Stadt. Von 2018 bis 2023 war er Professor an der Kunstuni in Linz. Am Samstag, den 4. März, hält er einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On.

Turn On

Die multiplen Krisen der letzten Jahre, allen voran der Krieg in der Ukraine und die Sichtbarwerdung von Abhängigkeiten und Fehlentwicklungen, machen auch vor dem Bauen und Wohnen nicht halt. Mit den konkreten Auswirkungen dieser Zeitenwende befasst sich das Architekturfestival Turn On, das kommende Woche bereits zum 21. Mal über die Bühne geht. Vorgestellt werden etwa das kürzlich eröffnete Parlament, der Ikea am Westbahnhof, das neue Wien-Museum, das Wohnprojekt The Marks, der Campus Tower Hamburg, diverse innovative Modelle im geförderten und freifinanzierten Wohnbau sowie ein Revitalisierungskonzept für Bad Gastein, das „Manhattan der Alpen“. Mit Vorträgen von PPAG, DMAA, feld72, gaupenraub +/–, Pedevilla, bergmeisterwolf, Ripoll Tizón, Sergison Bates, Peter Haimerl u. v. m. Beginn Donnerstag, 2. März, 14.30 Uhr. Bis Samstag, 4. März, 22 Uhr. ORF-Radiokulturhaus, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien. Eintritt frei.

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