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Ganz schön hässlich
Der Standard

Über Geschmack lässt sich nicht streiten, heißt es. Oh doch! Eine Ausstellung in Linz widmet sich nun der „Scheeheit“ und der „Schiachheit“ in der Architektur – und bringt wichtige Erkenntnisse zutage.

22. April 2023 - Wojciech Czaja
Die Fassade in Hellblau, Orange oder Weiß, das Dach in Gelb, Blau oder Rot, dazu bunte Fensterläden, das Ganze wahlweise mit oder ohne Zaun, manchmal gibt es noch einen Schornstein obendrauf, am Ende des Dorfes schließlich eine Kirche mit 10,3 Zentimeter hohem Plastiktürmchen. „Die frühkindliche Prägung ist voll von diesen architektonischen Stereotypen“, sagt Franz Koppelstätter. „Im Umgang mit diesen Spielzeugen lernen wir bereits in frühen Jahren, was wir später einmal als schön oder hässlich empfinden werden. Es gibt fast kein Entkommen.“

Das Modell „1/22 Häuschen ohne Zaun“ ist in der Preisliste des oberösterreichischen Spielwarenherstellers Hoffmann, Stand 1962, mit fünf Schilling ausgepriesen. „513 Bergkapelle“ schlägt mit zwölf Schilling zu Buche. Die Miniaturarchitekturen im Maßstab 1:87 von Hoffmann sowie vom deutschen Schwesterunternehmen Faller zählten jahrzehntelang zu den meistverkauften Spielzeugen in Europa. Die einen spielten damit Architektur, eine Hoffmann-Spielesammlung trägt sogar den Titel „Der kleine Städtebauer“, die anderen, vielleicht etwas älteren Spieler nutzten sie als Kulisse für ihre Märklin-Modelleisenbahn.

„Ob Modellhäuschen, Puppenhäuser, Puppenmöbel, Pixi-Bücher, Kindervideos, Kinderlieder oder Märchen, die am Abend vor dem Schlafengehen vorgelesen werden“, sagt Koppelstätter, Leiter des afo architekturforum oberösterreich, „in allen materiellen und immateriellen Medien, die wir in unserer Kindheit konsumieren, stecken bereits festgefahrene Geschmacksbilder drin, die altmodische, längst veraltete Wohn- und Lebensmodelle vordeterminieren, von denen wir uns später nur schwer wieder trennen können.“

Genau diesem Phänomen widmet sich die Ausstellung schee schiach (im breiten Dialekt gesprochen, mit einem schön verschluckten Nasallaut am Ende), die Koppelstätter konzipiert und gemeinsam mit Kollegen und Kuratorinnen umgesetzt hat. Seit Freitag ist die Ausstellung im afo zu sehen.

„Schon seit Jahrtausenden macht sich die Menschheit Gedanken darüber, was schee und was schiach ist, und bis heute gibt es darauf keine Antwort. Fachleute und Laien reden aneinander vorbei und haben meist weder eine gemeinsame Sprache noch eine übereinstimmende Definition von Schönheit.“

Der Traum aller Österreicher

schee schiach ist in mehrere Kapitel unterteilt und soll über die gesamte Laufzeit adaptiert und um zeitgenössische und künftige, visionäre, utopische Ansätze ergänzt und erweitert werden. Eine Annäherung in progress sozusagen. Neben der Spielzeugecke widmet sich die Ausstellung immer wieder dem Traum aller Österreicher, dem Einfamilienhaus. Nach wie vor sehen 65 Prozent aller Erwachsenen (Gallup-Umfrage, 2021) das Einfamilienhaus als ideale, erstrebenswerte Wohnform. Und das, obwohl die Kosten für ein Durchschnittseinfamilienhaus samt Durchschnittsgrundstück in den letzten Jahren regelrecht explodiert sind: Waren es 2018 noch 386.000 Euro pro Haus und Grund, so muss man laut einer Studie des Market-Instituts heute bereits 537.600 Euro hinblättern.

Geschmacksdiktatur

Wolfgang Stempfer, Dozent und Innenarchitekt, widmet sich in der Ausstellung der Genese des Einfamilienhauses und findet die Ursprünge dafür in der römischen Antike. Schon ab dem zweiten Jahrhundert vor Christus war der Gestank Roms den Angehörigen der Oberschicht ein Dorn in der Nase, worauf sie sich an den Stadträndern eine Villa suburbana errichten ließen, um sich dort dem Nichtstun und den wohligen Düften der Natur hinzugeben. In der Renaissance erfuhr die Einfamilienvilla im Latium, im Veneto und in der Toskana einen neuen Aufschwung.

„Und bis heute“, sagt Stempfer, „wird das Einfamilienhaus trotz aller ökologischen, ökonomischen und volkswirtschaftlichen Nachteile – was etwa Straßenbau, Ausbau der Infrastruktur und finanzielle Belastung der öffentlichen Hand betrifft – von der Politik propagiert.“ Sei es hierzulande in Form von Förderungen und Pendlerpauschalen, sei es in den USA, wo das Einfamilienhaus immer noch als heteronormatives Mantra beworben wird, um die Menschen mit Eigentum, Hypotheken und materiellem Patriotismus an das eigene Land zu binden. In einem Inserat des Own Your Home Committee anno 1922 heißt es: „The man who owns his home – is a better worker, husband, father, citizen and a real American.“

Die vielleicht stärkste ästhetische Prägung jedoch, die im deutschsprachigen Raum der Gesellschaft aufgebürdet wurde, meint der Linzer Kunst- und Architekturhistoriker Georg Wilbertz, sei im Nationalsozialismus zu beobachten gewesen. „Das NS-Regime war unter anderem auch ein Geschmacksregime“, sagt er. „Es gab eine starke propagandistische Auseinandersetzung mit Stil, Ästhetik und Angemessenheit.“ Manche Bücher wie beispielsweise Gerdy Troosts Das Bauen im neuen Reich, herausgegeben im Gauverlag Bayerische Ostmark, erreichten Auflagen von bis zu 40.000 Stück.

„Die Maler der deutschen Romantik haben uns das Antlitz unserer Heimat zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts treu bewahrt“, schreibt Troost in ihrem Bestseller. „Die sorgfältige Durchbildung jedes einzelnen Baues, der in Deutschland errichtet wird, nach den Grundgesichtspunkten eines deutschen Kulturempfindens, bringt uns dem bedeutsamen Ziele näher, die Wohnstätten unseres Volkes auch seelisch zu seiner Heimat zu machen. Unter sicherer Führung überwindet die neue deutsche Baukultur das seelische Elend, das die kunstvernichtende Unkultur des liberalen Zeitalters verschuldet hat.“

Auch wenn sich die politischen Vorzeichen in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert haben, so hat sich in vielen Teilen der Gesellschaft bis heute dennoch eine Geschmacksdiktatur erhalten, die über „schee“ und „schiach“ entscheidet – seien es diktatorische Regimes in Zentralasien, seien es Bauinnungen, Baustofflobbys, Fertighaushersteller oder konservative Gestaltungsratgeber-Plattformen auf Länderebene, wie sie etwa in Niederösterreich zu finden sind. Doch Vorsicht!

Keine Einbahnstraße

„Für den Gap zwischen schee und schiach sind aber nicht nur die anderen verantwortlich“, sagt afo-Leiter Franz Koppelstätter, „sondern eben auch die Architekturschaffenden selbst. Das kulturelle und kommunikative Missverständnis ist keine Einbahn. Auch Architektinnen und Architekten verstehen oft nicht, was andere Menschen unter Schönheit verstehen. Und das ist ein Problem. Wir wollen diese Übersetzungslücke sichtbar machen. Und zwar ohne Boulevard-Bashing.“

Die Ausstellung „schee schiach“ ist noch bis 23. Juni 2023 zu sehen. In Kooperation mit dem afo werden kommende Woche beim Crossing-Europe-Filmfestival Linz einige Kurz- und Langfilme zum Thema gezeigt. Lotte Schreiber hat die Auswahl kuratiert. Zu sehen ist u. a. „Retreat“ von Anabela Angelovska, ein 30-minütiger Dokumentarfilm, der der Frage nachgeht, warum in Nordmazedonien plötzlich zuhauf pseudoluxuriöse Südstaatenvillen aus dem Boden sprießen. 26. April bis 1. Mai 2023.

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