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Wenn Maschinen träumen lernen
Spectrum

Bedeutet der Erfolg der künstlichen Intelligenz den Sieg des Ausprobierens über das Nachdenken? Eine Ausstellung im Wiener MAK sucht Antworten und lädt zu einer Reise in die neue Virtualität.

6. Mai 2023 - Christian Kühn
Es gibt kaum ein Thema in der langen Geschichte der industriellen Revolution, das so oft totgesagt wurde wie die künstliche Intelligenz. Ihre Geburtsstunde ist relativ einfach zu bestimmen: der Darthmouth Workshop, ein 1956 von Marvin Minsky organisiertes Treffen von Wissenschaftlern, an dem u. a. Herbert Simon, Allen Newell und Paul McCarthy teilnahmen. Minsky war einer der Miterfinder künstlicher neuronaler Netzwerke und eine der treibenden Kräfte der KI-Forschung; Newell und Simon propagierten die Idee eines „General Problem Solvers“; McCarthy empfahl die Speicherung des gesamten Wissens der Menschheit in einheitlicher Form. Das ist in Summe – vereinfacht – das Rezept, auf dem auch die heute erfolgreichen KI-Systeme aufbauen.

Die Geschichte der KI ist eine Abfolge großer Versprechungen, gefolgt von abrupten Abstürzen. Nach dem ersten Boom geriet die KI-Forschung in den Jahren 1974 bis 1980 ins Abseits, erhielt in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre neuen Auftrieb, vor allem durch das vom japanischen Industrieministerium massiv geförderte „Fifth Generation“-Projekt“, das eine neue Ära der Digitalisierung versprach, aber seine Ziele weit verfehlte. Bis 1993 wurden über 300 KI-Unternehmen in Konkurs geschickt oder aufgekauft. Der nächste „KI-Winter“ war nicht so frostig wie die vorigen. Im neuen Jahrtausend zeichnete sich das Potenzial der Technologie im Umfeld von Internet, steigender Rechenleistung und besserer Algorithmen ab. Aber bis in die 2010er-Jahre war es schwer, Geldgeber zu finden, die in ein KI-Unternehmen zu investieren bereit waren.

Inzwischen scheint die Technologie aber ihre Versprechungen zu halten, und es ist zu erwarten, dass sie unsere Lebenswelt und unser Selbstverständnis dramatisch verändern wird. Aktuelle KI-Systeme schlagen jeden menschlichen Spieler in Schach und seit Kurzem in Go; sie verstehen Witze; sie können Bilder deuten, übersetzen Texte auf hohem Niveau in andere Sprachen und verfassen Essays und Gedichte, die sich mit denen von Menschen messen können.

Auch im Bereich der Bilderzeugung haben KI-Systeme wie DallE oder Midjourney neue Maßstäbe gesetzt. Sie generieren Bilder als Antwort auf eine verbale Eingabe, in der das gewünschte Bild inhaltlich und stilistisch beschrieben wird. Der menschliche Einfluss ist damit noch gegeben, die Ausführung liegt aber in der Hand des Computers. Die Ergebnisse können verfeinert oder durch eine modifizierte Beschreibung verändert werden. Derzeit haben die entstehenden Bilder noch einen leicht surrealistischen Charakter, der aber in Zukunft ein Sonderfall auf einer Skala von photorealistisch bis psychedelisch sein wird. Indem sie sich nicht vollständig kontrollieren lassen, sind diese „generativen“ Systeme der endgültige Sieg des Ausprobierens über das Nachdenken. In Architektur und Design treffen diese Systeme auf ein Feld, in dem schon fast so lange mit Computern experimentiert wird, wie es den Begriff KI gibt.

Ergebnis dieser Experimente waren Computer-Aided-Designsysteme zur Planerstellung und zum Modellieren von dreidimensionalen Geometrien, die sich heute zum Building-Information-Modelling (BIM) weiterentwickelt haben. BIM speichert im digitalen Modell nicht nur Geometriedaten, sondern auch Kennwerte, aus denen sich etwa der Energieverbrauch für Herstellung und Betrieb von Bauten ableiten und optimieren lässt. Dazu kamen Programme zur immer realistischeren Visualisierung, die auch in Computerspielen eingesetzt werden, und die 3-D-Produktion von Modellen und Bauteilen über Robotik- und Druckverfahren.

Die von Marlies Wirth und Bika Rebek kuratierte Ausstellung, die ab kommendem Mittwoch unter dem Titel „Imagine: Eine Reise in die Neue Virtualität“ im MAK zu sehen ist, verbindet diese Themen zu einem gelungenen Panorama von Werken, die in den vergangenen zehn Jahren entstanden sind. In vier Kapiteln – „Speculative Narratives and Worldbuilding“, „Research Investigations“, „Dreamscapes“ und „KI and Algorithmic Variation“ – werden Arbeiten in unterschiedlichen Medien gezeigt: Filme wie Liam Youngs „Planet City“ über eine Stadt für zehn Milliarden Menschen; eine Mixed-Reality-Installation von Lara Lesmes und Frederik Hellberg zum Thema „Portale“ als Instrumente der Verbindung und der Ausschließung; Genevieve Goffmans 3-D-gedruckte Miniaturen treffen auf das „Doghouse“ der Gruppe SPAN (Sandra Manninger und Matias del Campo), der Rückübersetzung eines KI-generierten Bilds in einen fast monumentalen 3-D-Druck, der von Roboterhunden bewohnt wird. Gegenüber zeigt Lee Pivnik, Gründer des Institute of Queer Ecology, KI-unterstützte, in Zusammenarbeit mit lokalen Gruppen in Südflorida entwickelte Architekturvisionen.

Dass die Ausstellung auf historische Tiefe verzichtet, ist Programm. Die virtuellen Welten, die hier gezeigt werden, brauchen keinen Stammbaum. Soweit sie KI-generiert sind, haben sie sowieso alles Wissen der Welt in sich aufgesogen.

Muss man sich vor KI-Systemen fürchten? Als Kränkung, weil sie in manchen Bereichen mehr leisten als ein einzelnes Gehirn, sollten wir sie nicht empfinden. Der Gedanke, „klüger“ sein zu wollen als eine Bibliothek, ergibt ja auch keinen Sinn. Im Idealfall werden sie neue Mitspieler und Mitgestalter, vielleicht auch Botschafter und Moderatoren, die mit ihrem überlegenen Zugriff auf große Datenmengen Sachverhalte transparent machen und zwischen Interessen vermitteln. Dass sie, wie jede disruptive neue Technik, großes Missbrauchspotenzial haben und entsprechend reguliert werden müssen, sollte sich von selbst verstehen.
Wer nach der Ausstellung im MAK noch Zeit hat, dem sei im Anschluss ein Besuch im Architekturzentrum Wien empfohlen, dessen aktuelle Werkschau der 82-jährigen pakistanischen Architektin Yasmeen Lari vorige Woche an dieser Stelle von Franziska Leeb besprochen wurde. Ganz abgesehen von der Kluft zwischen den dort und hier gezeigten Architekturwelten: Nach einem bewegten Leben alt und weise zu werden ist eine Erfahrung, die künstlichen Intelligenzen für immer unzugänglich bleiben wird.

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