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Mit dem Rollator zum Regenbogen
Der Standard

Schwul, lesbisch und bi. Trans und inter: Das queere Wohnen und Pflegen im hohen Alter ist oft ein Tabu. Nicht so im neuen Lebensort Vielfalt in Berlin. Ein Besuch vor Ort.

30. September 2023 - Wojciech Czaja
Ich habe in meinem Leben echt nichts anbrennen lassen, habe auf der ganzen Welt herumgemacht und Spaß gehabt“, sagt Peter-Lutz Dreißig. Früher, erzählt er, hatte er eine Werbeagentur, hat sich mit Katalogproduktion beschäftigt, ein Dasein zwischen Hochglanz und Deadlines, doch das ist lange her. „Mein Mann ist vor vier Jahren verstorben, wir waren 36 Jahre lang ein Paar, es war eine schöne Zeit. Und jetzt, na ja, jetzt fängt eine andere schöne Zeit an. Erstens bin ich nicht mehr der Adonis, der ich vielleicht einmal war, und zweitens kommt das Leben auch mal zur Ruhe.“

Intergenerationen-Wohnhaus

Peter-Lutz ist 78. Vor ein paar Wochen hat er seine 120 Quadratmeter große Eigentumswohnung aufgegeben und ist hierher gezogen, in den sogenannten Lebensort Vielfalt am Berliner Südkreuz, nur wenige Schritte vom riesigen Bahnknoten entfernt. Bedingt durch die günstige Verkehrssituation mit ICE, Regio und S-Bahn wurde hier in den letzten Jahren ein ganzer Stadtteil namens Schöneberger Linse aus dem Erdboden gestampft. Entstanden ist ein Quartier mit Wohnen, Gewerbe und einigen Energiekonzernen, die hier ihre Headquarter-Zelte aufgeschlagen haben.

Lebensort Vielfalt ist ein Wohnprojekt für schwule Männer, lesbische Frauen, Transmenschen, Intersexuelle und viele andere, die sich der LGBTIQA-Community zugehörig fühlen und die Angst davor haben, im hohen Alter zu vereinsamen. „Weißt du, ich stamme aus einer Generation, die ihre Sexualität und Identität lange Zeit verdrängt hat und die sich erst spät geoutet hat“, sagt Peter-Lutz, fünfte Etage, Blick in den Hof. „Wir haben viel Hass und Diskriminierung erlebt, wir haben uns unsere Sichtbarkeit und gesellschaftliche Integrität erst erkämpfen müssen. Viele von uns haben Nachholbedarf. Jetzt bin ich hier, um meine neuen Nachbarinnen und Nachbarn an der Hand zu nehmen – und uns noch ein paar feine Jahre zu gönnen.“

Alter, Pflege, Homosexualität. Ein sensibles Thema. Oft ein Tabu. Die Schwulenberatung Berlin, eine Pionierin auf diesem Gebiet, hat sich dieser Aufgabe schon vor vielen Jahren angenommen und hat 2012 in der Niebuhrstraße, Berlin-Charlottenburg, das europaweit erste Alten- und Pflegeheim für Lesben und Schwule eröffnet. Fünf Jahre später folgte am Berliner Ostkreuz ein LGBTIQA-Haus mit Wohngemeinschaften. Und nun ist am Südkreuz das bislang größte Projekt mit insgesamt 69 Wohnungen und einem zweistöckigen Sozialberatungszentrum entstanden. Am Freitag, dem 6. Oktober, wird das Haus feierlich eröffnet.

„Seit unserem ersten Altenwohnprojekt vor elf Jahren haben wir viel dazugelernt“, sagt Geschäftsführer Marcel de Groot. „Wir wissen heute, dass die Altersgruppe nicht zu homogen sein darf. Erstens ist das in sozialer und kommunikativer Hinsicht ein Nachteil, zweitens sind wir als Verein komplett überfordert, wenn plötzlich das halbe Haus pflegebedürftig wird. Daher haben wir uns entschieden, dieses Projekt als Intergenerationen-Wohnhaus zu konzipieren. Es geht um gegenseitige Hilfe und Unterstützung im Alltag. Dazu braucht es Jung und Alt.“

Neben vielen Senioren und Seniorinnen im Alter von 70, 80, 90 Jahren sind hier auch einige 30- und 40-Jährige eingezogen: Ärztinnen, Sozialarbeiter, Studierende. Mit einem Konzeptpapier und Motivationsschreiben konnten sich die jungen Leute für eine geförderte oder freifinanzierte Lebensort-Wohnung bewerben. Eine Weltpremiere der Inklusion und gesellschaftlichen, intergenerativen Integration befindet sich im Erdgeschoß: Im Kindergarten „Rosarote Tiger und Gelbgrüne Panther“, ebenfalls betrieben von der Schwulenberatung Berlin, gibt es Platz für 90 Kids.

„Rund ein Drittel unserer Kinder stammen aus Regenbogenfamilien im Haus oder auch aus dem Kiez“, sagt die Kindergartenleiterin Silke Leifheit. „Die restlichen 70 Prozent kommen aus ganz normalen Familien, was auch immer das sein soll, weil sich die Eltern für ihre Kinder eine offene, lebensbunte, im Herzen tolerante Umgebung wünschen.“ Hier lernen die Kinder nicht nur Nonbinärität, Männer mit Nagellack und den Umgang mit Personalpronomen wie they/them kennen, sondern auch, dass das erfolgreiche und dringend benötigte pädagogische Konzept längst nicht allen gefällt. Immer wieder verirren sich ein paar AfD-Sympathisanten mit gar nicht so bunten Fahnen hierher, um vor dem Kindergarten gegen den Lauf der Welt zu demonstrieren.

Pinke Buchstaben

„Damit werden wir schon fertig“, sagt Marcel de Groot. „Ich bin davon überzeugt, dass jedes Lebenskonzept auf dieser Welt, um zu erstarken und selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft zu werden, ein Symbol, eine bauliche Manifestation benötigt, und die ist uns hier wunderbar gelungen. Und nachdem wir als Verein hier nicht nur eingemietet sind, sondern das Grundstück mithilfe von Spenden, Krediten und Erbschaften gekauft und das Wohnhaus eigenständig errichtet haben, können wir die soziale, kulturelle, pädagogische Nutzung nachhaltig sicherstellen.“ Das Gesamtinvestitionsvolumen beträgt 25 Millionen Euro, davon machen die Nettobaukosten rund 17 Millionen Euro aus.

Der Lebensort Vielfalt, entstanden nach Plänen von Roedig Schop Architekten, die den Masterplan für die Schöneberger Linse erstellt und mit der Schwulenberatung Berlin schon öfter zusammengearbeitet haben, ist Resultat eines sogenannten Konzeptverfahrens, ausgeschrieben vom Land Berlin, bei dem unterschiedliche Sozialträger gegeneinander antreten mussten. Fraglich, ob ein konkurrierender Prozess zwischen unterschiedlichen Vereinen und LGBTIQA-Plattformen dafür der richtige Weg ist. Im Laufe der Jahre sind viele Tränen geflossen. Doch das Resultat entschädigt. In pinken Buchstaben leuchtet die Botschaft dieses Hauses über dem Eingang: Lebensort Vielfalt. Bald wird die Regenbohnenfahne gehisst.

Durch die Welt knutschen

Es ist ein vielfältiger Lebensort für Hardy Selzer (76), der in der Pandemie gemerkt hat, wie sehr er auf soziale Kontakte angewiesen ist, obwohl er früher immer streitsüchtig war. Für Gregory Peercy (59), der in einer Kleinstadt in Kentucky aufgewachsen ist und sich selbst nach einem psychischen Breakdown als „maybe a little bit crazy“ bezeichnet. Für Monika Mayerhofer-Kammann (75), die mit ihrer Ehefrau Elke, einer ehemaligen DDR-Hochleistungssportlerin, im Leben nicht immer mit offenen Armen empfangen wurde, nun aber das Gefühl hat, endlich angekommen zu sein.

Oder für Karl-Heinz Skupin (80), der sich in seiner Jugend durch die Welt geknutscht hat und der mit seinem Mann Hans-Georg in eine 60-Quadratmeter-Wohnung im sechsten Stock gezogen ist. „In diesem Alter nochmal umziehen! Doch jetzt haben wir einen Ort, wo wir zwei alte Dackel vor dem Haus auf der Bank sitzen werden und nochmal das Leben Revue passieren lassen können. Selbst wenn wir uns eines Tages im Rollator durch die Gegend schieben müssen: Das ist jetzt unser Zuhause.“

Ähnliche Wohnprojekte wurden kürzlich in Köln, Lyon und Stockholm realisiert, in Planung sind Rom, Marseille und Barcelona. Möge die Idee mit dem Rollator in die Welt ausgerollt werden.

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