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«Land ist überbewertet», sagt der nigerianische Architekt Kunlé Adeyemi. Er entwirft schwimmende Bauten, die dem steigenden Meeresspiegel trotzen
Neue Zürcher Zeitung

Südkorea plant einen frei schwimmenden Flughafen. Die Malediven planen einen ganzen Stadtteil über einer Lagune. Ein Vordenker des Bauens auf dem Wasser ist Kunlé Adeyemi. In seinem Buch plädiert er dafür, mit Wasser zu leben, statt es zu bekämpfen.

18. Oktober 2023 - Andres Herzog
Aufgrund des Klimawandels könnte der Meeresspiegel bis 2100 um bis zu einen Meter ansteigen. Besonders betroffen wäre Afrika, wo über 100 Millionen Menschen dem Risiko anschwellender Ozeane ausgesetzt sein sollen. «Lagos ist eine der am schnellsten sinkenden Städte der Welt und könnte bis 2100 verschwinden», schreibt der nigerianische Architekt Kunlé Adeyemi im Buch «African Water Cities». Die flache Küste erodiert, und der steigende Meeresspiegel erhöht das Flutrisiko. Hinzu kommen Hochwasser von Flüssen und Wirbelstürme. Parallel zum Meeresspiegel nehmen die Einwohnerzahlen zu: In Subsahara-Afrika wird bis 2050 mehr als die Hälfte des globalen Bevölkerungswachstums erwartet.

Städteplaner sind gefordert. Normalerweise reagieren Küstenorte mit Aufschüttungen und Dämmen, die den Wert der bestehenden Liegenschaften steigern. Doch dieses Vorgehen berge Umweltrisiken, heisst es im Buch. Vor allem aber: Die Investitionen benötigen viel Kapital, weshalb sie nur in finanzstarken Regionen möglich sind. Informelle Siedlungen, in denen ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Afrikas lebt, kommen dafür aus ökonomischen und politischen Gründen in der Regel nicht infrage. Es braucht andere Lösungen. Adeyemi fragt deshalb rhetorisch: «Warum Wasser bekämpfen, wenn wir damit leben lernen können?»

Schwimmende Schule

Adeyemi wurde bekannt mit seiner Wasserarchitektur. 2013 baute der Architekt in der Lagune von Lagos eine schwimmende Schule, die aus dreieckigen Holzelementen aufgebaut war. Das Gebäude dockte im Stadtteil Makoko an, wo 100 000 Personen in informellen Pfahlbauten über dem Wasser wohnen. Die Bauteile für das «Makoko Floating System» wurden lokal vorgefertigt und vor Ort zusammengebaut. Adeyemi realisierte Versionen davon in Belgien, China, Kap Verde und an der Architekturbiennale 2016 in Venedig. Allerdings zeigte sich im selben Jahr, dass das Wetter selbst schwimmenden Bauten etwas anhaben kann. Nach heftigem Regenfall kollabierte die Schule in Lagos. Das Gebäude war damals jedoch bereits nicht mehr in Gebrauch und sollte abgerissen werden.

Die Schule wurde mehrfach ausgezeichnet. Sie ist Kunlé Adeyemis bekanntestes Gebäude. Der Architekt hat Pläne entwickelt, um den ganzen Stadtteil von Makoko mit Bauten über dem Wasser aufzuwerten. Vor dem Delta des Mekong plant er ein schwimmendes Spital. Doch Bauen auf dem Wasser hat seine Tücken. Der Architekt hat seine Entwürfe denn auch vorwiegend an Land realisiert, in Simbabwe, Nigeria, Tansania und Saudiarabien.

Dennoch glaubt Adeyemi an die Architektur auf dem Wasser. «Land ist überbewertet», schreibt er unverblümt. «Wasser ist ein Gewinn und ein Gemeingut.» Laut dem Programm UN-Habitat könnten schwimmende Städte die weltweite Wohnungsnot lindern. «Forbes» sieht darin gar «den nächsten grossen Immobilienboom». In naher Zukunft werden die Menschen in gefährdeten Küstenstädten mehrheitlich auf dem Wasser leben, ist Adeyemi überzeugt. «Und afrikanische Städte werden im Fokus dieser Veränderung sein.»

Das Buch liefert einen Überblick zum Bauen am, über und mit dem Wasser. Die Palette ist breit: Häuser können schwimmen, mit Pfählen im Boden verankert sein oder das Regenwasser aufnehmen und zurückhalten in sogenannten Schwammstädten. Dabei geht es um den Umgang mit Überflutungen, die Versorgung der Bevölkerung mit Wasser oder versiegende Quellen. Auch Themen wie Migration oder maritimer Handel streift das Buch. Wasser ist die Lebensader vieler Städte. Starke Bilder des Fotografen Iwan Baan von Märkten auf Booten und überschwemmten Strassen machen das Thema greifbar.

Das Buch ist ein Weckruf, sich dem Thema mit Adaptation und Resilienz zu stellen. Gerade in Afrika haben die Menschen viel Erfahrung damit, sich schwierigen Bedingungen mit einfachen Mitteln anzupassen. Adeyemi plädiert für die Koexistenz von Architektur und Natur, statt beides mit Technik voneinander zu trennen. Er träumt von einem Leben mit dem Auf und Ab von Ebbe und Flut. Dabei stehen Lebensrealitäten und Konstruktionsweisen im Zentrum, bei denen gebaute und gesellschaftliche Strukturen eng verwoben sind.

Grossprojekt in den Malediven

Auf dem Wasser zu bauen, kann nicht nur für den informellen Sektor attraktiv sein. 2022 erteilte die Regierung der Malediven die Baubewilligung für eine schwimmende Stadt in einer Lagune, die Wohnraum für 20 000 Menschen sowie Plätze, Restaurants, Schulen, Moscheen, Läden aufnimmt. Die zweigeschossigen Wohneinheiten sind über Stege miteinander verbunden und auf die obere Mittelschicht im Inselstaat ausgerichtet, mit Preisen ab 250 000 Dollar.

Entworfen hat die Lagunenstadt das niederländische Büro Waterstudio, das seit zwanzig Jahren schwimmende Gebäude baut. Hausboote kennt man in den Niederlanden seit langem. 2010 entstand in Amsterdam eine ganze Siedlung mit 60 Häusern. Dort hat sich gezeigt: Die Bauten müssen stabil im Wasser liegen, sonst werden ihre Bewohner seekrank. Neben Wohnbauten sind Infrastrukturprojekte eine Option. Südkorea plant einen frei schwimmenden Flughafen. Es gibt Ideen für Gewächshäuser auf dem Wasser, um überschwemmte Gebiete landwirtschaftlich zu nutzen.

Die Pläne in den Malediven sind ambitioniert. Wichtige Fragen zur Dauerhaftigkeit und zur Ökologie bleiben offen, weil Langzeiterfahrungen mit ganzen schwimmenden Quartieren fehlen. Ob der top-down geplante Stadtteil angenommen wird von der Bevölkerung, ist eine andere Frage. Zudem sind der Bau und die Instandsetzung teurer als an Land. «Aber die Entwicklungskosten insgesamt sind günstiger, weil Land unter Wasser weniger kostet als Land mitten in einer Stadt», sagt der Architekt Koen Olthuis von Waterstudio in einer Dokumentation des ZDF.

Olthuis ist überzeugt, dass das Projekt erst der Anfang ist. «Die hundert grössten Städte liegen am Wasser. Sie werden anfangen, ihre Wasserflächen zu nutzen.» Skeptischer ist Aminath Shauna, die Umweltministerin der Malediven. «Sind schwimmende Städte und Infrastrukturen wirklich ausgereift genug?», fragt sie. «Sie sind eine interessante Idee. Aber ich bezweifle, dass sie für den Klimawandel die richtige Lösung sind.» Das wirkliche Problem sei die weltweite Reduktion der CO2-Emissionen.

Schwimmende Konstruktionen sollen weniger stark in die Umwelt eingreifen, so die Promotoren. Doch bis anhin bleiben sie eine Nische. Meist lautet die Devise: mehr Infrastruktur – Land aufschütten, Deiche und Dämme bauen, Wellenbrecher und Sturmflutwehre konstruieren. Die Niederlande haben einen Grossteil ihrer Landesfläche dem Meer abgetrotzt. Venedig hat letztes Jahr einen beweglichen Schutzwall in Betrieb genommen, der die Lagunenstadt vor Hochwasser bewahrt. New York hat seine Küsten umgestaltet, um besser auf Hurrikane reagieren zu können.

Ob am Wasser oder auf dem Wasser: Der Mensch ist wie Noah der Natur nicht ausgeliefert. Die Städte müssen aber auf das sich verändernde Klima reagieren. Dafür sind unkonventionelle Ideen gefragt, wie sie Kunlé Adeyemi vorschweben, der damit auch die Gesellschaft ein Stück weit umbauen will. «Die Herausforderungen bieten grosse Chancen, Menschen in die Lage zu versetzen, anders zu denken, anders zu bauen und hoffentlich anders zu leben.»

[ Kunlé Adeyemi, Suzanne Lettieri, Berend Strijland: African Water Cities. nai010 publishers, Rotterdam 2023. € 34.95. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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