Artikel

Wie ein Stapel aus 112 Fotos
Der Standard

Vor wenigen Tagen wurde das Photography Seoul Museum of Art eröffnet. Die skulpturale Black Box des Wiener Architekten Mladen Jadrić steht am äußersten Stadtrand. Man fragt sich, warum.

7. Juni 2025 - Wojciech Czaja
Ein Schuhmacher am Straßenrand, Bauarbeiter auf einer filigranen Stahlkonstruktion balancierend, ein Fischhändler, der in den frühen, noch eiskalten Morgenstunden seine Ware vom Truck ablädt. Wer diese ikonografischen Fotos von Lee Hyungrok, Alltagsszenen in einem noch jungen Land kurz nach dem Koreakrieg, als Originalabzug zu Gesicht bekommen möchte, muss am Hauptbahnhof in die Subway Nummer 4 einsteigen und 15 Stationen lang Richtung Nordosten fahren. In der Schlafstadt Dobong-gu, fernab vom Zentrum, nur drei Kilometer von der Stadtgrenze entfernt, ist Hyungroks Œuvre derzeit in der Ausstellung Breath of the Streets. Beginnings of Korean Art Photography zu sehen.

„Fotografie spielt in Südkorea eine wichtige Rolle“, sagt Jung Hee Han, Direktorin im neuen, erst kürzlich eröffneten Photography Seoul Museum of Art, auch besser bekannt als Photo SeMA, „sowohl im persönlichen, künstlerischen Ausdruck als auch in der Dokumentation des Alltags. Zudem ist es eines der demokratischsten Medien, das jedem die Teilnahme ermöglicht. In den Stammhäusern des SeMA gab es bislang nur wenig Platz dafür. Nun haben wir die Möglichkeit und die räumlichen Gegebenheiten, eine fundierte fotografische Sammlung aufzubauen – von der Geschichte bis zur Gegenwart.“

Verdrehter Würfel

Neu ist nicht nur die Sammlung, sondern auch das dafür errichtete Haus. 2017 wurde für den Neubau der SeMA-Dependance ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben. Aus insgesamt 73 Einreichungen ging der Wiener Architekt Mladen Jadrić in Kooperation mit dem südkoreanischen Büro 1990uao als Sieger hervor – und zwar mit einem verdrehten Würfel, mit einer Stadtskulptur aus horizontalen Lamellen, die den Eindruck erweckt, als hätte ein Riese einen Stapel Diapositiva, eingeklemmt in schwarze Plastikrahmen, 112 Stück an der Zahl, neben die Straße gestellt und im Moment des Loslassens zwischen Daumen und Zeigefinger leicht verdreht.

„Fotos, Prints, Polaroids, Positive oder auch Negative sind etwas Flaches, Flächiges, Zweidimensionales“, sagt Jadrić. „Das Sammeln und Archivieren, das ja zu von Natur aus zu den zentralen Tätigkeiten eines Museums gehört, ist immer auch mit einer höhenmäßigen Addition, mit Schlichten und Stapeln verbunden.“ Hinter der poetischen Metapher verbirgt sich eine Lamellenfassade aus recyceltem Faserbeton, eine standardisierte Stangenware, sechs Zentimeter in der Stärke, die nicht zuletzt die Aufgabe hat, sich selbst zu verschatten und den Hitzeeintrag ins Gebäude auf ein Minimum zu reduzieren.

Geplant war außerdem, die Verdrehung der unteren Höhenschichtlinien dazu zu nutzen, dem Platz eine Tribüne mit teils verschatteten Sitzstufen zu geben. „Die Grundstücksausnutzung ist enorm“, so Jadrić. „Mit der Schaffung einer Stufenlandschaft wollten wir den ohnehin geringen öffentlichen Raum auf diese Weise maximieren.“ Obwohl die geplante Platzerweiterung ein ausschlaggebender Faktor für den Wettbewerbssieg war, musste aus Sicherheitsgründen am Ende eine Absperrung vorgesehen werden. Nicht nur die österreichischen, auch die südkoreanischen Behörden, so scheint es, sind Meister der Angst, Haftung und Bürokratie.

Entmaterialisierung

Kaum hat man den Eingangsbereich – der mit seinen Lüftungslamellen und matten Milchglasscheiben leider etwas Rückseitiges, Hinterhofartiges hat, ein ziemliches Autsch im ganzen Projekt – hinter sich gelassen, betritt man eine monochromatisch dunkelgrau ausgemalte Höhle. Kein Fenster weit und breit, lediglich über die Schiebetür gelangt ein einziger, schmaler Tageslichtstrahl in den Innenraum. Der Architekt selbst spricht von Entmaterialisierung, von einer Camera obscura, die im LED-Scheinwerferkegel die darin ausgestellten Fotos umso besser zur Geltung bringt. „Alles, bloß keine weitere generische, hunderttausendste White Box!“

Die unteren drei Etagen dienen für Ausstellungen und Veranstaltungen, im dritten Obergeschoß sind Büros, Workshop-Räume und eine kleine Bibliothek samt eingeschnittenem Atrium angesiedelt. Beheizt und gekühlt wird das Photo SeMA mit 40 geothermischen Tiefbohrungen und einer Wärmepumpe, die mit der auf dem Dach installierten PV-Anlage betrieben wird. So kann das Haus bis zu 85 Prozent seines Gesamtenergiebedarfs abdecken – in einem Land, in dem die Energiedebatte noch in den Kinderschuhen steckt, eine beachtliche Geste. Die Baukosten belaufen sich auf 30,8 Milliarden Won, rund 21,2 Millionen Euro.

Wichtiger Impuls

„Es ist spannend, dass das Photo SeMA der bereits vierte südkoreanische Kulturbau aus österreichischer Hand ist“, sagt der in Seoul stationierte österreichische Botschafter Wolfgang Angerholzer am Tag der Eröffnung – und verweist auf das Busan Cinema Center von Coop Himmelb(l)au (2012), den One Ocean Pavilion von Soma Architecture in Yeosu (2012) und das Hyundai Motor Studio von DMAA Delugan Meissl Associated Architects in Hoyang (2017). „Und auch dieses Haus ist mehr als nur ein Gebäude. Es ist ein Katalysator für Stadt- und Quartierentwicklung, der den Bezirk Dobong-gu nachhaltig stärken wird.“

In Zeiten von 15-Minuten-Stadt, Dezentralisierung und Bevölkerungsexplosion ist die Positionierung eines öffentlichen Museums am Stadtrand ein wichtiger Impuls. Paris, Berlin, London, Rotterdam oder New York haben diese Aufgabe bereits begriffen und sind dabei, ihre Städte mit politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Magneten zu dezentralisieren. Ein Schritt in die richtige Richtung. Der Schuhmacher von Lee Hyungrok könnte auch eine Einladung an die österreichische Stadtpolitik sein.

Compliance-Hinweis: Die Reise nach Seoul erfolgte auf Einladung des Photo SeMA.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: