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Die Freude am Fragwürdigen

Seit zehn Jahren betreibt der „rebellische Optimist“ Eugene Quinn seine Vienna Ugly Tours. Zeit für ein Spaziergangsgespräch darüber, wie wir Städte lesen, was immer hässlich sein wird und worüber sich heiter streiten lässt.
14. Juli 2025 - Wojciech Czaja
Die Route rückwärts gehen? Das habe er in zehn Jahren noch nie gemacht, sagt Eugene Quinn. Jene Pointen, die sich in der gewohnten Dramaturgie auf vorher Gesagtes beziehen, müsse er jetzt leider weglassen. Aber heute geht es um einen Rückblick, also passt die Retourkutsche. Der in Wien lebende Engländer mit irischen Wurzeln trägt schwarzes T-Shirt und MA-48-orange Hose. Wie immer, wenn er seine Vienna Ugly Tour leitet, die 2015 erstmals stattfand und deren Name sich von selbst erklärt: in der Stadt der Unesco-zertifizierten Schönheit das Hässliche suchen und finden.
Tour-Endpunkt und heutiger Startpunkt: das Bundesamtsgebäude an der Radetzkystraße, auch bekannt als „Tintenburg“. Ein Monument der Postmoderne mit fragwürdiger Ästhetik. „Die blaugrün gemusterten Platten sind angeblich eine Hommage an Gustav Klimt, aber für mich sehen sie aus, als hätte jemand aus dem Fenster gespieben“, sagt Quinn, dem man keinen Mangel an plakativen Meinungen nachsagen kann. Drinnen wird es auch nicht besser. „Der Eingang ist zu eng, das Haus ist zu hermetisch, es gibt keinen Dialog mit der Außenwelt, und in den Gängen verliert man sofort die Orientierung. Kein Ort zum Wohlfühlen!“
Das derart gescholtene Ministerium war von Anfang an Teil der Vienna Ugly Tour. Die Beamtinnen und Beamten, sagt Quinn, nähmen es gelassen. „Sie haben sich sogar gefreut, dass überhaupt Besucher vorbeikamen.“ Der von Peter Czernin entworfene und 1986 fertiggestellte achteckige Sozialpartnerschafts-Prunkbau gehört zweifellos nicht zu den Top Ten der Wiener Architekturschönheiten. Als er letztes Jahr unter Denkmalschutz gestellt wurde, reagierten viele irritiert. Doch mit der zeitlichen Distanz wandelt sich unser Blick auf das Gebaute, wird sanfter und gnädiger. Was hat sich in zehn Jahren Vienna Ugly geändert? Haben Quinn und seine Tourengeher manche hässlichen Entlein inzwischen lieb gewonnen?
Verschwitzte Unterleibsesoterik
Manche Stationen, sagt Quinn, seien tatsächlich entfallen, etwa der Nordturm des Stephansdoms („sieht aus wie ein abgebrochener Zahn“) oder die Skulpturen vor dem Michaelertrakt der Hofburg („unangenehm aggressiv“), weil die Teilnehmerinnen seiner Tour protestierten. Andere nahmen sich selbst aus dem Spiel, wie die bizarre Fassadenmalerei am „Haus der Zeit“ am Karmelitermarkt, deren Motive aus dem Bereich verschwitzter Unterleibsesoterik nach dem Verkauf des Hauses mit neutralem Beige übertüncht wurden. Wieder andere waren wenig erfreut über die Aufmerksamkeit und drohten mit Klagen. Um ein Hotel an der Ringstraße muss Quinn heute einen Bogen machen.
Wir verlassen das Ministerium also in die entgegengesetzte Richtung. In einer Stadt, die zunehmend vom Overtourism kolonialisiert wird, mag es erstaunen, dass die Mehrzahl der Teilnehmer bei der Vienna Ugly Tour Einheimische sind. Doch genau darum geht es. Das Aus-dem-Haus-Gehen und Hinschauen ist für den leidenschaftlichen Fußgänger Quinn mindestens so wichtig wie das betrachtete Objekt. Damit steht er in der Tradition des Schweizer Spaziergangswissenschafters Lucius Burckhardt und der Pariser Situationisten der 1960er-Jahre, und er ist nicht allein. Eine Renaissance von themenspezifischen Städtetouren jenseits von langweiligem Baedekerwissen-Herunterbeten ist weltweit zu beobachten. Bei der Vienna Walking Week Ende Juli, die von Quinn und seinem Team von Whoosh organisiert wird, gibt es Touren zu Kunst am Bau im Wiener Gemeindebau und zu Wiens Rolle als Welthauptstadt der Spionage. Dort zieht die Route eine logische Linie von der russischen Botschaft zur FPÖ-Zentrale.
Trotz der hohen Einheimischenquote ist Vienna Ugly keine Suderantenrunde für zeternde Wutbürger an der „Gründerzeit gut, Moderne böse“-Frontlinie, sondern eine heitere Angelegenheit. Schließlich bezeichnet sich Quinn als „rebellischer Optimist“. Er will andere Blickwinkel auf das Gewohnte eröffnen und nebenbei ernste Themen verhandeln. Sein Motto: „fun meets politics“.
Schon bei der nächsten Station, dem News-Tower am Schwedenplatz, sind erste Meinungsverschiedenheiten zu vermelden. Für den Rezensenten ist die locker komponierte Collage aus geraden und schiefen Bauteilen einer der besten Bauten von Hans Hollein, da der Architekt hier ausnahmsweise seine Liebe zu barocker Überladenheit zähmte. Nein, sagt Quinn. Für ihn ist der Turm ein Fixpunkt auf der Tabelle der Tristesse. „Es ist störend und viel zu grau. Niemand mag Grau – außer die Wiener Architekten! Wenigstens ist das riesige Display auf dem Dach kaputt, und wir müssen keine Werbung für die Autorevue mehr sehen.“ Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sein müssen.
Schönheit und Langeweile
Ganz anders beim Collegium Hungaricum in der Hollandstraße. Das ist zwar nicht grau, sondern rot und weiß, aber seine willkürlich verteilten Diagonalen und Stabwerke versuchen hilflos, avantgardistisch zu wirken. Nicht gerade eine Werbung für ungarische Kultur. „Es wirkt alles andere als einladend“, sagt Quinn. „Wenn man daran vorbeigeht, fühlt man sich sehr unsicher – es sieht aus, als ob es gleich auseinanderfällt.“
An dieser Stelle der Tour, sagt er, folge in der Regel ein Exkurs darüber, dass Schönheit auch langweilig sein kann und weniger in Erinnerung bleibt als das Seltsame und Schiefe. Auch Architektinnen und Designer sprechen erfahrungsgemäß lieber über Harmonie und Proportion als über den nicht zu greifenden Begriff Schönheit. Jene, die von der Existenz einer „objektiven Schönheit“ überzeugt sind, bringen meist die Symmetrie ins Spiel. Doch Symmetrie ist so etwas wie das Glutamat der Ästhetik: ein Geschmacksverstärker, aber kein Rezept. Auch der Berliner Dom, zweifellos eines der hässlichsten Bauwerke der Menschheitsgeschichte, ist symmetrisch.
Das Wohnhaus in der Großen Schiffgasse 9 ist es auch, aber deswegen ist es nicht auf der Ugly-Liste. Seine kunterbunte Fassadengrafik erinnert Quinn an eine unbeholfene Kinderzeichnungsversion von Joan Miró und die Modetorheiten der 1980er-Jahre. Schiefe Haarschnitte, Schulterpolster. „Damals sahen auch schöne Menschen hässlich aus!“ Aber ist diese etwas unbeholfene Heiterkeit wirklich hässlich? Die Frage bleibt offen, wir müssen zum Endpunkt der Tour, Pardon, zurück zum Anfang: dem Flakturm im Augarten. „Den finden die meisten sowohl hässlich als auch schön, er lässt sich nicht kategorisieren“, sagt Quinn, verabschiedet sich und begrüßt die Schweizer Touristinnen, die seine Tour gebucht haben. Und sofort geht es dieselbe Strecke retour, in die richtige Richtung.
[ Die Vienna Walking Week 2025 findet von 19. bis 25. Juli statt. ]
Tour-Endpunkt und heutiger Startpunkt: das Bundesamtsgebäude an der Radetzkystraße, auch bekannt als „Tintenburg“. Ein Monument der Postmoderne mit fragwürdiger Ästhetik. „Die blaugrün gemusterten Platten sind angeblich eine Hommage an Gustav Klimt, aber für mich sehen sie aus, als hätte jemand aus dem Fenster gespieben“, sagt Quinn, dem man keinen Mangel an plakativen Meinungen nachsagen kann. Drinnen wird es auch nicht besser. „Der Eingang ist zu eng, das Haus ist zu hermetisch, es gibt keinen Dialog mit der Außenwelt, und in den Gängen verliert man sofort die Orientierung. Kein Ort zum Wohlfühlen!“
Das derart gescholtene Ministerium war von Anfang an Teil der Vienna Ugly Tour. Die Beamtinnen und Beamten, sagt Quinn, nähmen es gelassen. „Sie haben sich sogar gefreut, dass überhaupt Besucher vorbeikamen.“ Der von Peter Czernin entworfene und 1986 fertiggestellte achteckige Sozialpartnerschafts-Prunkbau gehört zweifellos nicht zu den Top Ten der Wiener Architekturschönheiten. Als er letztes Jahr unter Denkmalschutz gestellt wurde, reagierten viele irritiert. Doch mit der zeitlichen Distanz wandelt sich unser Blick auf das Gebaute, wird sanfter und gnädiger. Was hat sich in zehn Jahren Vienna Ugly geändert? Haben Quinn und seine Tourengeher manche hässlichen Entlein inzwischen lieb gewonnen?
Verschwitzte Unterleibsesoterik
Manche Stationen, sagt Quinn, seien tatsächlich entfallen, etwa der Nordturm des Stephansdoms („sieht aus wie ein abgebrochener Zahn“) oder die Skulpturen vor dem Michaelertrakt der Hofburg („unangenehm aggressiv“), weil die Teilnehmerinnen seiner Tour protestierten. Andere nahmen sich selbst aus dem Spiel, wie die bizarre Fassadenmalerei am „Haus der Zeit“ am Karmelitermarkt, deren Motive aus dem Bereich verschwitzter Unterleibsesoterik nach dem Verkauf des Hauses mit neutralem Beige übertüncht wurden. Wieder andere waren wenig erfreut über die Aufmerksamkeit und drohten mit Klagen. Um ein Hotel an der Ringstraße muss Quinn heute einen Bogen machen.
Wir verlassen das Ministerium also in die entgegengesetzte Richtung. In einer Stadt, die zunehmend vom Overtourism kolonialisiert wird, mag es erstaunen, dass die Mehrzahl der Teilnehmer bei der Vienna Ugly Tour Einheimische sind. Doch genau darum geht es. Das Aus-dem-Haus-Gehen und Hinschauen ist für den leidenschaftlichen Fußgänger Quinn mindestens so wichtig wie das betrachtete Objekt. Damit steht er in der Tradition des Schweizer Spaziergangswissenschafters Lucius Burckhardt und der Pariser Situationisten der 1960er-Jahre, und er ist nicht allein. Eine Renaissance von themenspezifischen Städtetouren jenseits von langweiligem Baedekerwissen-Herunterbeten ist weltweit zu beobachten. Bei der Vienna Walking Week Ende Juli, die von Quinn und seinem Team von Whoosh organisiert wird, gibt es Touren zu Kunst am Bau im Wiener Gemeindebau und zu Wiens Rolle als Welthauptstadt der Spionage. Dort zieht die Route eine logische Linie von der russischen Botschaft zur FPÖ-Zentrale.
Trotz der hohen Einheimischenquote ist Vienna Ugly keine Suderantenrunde für zeternde Wutbürger an der „Gründerzeit gut, Moderne böse“-Frontlinie, sondern eine heitere Angelegenheit. Schließlich bezeichnet sich Quinn als „rebellischer Optimist“. Er will andere Blickwinkel auf das Gewohnte eröffnen und nebenbei ernste Themen verhandeln. Sein Motto: „fun meets politics“.
Schon bei der nächsten Station, dem News-Tower am Schwedenplatz, sind erste Meinungsverschiedenheiten zu vermelden. Für den Rezensenten ist die locker komponierte Collage aus geraden und schiefen Bauteilen einer der besten Bauten von Hans Hollein, da der Architekt hier ausnahmsweise seine Liebe zu barocker Überladenheit zähmte. Nein, sagt Quinn. Für ihn ist der Turm ein Fixpunkt auf der Tabelle der Tristesse. „Es ist störend und viel zu grau. Niemand mag Grau – außer die Wiener Architekten! Wenigstens ist das riesige Display auf dem Dach kaputt, und wir müssen keine Werbung für die Autorevue mehr sehen.“ Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sein müssen.
Schönheit und Langeweile
Ganz anders beim Collegium Hungaricum in der Hollandstraße. Das ist zwar nicht grau, sondern rot und weiß, aber seine willkürlich verteilten Diagonalen und Stabwerke versuchen hilflos, avantgardistisch zu wirken. Nicht gerade eine Werbung für ungarische Kultur. „Es wirkt alles andere als einladend“, sagt Quinn. „Wenn man daran vorbeigeht, fühlt man sich sehr unsicher – es sieht aus, als ob es gleich auseinanderfällt.“
An dieser Stelle der Tour, sagt er, folge in der Regel ein Exkurs darüber, dass Schönheit auch langweilig sein kann und weniger in Erinnerung bleibt als das Seltsame und Schiefe. Auch Architektinnen und Designer sprechen erfahrungsgemäß lieber über Harmonie und Proportion als über den nicht zu greifenden Begriff Schönheit. Jene, die von der Existenz einer „objektiven Schönheit“ überzeugt sind, bringen meist die Symmetrie ins Spiel. Doch Symmetrie ist so etwas wie das Glutamat der Ästhetik: ein Geschmacksverstärker, aber kein Rezept. Auch der Berliner Dom, zweifellos eines der hässlichsten Bauwerke der Menschheitsgeschichte, ist symmetrisch.
Das Wohnhaus in der Großen Schiffgasse 9 ist es auch, aber deswegen ist es nicht auf der Ugly-Liste. Seine kunterbunte Fassadengrafik erinnert Quinn an eine unbeholfene Kinderzeichnungsversion von Joan Miró und die Modetorheiten der 1980er-Jahre. Schiefe Haarschnitte, Schulterpolster. „Damals sahen auch schöne Menschen hässlich aus!“ Aber ist diese etwas unbeholfene Heiterkeit wirklich hässlich? Die Frage bleibt offen, wir müssen zum Endpunkt der Tour, Pardon, zurück zum Anfang: dem Flakturm im Augarten. „Den finden die meisten sowohl hässlich als auch schön, er lässt sich nicht kategorisieren“, sagt Quinn, verabschiedet sich und begrüßt die Schweizer Touristinnen, die seine Tour gebucht haben. Und sofort geht es dieselbe Strecke retour, in die richtige Richtung.
[ Die Vienna Walking Week 2025 findet von 19. bis 25. Juli statt. ]
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