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Architektonischer Aufbruch in Leipzig
Neue Zürcher Zeitung

Perspektiven zwischen Denkmalschutz und Neubau

Leipzigs Ruhm hat viele Gründe. Als Ort der Mustermesse und als frühe deutsche Industriemetropole wurde hier europäische Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Das hat nachhaltige Spuren im Stadtbild hinterlassen. Nun wird in Leipzig an einer neuen Stadt gebaut.

3. Dezember 1999 - Jürgen Tietz
Seit der Wende war man in der als «Boomtown» titulierten Stadt Leipzig vor allem darum bemüht, die tiefen Wunden zu heilen, die der Zweite Weltkrieg und manche Planungsfehler aus der Zeit des sozialistischen Wiederaufbaus dem Stadtorganismus zugefügt hatten. Das Ergebnis dieser Bemühungen zeigt ein weit gefächertes Spektrum unterschiedlichster Lösungen. Sie reichen von der architektonischen Massenware, die vorwiegend von westdeutschen Architekturbüros stammt, über den behutsamen Umgang mit historischer Bausubstanz aus unterschiedlichen Epochen bis zu einem kraftvoll mutigen Bekenntnis zum Neuen. Freilich zeigt sich auch in Leipzig der von der sächsischen Denkmalpflege gern kultivierte Hang zur Rekonstruktion verlorener Baudenkmäler. Er nimmt hier allerdings nicht jene beängstigenden Formen an wie in Dresden.


Der Bahnhof als Shopping-Center

Was die beiden ungleichen sächsischen Schwestern Dresden und Leipzig dagegen eint, das ist die Sehnsucht nach dem historischen Stadtbild, das im 20. Jahrhundert beschädigt wurde. Wo immer möglich, versucht man es zurückzugewinnen. Städtebauliche Brachen der Nachkriegszeit sollen geschlossen werden, so wie im Fall des Sachsenplatzes, der einst Teil der eng bebauten Stadt war. Hier wird in den nächsten Jahren nach dem Entwurf der Berliner Architekten Hufnagel, Pütz und Rafaelian ein gläserner Neubau für das Leipziger Museum der bildenden Künste entstehen, dessen Modell an die Handschrift von Peter Zumthor oder Herzog & de Meuron erinnert. Das Museum soll von einer Randbebauung eingefasst werden, damit die historische Dimension der Stadt wieder entsteht.

Wie sensibel das Verhältnis von alt und neu in Leipzig ist, das zeigt sich jedem, der mit der Bahn in die Messemetropole reist. Der Leipziger Hauptbahnhof galt bei seiner Entstehung 1902 bis 1915 nach Entwürfen der Dresdener Architekten William Lossow und Max Hans Kühne als der grösste Kopfbahnhof Europas. Mit seiner für jene Zeit hochmodernen Eisenbetontechnologie zeigte er die klare Formensprache des beruhigten Neoklassizismus der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Wie kein anderes Bauwerk untermauerte er den Anspruch Leipzigs, als Metropole von europäischem Rang zu gelten. Nach schwerer Beschädigung im Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut, avancierte der Bahnhof in der Nachwendezeit zum heftig umstrittenen Renommierprojekt.

Vom Perron aus scheint das majestätische Baudenkmal noch intakt zu sein. Ein beeindruckendes Geflecht aus Stahl, Glas und Holz, das derzeit bei laufendem Bahnbetrieb hergerichtet wird, breitet sich schützend über den Gleisen aus. Doch je mehr man sich der rund 300 Meter langen Querhalle nähert, von der aus die 26 Bahnsteige erschlossen werden, desto nachhaltiger zeigen sich die Kennzeichen der hemmungslosen Kommerzialisierung des späten 20. Jahrhunderts. Seit der Restaurierung 1995-1997 durch das Düsseldorfer Architekturbüro HPP Hentrich, Petschnigg und Partner sind die weiten Bogenstellungen, die den Übergang von den Bahnsteigen zur Querhalle markieren, teilweise durch Glaswände geschlossen. An die Stelle der räumlichen Einheit ist eine optische Trennung getreten. Weit gravierender aber ist die Umgestaltung der Querhalle. In ihren Boden wurde eine linsenförmige Öffnung gerissen, die nun den Blick auf drei Ebenen eines Shopping-Centers freigibt. Zwei gläserne Fahrstuhltürme, die als Werbeflächen genutzt werden, ragen aus der Tiefe empor und schaffen einen wenig sensiblen Kontrast zu den unterschiedlichen historischen Schichten der Raumhülle.

Das gut 110 Millionen Franken teure Projekt verdeutlicht die Kernproblematik Leipzigs, die sich freilich auf die meisten deutschen Städte übertragen lässt. Ohne massive Eingriffe in den historischen Bestand sind Baudenkmale nur mühsam wirtschaftlich nutzbar zu machen. Unwirtschaftliche Architektur aber, so grossartig und einzigartig sie wie im Fall des Leipziger Hauptbahnhofs auch sein mag, hat langfristig kaum eine Chance zu überdauern. Die grosse Vision eines uneingeschränkten Bekenntnisses zum historischen Bauerbe, das seinem Besitzer auch Kosten verursachen darf, wurde schon längst ad acta gelegt. An ihre Stelle ist der zermürbende Kampf ambitionierter Denkmalpfleger getreten, die versuchen, trotz massiven baulichen Veränderungen der Bauwerke, durch die Funktion und Bedeutung des Denkmals verfälscht werden, etwas von dessen einstiger Qualität zu bewahren.

Wie Veränderungen und Ergänzungen eines historischen Baus eine höchst qualitätvolle Synthese aus Alt und Neu erzielen können, zeigt hingegen die gegenüber der Nicolaikirche im Zentrum Leipzigs gelegene Alte Nicolaischule. Hier hat die Architektengemeinschaft Rüdiger Sudau, Hinrich Storch und Walther Ehlers 1992-1994 für Leipzig einen Weg aufgezeigt, wie Beton, Stahl und Glas ein historisches Bauwerk gewinnbringend um eine neue Schicht ergänzen können.

Ebenfalls vor der Herausforderung, Altes und Neues für eine veränderte Nutzung verbinden zu müssen, stand Peter Kulka bei der Restaurierung und dem Umbau der Herfurthschen Villa und des benachbarten Kutscherhauses für die Leipziger Galerie der zeitgenössischen Kunst. Idyllisch im Grün eingebettet liegt die Galerie am westlichen Rand des Musikviertels unweit des ehemaligen Reichsgerichts, das derzeit als Sitz des Bundesverwaltungsgerichts hergerichtet wird. Klar trennt Kulka den historischen Bestand der um 1893 erbauten Villa von der zeitgenössischen Erweiterung ab. Den eleganten Formen des spätklassizistischen Sandsteinbaus setzt er einen Kubus entgegen, der mit grauen Zementfaserplatten verkleidet wird. So wirkt der Altbau zur Gartenseite hin wie in den Klammergriff genommen. Bewusst wird die Spannung zwischen dem kleinteiligen Altbau und der kompakt wirkenden Erweiterung betont. Solch harter Kontrast kommt letztlich beiden Bauteilen zugute. Der Blick für das architektonische Detail wird geschärft und die Wirkung des Gesamtensembles durch den Verzicht auf eine nivellierende Verschmelzung der Bauphasen gesteigert. - Mit Blick auf Kulkas kreativen Umgang mit der Villa ist man gespannt auf seinen Versuch, der Ruine des Bayerischen Bahnhofs - einem der ersten Kopfbahnhöfe in Deutschland - neues Leben einzuhauchen. Während unterirdisch dort ein neuer S-Bahnhof entsteht, sollen die stillgelegten oberirdischen Teile des Bahnhofs langfristig Teil eines Bürgerparks werden.

Selbst an den Stellen, an denen man sich in Leipzig für einen Bruch mit der Vergangenheit entschied und historische Bausubstanz durch Neubauten ersetzte, blieb die Auseinandersetzung mit dem Kontext ein zentrales Thema. Die gläsernen Messepaläste von von Gerkan, Marg und Partner vor den Toren der Stadt sind zum Symbol des aufstrebenden Leipzig geworden. Doch auch im Bereich der Altstadt sind einige bemerkenswerte Neubauten entstanden, die ein Gegengewicht zur Investorenarchitektur der Nachwendezeit schaffen. Dazu gehören die Gebäude des Düsseldorfer Architekturbüros Eller und Eller in der Peterstrasse. Das Concentra-Haus, Zeugnis der moderaten Moderne der zwanziger Jahre, wurde behutsam hergerichtet. Die Farbgebung im Inneren folgt dem Befund der denkmalpflegerischen Untersuchung. Eine stählerne Kolonnade, die dem Gebäude vorgelegt wurde, schafft dagegen einen bewussten Kontrast zur sonst steinernen Architektur des Hauses. Als ergänzende Schicht ist sie ein Hinweis auf die zeitgenössische Weiterentwicklung des Gebäudes.

Der Neubau des benachbarten «Goldenen Arms», benannt nach einem bis ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Gasthof, bricht radikal mit der steinernen Architektur der Altstadt. Entstanden ist ein Glashaus, das in das tiefe Grundstück hineinreicht. Die Fassade knüpft an die Tradition der gläsernen Kaufhäuser seit der Jahrhundertwende an. Ihre horizontale Gliederung erinnert an die Fassade des Vorgängerbaus. Im ersten und zweiten Obergeschoss schiebt sich ein Glaskubus in den Strassenraum vor. Seine Schrägstellung ist keineswegs eine beliebige Belebung der Kaufhausfassade. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, in dem Neubau die historische Bauflucht der Peterstrasse wieder aufzunehmen, die durch die Neubauten des 19. Jahrhunderts verschoben wurde. Von unten nicht wahrnehmbar, verbirgt sich auf dem Dach des «Goldenen Arms» eine fast dörflich anmutende Wohnlandschaft, die sich entlang eines offenen Hofes entwickelt.


Schimmerndes Glashaus

Auch das Frankfurter Architekturbüro Schumacher und Schneider hat bei seinem Büro- und Geschäftshaus für die Deutsche Treuhand-Gesellschaft KPMG die Glasarchitektur zum Thema gemacht. Mit dem Neubau ist inmitten der steinernen Bebauung aus der Gründerzeit am südlichen Rand des Altstadtrings ein luftiges Schmuckstück entstanden. Markant pointiert eine abgerundete Ecksituation das Zusammentreffen von Beethovenstrasse und Münzgasse. Geschossbänder verleihen dem Bau eine klare horizontale Gliederung. Vor allem zur Beethovenstrasse hin erweist sich die Baumasse durch den eingeschobenen Treppenhausturm als geschickt gestaffelt. Dadurch wird die historische Parzellenstruktur aufgegriffen. Trotz dem signifikanten Materialunterschied fügt sich der Baukörper harmonisch in seine Umgebung ein. Gemildert wird der Materialkontrast teils durch Lamellen, mit denen an die Nachbarfassade angeschlossen wird, teils durch den als Sonnenschutz notwendigen Siebdruck auf dem Glas.

In skulpturaler Manier mäandert die Treppenanlage mit ihren halbrunden Podesten von Stockwerk zu Stockwerk empor. Die Büros, die in den beiden Gebäudeflügeln entlang der Münzgasse und eines Hofes untergebracht sind, öffnen sich zum Atrium ebenfalls mit gläsernen Wänden. Doch statt dass dadurch eine banale Transparenz erzeugt wird, lässt der rote Teppichboden, der sich auf allen Ebenen findet, ein geheimnisvolles Schimmern durch das Gebäude gleiten. Das KPMG-Gebäude von Schumacher und Schneider ist sicher einer der Höhepunkte des neuen Bauens in Leipzig. Ein Gebäude, das mehr ist als eine schicke Hülle. Wenn der Besucher im Atrium des KPMG-Gebäudes seinen Blick schweifen lässt, dann kommt ihm ein Begriff in den Sinn, der selten geworden ist: Baukultur. Die beiden Frankfurter Architekten haben ein Haus geschaffen, das weit jenseits des architektonischen Einerleis angesiedelt ist. Ein Glücksfall für Leipzig. Die Qualität des Gebäudes sollte der Stadt den Weg weisen, auf dem sie - trotz den wirtschaftlich angespannten Zeiten - bei ihrer Identitätsfindung zwischen Alt und Neu fortschreiten sollte.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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