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Sinn und Sinnlichkeit
Neue Zürcher Zeitung

Neue Bauten von Léon, Wohlhage und Wernik

In den vergangenen Jahren haben die Berliner Architekten Hilde Léon, Konrad Wohlhage und Siegfried Wernik mit einer Schulerweiterung, der Bremer Landesvertretung und einer Siedlung aus dem Mittelmass der hauptstädtischen Architektur herausragende Bauten geschaffen, bei denen Strenge und Anmut auf inspirierende Weise zusammenklingen.

4. Februar 2000 - Jürgen Tietz
Gelungene Architektur zeichnet sich oft dadurch aus, dass sie im Kontext mit ihrer Umgebung entsteht. Sie entwickelt vorgegebene räumliche und bauliche Voraussetzungen weiter und sei es dadurch, dass sie ihnen einen klaren Kontrast entgegenstellt. Die in den letzten Jahren verwirklichten Projekte der Berliner Architekten Hilde Léon, Konrad Wohlhage und Siegfried Wernik lösen diesen hohen Anspruch ein. Alle hier vorgestellten Projekte eint ein feines Gespür der Architekten für Akzente, die dem jeweiligen Stadtraum architektonisch angemessen sind. Dabei sind ebenso sinnliche wie überzeugend funktionale Gebäude entstanden, die durch ihre Eigenständigkeit die räumlichen und historischen Bezüge zur Umgebung weiterentwickeln.


Sinnlichkeit und Funktionalität

Erstes fertiggestelltes Projekt dieser Werkgruppe war das 1998 eingeweihte Oberstufenzentrum für Sozialversicherung in Berlin-Köpenick, das einem repräsentativen Ziegelgebäude der Jahrhundertwende als Erweiterung dient. Eine luftige Galerie aus Stahl und Glas verbindet Alt- und Neubau miteinander. Auf den ersten Blick wirkt die neue Schule wie eine unspektakuläre Kiste. Doch bereits ihre leicht versetzte Position neben dem Altbau lässt aufmerken, gelingt es den Architekten doch dadurch, unterschiedliche Hofräume mit jeweils ganz eigenem Charakter neben und vor den Gebäuden zu definieren. Die nächste Überraschung bietet die orangefarbene Fassade. Ihr lasierend aufgetragener Anstrich entfaltet die Wirkung eines Aquarells. Dadurch entstehen optisch bewegte Wandflächen, die die skulpturhafte Behandlung des Baukörpers unterstützen. Fensteröffnungen und Rücksprünge in der Fassade wirken, als seien sie aus der Baumasse herausgeschält. Das Ergebnis ist - trotz der rechteckigen Grundform des Gebäudes - ein äusserst lebendiger Baukörper.

Die zweigeschossige Eingangshalle mit ihrem schwarzen Boden aus Asphalt dient als offener Verteiler für das umfangreiche Raumprogramm der Erweiterung. Wenige Stufen führen zur grosszügigen Mensa mit ihrem freundlichen Farbkonzept hinab, während eine mit hellem Ahornholz verkleidete Wand zu der sich seitlich anschliessenden Bibliothek hinleitet. Davon hebt sich der Sichtbeton ab, der u. a. an den Decken Verwendung findet. Das vollständig in Sichtbeton ausgeführte Treppenhaus vermittelt zwischen den unterschiedlichen Raumhöhen in Alt- und Neubau. Ein gutes Beispiel für die Bedeutung, die Materialverwendung und Farbigkeit in der Architektur von Léon, Wohlhage und Wernik zukommt, gibt die von Tageslicht durchflutete Turnhalle. Ihre schlichten Wandpaneele aus Holz wurden durch einen knallgelben Anstrich und eine asymmetrische Verteilung über die Wand nobilitiert. Durch die über das Gebäude verteilten «Sehnsuchts-Nischen» der Videoinstallationen von Ulrike Böhme wird die stimmige Aura dieses stets kunstvollen, aber an keiner Stelle künstlich wirkenden Schulgebäudes auf den Punkt gebracht. Schon dem eintretenden Besucher klingen tropfende und plätschernde Geräusche entgegen. Sie stammen von einem meditativen Video, das unter einem Bullauge im Boden der offenen Galerie der Eingangshalle zu sehen ist: Wasser strömt über ein steinernes Bachbett.

Wie das Oberstufenzentrum für Sozialversicherung weckt auch die kürzlich fertiggestellte Bremer Landesvertretung in Berlin südliche Gefühle. Der orangefarbenen Fassade in Köpenick steht bei der nahe dem Tiergarten errichteten Landesvertretung ein kräftiges Rot gegenüber. Auch hier sorgt die Lasurtechnik des Farbauftrags für eine bewegt wirkende Fassadenoberfläche, die ihre Tönung mit dem Wandel des Tageslichts verändert. Die Entscheidung für die rote Fassade erweist sich freilich nicht allein als sympathischer Farbtupfer im Stadtbild, sondern führt in die Stadtgeschichte hinab. Im Rahmen der nationalsozialistischen Umbauplanungen für Berlin verwandelte die Generalbauinspektion Albert Speers das Tiergartenviertel vom charakteristischen Wohn- und Villengebiet zum neuen Diplomatenviertel. Als Relikt dieser Planung steht der Bremer Landesvertretung am anderen Ende der Hiroshimastrasse die italienische Botschaft mit ihrer inzwischen ausgeblichenen roten Palastfassade gegenüber. Dem laut tönenden Pathos dieses in den Jahren 1938/42 von Friedrich Hetzelt errichteten Baudenkmals haben Léon, Wohlhage und Wernik mit der Bremer Landesvertretung eine feinfühlige Mischung aus Repräsentation und Zurückhaltung gegenübergesetzt.

Neben der Bezugnahme in der Fassadenfarbe wartet die Bremer Landesvertretung noch mit weiteren italienischen Momenten auf. Dazu zählt der als Gästehaus dienende elegante Turm, der die Landesvertretung zum Landwehrkanal hin abschliesst. Irgendwann einmal soll er sich in eine geschlossene Bebauung entlang des Kanals einfügen. Derzeit wirkt er als Solitär ein bisschen wie ein toskanischer Geschlechterturm. Dem vertikalen Turmhaus steht der horizontal lagernde Repräsentations- und Bürotrakt der Landesvertretung zur Seite, der sich tief in das Grundstück hineinzieht. Eine kleine steinerne Terrasse hebt beide Bauteile über das Niveau der Strasse hinaus und definiert einen stimmungsvollen Empfangsraum, durch den eine Überleitung vom öffentlichen Raum zum Gebäude entsteht. Der langgestreckte Baukörper der Landesvertretung mit seinem grüngläsernen Eingangsbereich erweist sich als Variation des aus Köpenick bekannten Themas: unterschiedliche Fensterformate zeichnen ein graphisches Fassadenmuster, während die Loggien wirken, als seien sie aus der Tiefe der Baumasse herausgeschält.

Insgesamt wirkt die Bremer Landesvertretung noch raffinierter in der Raumentwicklung als die Köpenicker Schule. Vom Eingang aus sieht der Besucher durch das gesamte Gebäude bis in den Garten. In das Erdgeschoss sind drei quadratische Räume eingestellt, die als Pförtnerloge, «Bremer Club» und Frühstücksraum dienen. Durch diese drei freistehenden Kompartimente, die sich bewusst nach innen richten, wird das übrige Erdgeschoss zu einer variabel gestaltbaren Abfolge von sich verjüngenden und weitenden Repräsentationsräumen. Ihren Höhepunkt bildet der abschliessende grosse Gartensaal. Von ihm aus wandert der Blick über die Terrasse bis in den in Ebenen gestaffelten Garten, den ein seitliches Wasserbecken begrenzt. Strenge und Anmut fallen hier auf inspirierende Weise zusammen. - Den für das Oberstufenzentrum charakteristischen Kontrast zwischen Farben und Materialien zeichnet auch die Landesvertretung aus. Treppenhaus und Küche sind in einem Sichtbetonriegel untergebracht. Gleich einem massiven Rückgrat zieht er sich auch durch die übrigen Stockwerke des Gebäudes, die mit Büros belegt sind.


Ambitiöses Raum- und Farbkonzept

Dass es möglich ist, ein derart ambitiöses Raum- und Farbkonzept auch auf Wohnsiedlungen auszudehnen, ohne dabei das meist knapp bemessene Budget der «Häuslebauer» zu überfordern, zeigen die Siedlungsbauten von Léon, Wohlhage und Wernik, die in einem wenig strukturierten Gebiet von Biesdorf im Osten der Stadt entstehen. Inmitten eines Flickenteppichs architektonischer Belanglosigkeiten, die sich mit Satteldach und Jägerzaun zieren, konnte inzwischen der erste Bauabschnitt der Siedlung fertiggestellt und bezogen werden. Mehrere Haustypen, die für unterschiedliche Familiengrössen vorgesehen sind, gewährleisten ebenso wie die versetzte Anordnung der Zeilen Abwechslung.

Die auch hier verwirklichte aufwendige Fassadengestaltung mit lasierendem Farbauftrag sowie der Verzicht auf Sattel- und Walmdach hebt die Häuser deutlich von ihrer kleinbürgerlichen Umgebung ab. Es entsteht ein in Höhe und Tiefe modellierter Stadtraum mit dem Charakter einer toskanischen Feriensiedlung. Auch hier überzeugt der Blick auf das architektonische Detail. Die knappen Grundrisse wurden von überflüssigen Trennwänden befreit, ein zentraler Versorgungs- und Erschliessungskern mit Küche, Bad und Treppe unterteilt die Häuser in einen vorderen und einen rückwärtigen Bereich. Alle weiteren Gestaltungseingriffe bleiben den künftigen Besitzern überlassen. Zum kleinen Garten hin öffnen sich die Häuser mit weiten Fensterflächen. Die sicher über die Seitenwände verteilten französischen Fenster lassen die Hauswände wie eine Meditation über das Verhältnis von offener zu geschlossener Wandfläche erscheinen. Dunkle Fensterläden aus Holz unterstreichen den südlichen Charme des Ensembles, der den Feierabend gleichsam zum Ferienbeginn werden lässt.

Die skulpturale Behandlung fügt diese drei Lösungen zu einer anspruchsvollen Gruppe von Raumkunstwerken zusammen, die ihre Wirkung freilich nicht auf den ersten flüchtigen Blick preisgibt. Die vielschichtige Gestalt entfalten die Bauten erst nach und nach, und ihre Sinnlichkeit bezüglich der Wirkung von Raum und Material will erforscht und erkundet werden.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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