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Wer spricht hier schon vom Siegen?
Spectrum

Er versteht sich als Chronist des Zerfalls urbaner Strukturen in den Vereinigten Staaten: Camilo José Vergara. Kühl dokumentiert er, wie dicht verbaute Viertel verwahrlosen, wie sie abgerissen und durch vorstädtische Strukturen ersetzt werden. Im Grazer „Haus der Architektur“ ist derzeit eine Ausstellung seiner Photozyklen zu sehen.

22. Juli 2000 - Christian Kühn
Die Ausdehnung der Städte gilt als unaufhaltsamer Prozeß. Tatsächlich leben heute mehr als die Hälfte aller Menschen in Städten oder, allgemeiner gesagt, in urbanen Strukturen unterschiedlichster Art. Das Entwicklungstempo dieser Strukturen ist am höchsten in Asien. Am niedrigsten ist es in Europa, wo der kulturelle Wert der Städte im allgemeinen an historischen Stadtzentren gemessen wird, die sich zum letzten Mal im 19. Jahrhundert massiv verändert haben. Das Spannungsfeld von „Erinnerungswerten“ und „Gegenwartswerten“, vom Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl in seiner Schrift über den „Modernen Denkmalkultus“ aus dem Jahr 1903 eingeführt, hat die Entwicklung der europäischen Stadt im 20. Jahrhundert trotz aller Zerstörungen maßgeblich beeinflußt. Erneuerung geschieht hier in der Regel an der Peripherie, ohne an Image und Selbstbild der Stadt Wesentliches zu verändern.

Amerikanische Städte konnten sich dagegen weitgehend ungebremst von denkmalpflegerischen Vorstellungen, die Eingriffe ins Privateigentum erforderlich gemacht hätten, entwickeln. Anders als in Europa, wo Stadtentwicklung als kontinuierlicher Prozeß der Verdichtung wahrgenommen wird, geht die Entwicklung in den USA potentiell in beide Richtungen: Auf rasches Wachstum kann ein ebenso rascher Verfall folgen, wenn sich die wirtschaftliche Lage ändert. Das berüchtigtste Beispiel ist Detroit, die einstige Hauptstadt der Automobilindustrie. Im Jahr 1989 wurden bei einer Aufnahme des baulichen Zustands 15.215 in Folge der Rezession leerstehende, mit Sperrholz und Blech versiegelte Häuser gezählt. Darunter befanden sich unter anderem auch große Teile des ehemaligen Stadtzentrums mit seinen architekturhistorisch zum Teil bemerkenswerten Hochhäusern.

Der aus Chile stammende amerikanische Photograph Camilo José Vergara versteht sich als Chronist der Vernachlässigung und des Zerfalls urbaner Strukturen in den USA. Als studierter Soziologe betrachtet Vergara diese Prozesse vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die immer größere soziale Ungleichheiten in Kauf zu nehmen bereit ist. Sein Interesse gilt dem „Neuen amerikanischen Ghetto“, über das er 1995 ein gleichnamiges Buch veröffentlichte. Dazu gehören jene heruntergekommenen Viertel mit Sozialwohnungen, die in den Jahren 1950 bis 1970 mit der Hoffnung errichtet wurden, die soziale Situation der Bewohner aus den Slums durch die Umsiedlung in menschenwürdigere Hochhausblocks verbessern zu können.

Vergara dokumentiert diese Orte der Hoffnungslosigkeit kühl und ohne Voyeurismus, wobei er sich nicht auf Momentaufnahmen beschränkt, sondern dieselben Orte immer wieder besucht, teilweise seit über 25 Jahren. Er dokumentiert, wie dichte, verwahrloste Strukturen abgerissen und durch neue „townhouses“ oder durch Einfamilienhäuser ersetzt werden, um so etwa mitten in der South Bronx ein Stück normiertes Suburbia entstehen zu lassen.

Das gepflegte Bild hat eine Kehrseite: Hier können trotz hoher Förderungen nur die wirtschaftlich stärksten Bewohner der ehemaligen Ghettos leben. Die unausgesprochene Hoffnung der Stadtverwaltungen - schreibt Vergara in seinem Begleittext - ist, daß die ärmsten Bewohner schließlich in eine andere Stadt übersiedeln, während das aufgeräumte Stadtbild das Vertrauen der Investoren in den Stadtteil wiederherstellt. Daß in diesem Prozeß aber auch viel an sanierbarer alter Bausubstanz zerstört wird, nehmen die Kommunen in Kauf: Es geht weniger um die Lösung, sondern um das Verdrängen sozialer Probleme.

Vergaras Interesse beschränkt sich nicht auf die soziologische Dimension der Prozesse, die er dokumentiert. Er ist ebenso fasziniert vom Schicksal der Häuser: Wie im Lesesaal einer 1905 errichteten öffentlichen Bibliothek in Camden nach Jahren der Verwahrlosung eine kleine Baumgruppe wächst. Oder wie der Zuschauerraum des Michigan Theaters in Detroit zu einer mehrgeschoßigen Garage wird: Über den parkenden Cadillacs auf dem obersten Parkdeck schwebt eine dünne Stukkaturschale mit verblichenen Fresken. Die Winteraufnahme eines sozialen Wohnbaus in Chicago zeigt ein achtgeschoßiges Gebäude, an dessen Fassade vereiste Wasserfälle aus zerborstenen Leitungen herablaufen. Die Architekten der fünfziger Jahre hatten hier von Nachbarschaften auf jedem Stockwerk, von Spielfluren und Gartenlandschaften geträumt.

Mit der Sprengung ähnlicher Blocks - der Pruitt-Igoe-Siedlung in St. Louis - im Jahr 1972 hatte der Architekturtheoretiker Charles Jencks das Ende der Moderne und den Beginn der Postmoderne datiert. In Chicago, der Stadt Mies van der Rohes, leistete die Moderne offenbar länger Widerstand. Die Blocks wurden 1995 gesprengt. Vergaras Aufnahme aus dem Jahr 1998 zeigt postmodern verzierte, niedrige Wohnhäuser am selben Ort.

In seinem 1999 erschienenen Buch „American Ruins“ konzentriert sich Vergara auf einen anderen Aspekt der verlassenen Bauten. Ein Rilke-Zitat steht am Anfang: „Wer spricht von Siegen? Übersteh'n ist alles.“

Der Zustand des Verfalls sei keiner Kultur so unerträglich wie der amerikanischen, und gerade deshalb fordert Vergara die Erhaltung der großen amerikanischen Ruinen, etwa im Zentrum von Detroit. Vergara sieht in den verfallenden Hochhäusern ein Ruinenfeld, das es atmosphärisch mit den Ruinen Roms aufnehmen könne, und schlägt

Als der seinerzeit größte Department Store der Welt, das 25 Stock hohe „Hudson's“ im Zentrum Detroits, gesprengt wurde, verkündete der Bürgermeister: „Jetzt kann die Zukunft beginnen.“

vor, das gesamte Zentrum in seinem ruinösen Zustand unter Denkmalschutz zu stellen. Mit dieser Vorstellung ist Vergara offensichtlich nicht allein: Im Internet finden sich Websites wie www.infiltration.org, die Tips für illegale Exkursionen in verlassene Bauten in Detroit und anderen Städten der USA anbieten. Trotzdem ist die „Renaissance“ des Zentrums von Detroit bei anspringender Konjunktur wohl kaum aufzuhalten.

Hudson's, seinerzeit der größte Department Store der Welt, ein 25 Stock hoher, mächtiger Block aus dem Jahr 1911, wurde 1998 gesprengt. Die Stadtverwaltung nannte das Gebäude, in dessen besten Jahren 3500 Mitarbeiter bis zu 100.000 Kunden pro Tag bedient hatten, einen Mühlstein am Hals Detroits. Als das es - zu Kosten von 12 Millionen Dollar - in sich zusammenstürzte, verkündete der Bürgermeister: „Jetzt kann die Zukunft beginnen.“

Mit der Ausstellung der Photozyklen Camilo José Vergaras setzt das Haus der Architektur in Graz seinen aktuellen Versuch fort, Architektur aus einer geänderten Perspektive zu betrachten. Nicht die Objekte und ihre Ästhetik stehen dabei im Mittelpunkt, sondern die Prozesse, in die Architektur bei ihrer Entstehung und Benutzung eingebunden ist. Was bedeutet Architektur für die Investoren, die Politiker, die Bauindustrie? Brauchen sie den Begriff noch, oder operieren sie lieber in einem Feld zwischen Lifestyle und Infrastruktur? Wie funktioniert Architektur in einer funktional immer mehr differenzierten Gesellschaft? Für Vergaras durch die Erfahrung der amerikanischen Ghettos geschärften Blick ist bereits diese Frage suspekt: Er fordert ein Grundrecht auf Dysfunktionalität - für die nicht funktionierenden Häuser ebenso wie für ihre nicht funktionierenden Bewohner - als Basis für eine dauerhafte Sanierung der Verhältnisse.

[ Die Ausstellung „The New American Ghetto“ im Haus der Architektur Graz, Engelgasse 3 bis 5, ist noch bis 1. September (Montag bis Freitag 10 bis 19, Samstag 10 bis 13 Uhr) zu sehen. ]

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