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Geschichte und Zukunft
Neue Zürcher Zeitung

Bauen in historischer Umgebung in Ostdeutschland

In historischen Zentren werden pseudohistorische Neubauten vom Publikum oft besser aufgenommen als zeitgenössische Architekturen. Dabei vertragen sich zukunftsweisende Interventionen besser mit alter Bausubstanz als plumpe Nachempfindungen. Dies beweisen zwei neue Beispiele aus Mecklenburg-Vorpommern.

12. Oktober 2000 - Jürgen Tietz
Wie viel moderne Architektur verträgt eine Altstadt? Nicht erst durch den Verlust von Bausubstanz im Zweiten Weltkrieg und die Flächensanierungen der fünfziger und sechziger Jahre ist in Deutschland ein heftiger Streit zwischen Traditionalisten und Erneuerern entbrannt. Die Wurzeln dieser Diskussion reichen bis in das ausgehende 19. Jahrhundert zurück, zur Konfrontation zwischen Historismus und Heimatschutzarchitektur. Derzeit weht der Moderne wieder einmal ein heftiger Wind entgegen. Während sich die stimmungsvolle Kopie eines verlorenen Fachwerkhauses oder die emotionsbeladene Rekonstruktion einer kriegszerstörten Kirche der Zustimmung des Publikums gewiss sein darf, kann die ambitionierte zeitgenössische Ergänzung eines historischen Altstadtensembles kaum auf Beifall hoffen. Die Ausnahme bilden Monostrukturen wie Einkaufszentren oder Warenhäuser. Sie sprengen zwar inzwischen auch in den neuen Ländern im Osten Deutschlands allzu oft die örtlichen Massstäbe, doch die öffentliche Aufregung über diese konfektionierte Investorenarchitektur hält sich in Grenzen. Hauptsache, sie bringt neben neuen Arbeitsplätzen und dringend benötigten Steuereinnahmen auch Gemütlichkeit mit Satteldach und Natursteintapete.

Dass die Ergänzung und Weiterentwicklung denkmalgeschützter Altstädte mit Mitteln moderner Architektur - trotz manchen Anfeindungen - dennoch möglich ist, beweisen zwei Beispiele in Mecklenburg-Vorpommern. Der vom Schweriner Architekturbüro Jäger + Jäger zusammen mit Joachim Brennecke realisierte neue Domhof in Schwerin liegt im mittelalterlich geprägten Kern der 125 000 Einwohner zählenden Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns. Gleich gegenüber den beiden Neubauten residiert das Landesamt für Denkmalpflege im ältesten erhaltenen Fachwerkhaus der Stadt. Anstelle einer historisierenden Anbiederung an die Umgebung entschied sich Gerd Jäger, Absolvent und später Assistent an der ETH Zürich, den Stadtraum durch zwei moderne Neubauten zu konturieren, die sich dennoch gefühlvoll in den Bestand einpassen. Ein angrenzendes Fachwerkhaus, dessen Kern aus dem 17. Jahrhundert stammte, wies eine derart schlechte Substanz auf, dass seine aus Tannenholz bestehenden Teile aufgegeben werden mussten. Übrig blieb ein kleines Fassadenfragment, das Jäger in seinen Neubau einfügte.

Die ursprüngliche Planung hatte vorgesehen, durch eine Blockschliessung an dieser Stelle einen schmalen Strassenverlauf zu schaffen. Dank einem Grundstückstausch mit der Stadt gelang es jedoch, das Baugrundstück so zurechtzuschneidern, dass sich die Strasse vor dem Domhof heute zu einem stimmungsvollen kleinen Platz weitet, der auch das historische Fachwerkgebäude des Landesamtes für Denkmalpflege besser zur Geltung kommen lässt. Die beiden neuen dreigeschossigen Baukörper mit ihrer rechteckigen Grundform nehmen die Kleinteiligkeit der umgebenden Bebauung auf, interpretieren sie aber auf unterschiedliche Weise. Das verlorene historische Fachwerkhaus wurde durch einen Neubau aus denselben Materialien ersetzt. Dessen oberstes Geschoss springt staffelartig zurück und weitet so den Platz auch nach oben. Der tragenden Holzkonstruktion im Inneren wurde eine Fassade aus Fachwerk und Backstein vorgeblendet. Ihr klarer, kubischer Raster hebt sich von traditionellen Fachwerkbauten ab. Durch Kreuzfugen, die an die Stelle des üblichen Backsteinverbundes treten, wird das Thema der vorgesetzten Fassade auch nach aussen sichtbar gemacht.

Ganz anders präsentiert sich der benachbarte Baukörper. Er scheint über einem vollständig in Glas aufgelösten Erdgeschoss zu schweben, hinter dem die Betonkonstruktion sichtbar wird. Seine beiden Obergeschosse schliessen plan an den gläsernen Sockel an. Deren Fassade aus rötlich lasierten Holztafeln nimmt in Farbe und Material Bezug auf das benachbarte Fachwerkhaus und hebt sich doch von ihm ab. Ihr einziges Relief erhält die glatte Fassadenoberfläche durch den Rücksprung der in zwei Segmente untergliederten Fenster. Ein schmaler Zwischenraum zwischen beiden Baukörpern dient als offenes Treppenhaus, das einen interessanten Materialkontrast aus rötlichen Holzplatten, einer Treppe aus Sichtbeton und dem stählernen Schutzgitter bietet.

Anders als in Schwerin stellt sich die Situation in der Hansestadt Stralsund dar. Hier hat Jasper Herrmann den Neubau seines Architekturateliers nicht in der ebenfalls aus dem Mittelalter stammenden Altstadt errichtet, sondern auf der vorgelagerten Hafeninsel. Direkt an der Ostsee und in Sichtweite der Insel Rügen gelegen, fügt sich das Gebäude in eine teilweise verwahrloste, teilweise bereits hergerichtete Umgebung ein. Sie wird durch kleine Wohnhäuser, gewaltige backsteinrote Speichergebäude und Lagerplätze geprägt.

Wie Jäger hat sich auch Herrmann bei seinem Neubau für einen Kontrast zur Umgebung entschieden. Sein schmales Haus, das insgesamt nur acht Meter breit ist, von denen zwei Meter für das Treppenhaus dienen, passt sich bescheiden zwischen seine Nachbarn ein und wahrt dabei die Massstäblichkeiten des Ortes. Doch mit seiner Farbigkeit und den verwendeten Baumaterialien Beton, Glas, Holz und Stahl hebt es sich deutlich von der Umgebung ab. Während die leuchtend rote Lasur der Holzfassade noch als eine Reverenz an die norddeutsche Backsteinarchitektur interpretiert werden kann, bieten die rapsgelbe Eingangstür und die als Treppenhaus dienende Glasfuge, die an das Nachbargebäude anschliesst und von innen heraus bläulich schimmert, ein klares Kontrastprogramm. Grosse Glasflächen sorgen für die luftig transparente Wirkung des Gebäudes. Seine konsequente Gestaltung setzt sich auch im Inneren fort. Sogartig zieht die einläufige Treppe den Besucher in die oberen Stockwerke. Den beiden Architekturateliers im ersten und zweiten Obergeschoss schliesst sich ein kleiner, Penthouse-artiger Dachaufbau an. Auch hier besticht die einfache Konstruktion aus tragendem Stahlrahmen und äusserer Holzverkleidung.

Mit seinem Ateliergebäude hat Herrmann im beschaulichen Stralsund mit seinen gut 70 000 Einwohnern einen mittleren Kulturschock ausgelöst. Doch für ihn sind die öffentlichen Vorbehalte gegenüber seiner Architektur unverständlich. Vielleicht verübelt man ihm sein Gebäude deshalb besonders, weil er bei der Instandsetzung des Stralsunder Rathauses mit seiner grossartigen Prunkfassade zum Marktplatz jahrelang vorbildliche Denkmalpflege betrieben hat. Der in Deutschland anzutreffende Glaube, dass eine historisierende Architektur der einzige Weg sei, um ein denkmalgeschütztes Ensemble zu ergänzen, und daher etwas mit Denkmalpflege zu tun habe, beruht auf einem grundsätzlichen Irrtum. Einzig die klare Trennung von historischem Bestand und moderner Ergänzung ermöglicht Lesbarkeit und Weiterentwicklung eines Denkmals. Das gilt auch für die Gestaltung des städtebaulichen Kontexts von Baudenkmälern. Dabei sollte freilich so einfühlsam und respektvoll auf deren Umfeld eingegangen werden wie bei den qualitätvollen Neubauten von Jäger und Herrmann in Schwerin und Stralsund.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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