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Fugen im Panoramablick
Fugen im Panoramablick, Foto: Giosanna Crivelli
Fugen im Panoramablick, Foto: Giosanna Crivelli
Fugen im Panoramablick, Foto: Giosanna Crivelli
Fugen im Panoramablick, Foto: Giosanna Crivelli
1. Januar 2001 - Udo Weilacher
Für die alpenländische Bergwelt hätte man den Kieler Philosophieprofessor und Gartentheoretiker Christian Cay Laurenz Hirschfeld kaum begeistern können. «Wenn die Natur ein Land gebildet hat, das mit einer erstaunlichen Grösse und Mannigfaltigkeit heroischer Gegenstände eine vorzügliche Annehmlichkeit der Aussichten vereinigt, so ist es die Schweiz», schrieb der Verfasser der «Theorie der Gartenkunst» 1779. «Ich rede nicht von den wilden Gegenden, wo die Natur nichts als ihre Schrecknisse und Schauer gehäuft hat, sondern von den milden Strichen, die von dem Anblick jener fürchterlichen Gebirge entweder entlegen sind oder nur in der Ferne ihre schimmernden Gipfel sich erheben und vom äussersten Horizont her eine gewisse feierliche Majestät verbreiten sehen.»

Hirschfeld ahnte nicht, dass kaum 50 Jahre nach Erscheinen seines Standardwerks eine romantische Naturbegeisterung am Erhabenen die Menschen massenhaft in die Berge treiben und die rasante Entwicklung des Alpentourismus in Gang setzen würde. Diesem Ansturm fiel vielerorts nicht nur der Landschaftscharakter zum Opfer, sondern auch die Sensibilität des Menschen für die unterschiedlichen Qualitäten der Natur.

Der Tessiner Landschaftsarchitekt Paolo Bürgi verfolgt mit einem ungewöhnlichen Landschaftsprojekt auf der Cardada bei Locarno das ehrgeizige Ziel, unsere verkümmerte Wahrnehmung wieder zu schärfen. Den Anlass zum Projekt bot der Neubau der Luftseilbahn von Orselina zur Cardada. Bereits 1952 wurde die erste Seilbahn auf dieser Strecke in Betrieb genommen. Nach mehrfacher Erhöhung der Transportkapazität beschloss man 1996, die Anlage komplett zu erneuern, und erteilte dem Tessiner Architekten Mario Botta den Auftrag für das Grossprojekt.

Im Juni 2000 wurde die neue Bahn offiziell eingeweiht und schafft seither noch effizienter die Menschen auf 1340 Meter Höhe. Dort erwartet die Besucher nicht nur das übliche Programm aus Wintersporteinrichtungen, Gastronomie, Spazier- und Wanderwegen. Paolo Bürgi stellte sich die Frage, wie er die Sensibilität der Besucher steigern könne, ohne einfach nur weitere Attraktionen zu liefern. Er schuf deshalb ein Ensemble aus einem Spielspazierweg, einem Aussichtssteg, einer geologischen Beobachtungsstation und einem musikalischen Wald.

Beim Verlassen der futuristisch anmutenden Bergstation betritt man unvermutet einen streng gestalteten Teppich aus Granit. Die grossformatigen Platten, ein traditionelles Baumaterial in Tessiner Gärten, sind in einem präzisen Fischgrätenmuster ausgelegt, dessen Rasenfugen sich zur Hangkante hin immer mehr verbreitern. Aus einem einzigen Baumstamm liess Bürgi einen schlichten Brunnen schneiden, dessen kantige Grundform auf die strenge Einfachheit des Bodenbelags reagiert. Den Abschluss des attraktiven Teppichs bildet eine lange, breite Holzbank, deren Grundform ebenso winklig geometrisch ist wie die des Plattenbelages. Die abgewinkelte Form deutet die Teilung des Weges an. Nach links führt er in Richtung «Promontorio paesaggistico».

Nach wenigen hundert Metern verbreitert sich der Weg zu einem geometrisch geformten Platz. Er bildet das Widerlager für einen langen schmalen Steg aus Stahl, der durch die Wipfel der Fichten ragt. Auf Granitplatten führt der Weg ins Licht. Kleine Zeichen im Plattenbelag des Stegs begleiten den Besucher, bis er unter den eleganten Pylonen hindurch das trichterartig verbreiterte Ende des Stegs erreicht. Die Aussicht über den Lago Maggiore im Tal ist überwältigend.

Kleine Erläuterungstafeln an der Brüstung erklären die rätselhaften Symbole, die einem auf dem Weg begegnen, und erzählen von der Entstehung des Lebens. Wem das zu didaktisch ist, der geniesst einfach nur die Aussicht oder hört auf das Lachen der Kinder, die sich auf dem Spielspazierweg vergnügen. Dieser kreuzt unterhalb des Steges den
bewaldeten Hang und ist mit Spielgeräten bestückt, die die Sinne der Kinder ansprechen sollen.

Wer den Gipfel der Cimetta erreicht, gelangt in 1670 Meter Höhe zum «Osservatorio geologico», der wohl interessantesten landschaftlichen Intervention in Bürgis Konzeption. Hier hat der Landschaftsarchitekt eine grosse, kreisrunde Plattform eingelassen, in die sich die Felsbänder seitlich hineinfressen. Der Fels wird durch diesen einfachen Eingriff aus seiner Umgebung hervorgehoben und wirkt fast skulptural: bizarre Fundstücke auf einem randlosen Präsentierteller.

Die Oberfläche der Plattform ist mit einem feinen, grauen Sandbelag in zwei unterschiedliche Helligkeitsstufen unterteilt. Eine rote Linie trennt die beiden Kreissegmente, auf denen polierte Gesteinsproben aufgereiht sind, die sich in ihrer Anzahl und Färbung voneinander unterscheiden. Die Linie symbolisiert die insubrische Linie, auch periadriatische Naht genannt. Sie bezeichnet die grosse südliche Alpenlängstalung, eine Art geologische Trennungsfuge, die vor etwa zweihundert Millionen Jahren zwischen den Zentral- und den Südalpen entstand. Dort treffen jene unterschiedlichen Gesteine aufeinander, von denen Proben auf der Observationsplattform präsentiert werden.

Paolo Bürgi offenbart eine unsichtbare Dimension der grandiosen Alpenlandschaft, die sich der Ausbeutung durch den Tourismus nach wie vor entzieht: die Zeit. Auch an diesem, durch seine archaische Form fast meditativ anmutenden Ort wird der Besucher mit seinen Gedanken nicht alleine gelassen. Bürgi bedient sich des traditionellen Alpenpanoramas: Kleine Informationstafeln an der Brüstung liefern geologische Informationen. Jene, die nicht wie gewohnt nach raschem Informationskonsum den Berg wieder verlassen, haben hier die Chance, dem Wesen der Landschaft tatsächlich ein Stückchen näher zu kommen.

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