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Rettet das Tirolerhaus!
Rettet das Tirolerhaus!, Foto: Christian Kühn
Rettet das Tirolerhaus!, Foto: Christian Kühn
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Kann es in den Alpen neben Schnee- und Stimmungskanonen lebendige zeitgenössische Kultur geben? Sankt Anton vor der Skiweltmeisterschaft: von Architektur, die Anlaß zur Hoffnung gibt.

30. Dezember 2000 - Christian Kühn
Stellen Sie sich ein Feriendorf in den Alpen vor. 2400 Einwohner, 1400 Saisonarbeiter, 120 Kilometer Piste mit 40 Liften, 250 Skilehrer, 8500 Touristen in der Hochsaison: „Zwischen Genuß und Gipfelglück liegt St. Anton am Arlberg.“ Am Austragungsort der alpinen Skiweltmeisterschaften 2001 werden längst keine Betten mehr vermietet, sondern Erlebnisse verkauft: Von weißem Rausch, Spaß im Schnee und gleißend vergletscherten Bergen, die sich felsig in den blauen Himmel recken, erzählt das Gästemagazin.

Tourismus hat hier Tradition. Den Skiklub Arlberg gibt es seit 1901, die erste Skischule seit 1921. Damals hätte sich niemand träumen lassen, daß der Tourismus eines Tages zu den wichtigsten Wachstumsbranchen gehören würde. Nach Angaben des „World Travel and Tourism Council“ produziert der Tourismus heute mehr als elf Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts und wird seinen Anteil bis 2008 auf mehr als 20 Prozent verdoppeln. Die Reise- und Tourismusindustrie ist damit die Avantgarde eines neuen Kapitalismus, der seine Renditen immer weniger mit Sachgütern erwirtschaftet als vielmehr mit Erlebnissen und Träumen.

Einer dieser Träume, das Bergdorf mit den kernigen Einheimischen, verliert zunehmend an Attraktivität. Er läßt sich auch nur schwer weiterträumen, wenn auf jeden Einheimischen vier Gäste kommen und von diesen - wie in Tirol - 93 Prozent aus dem Ausland stammen. Wie die Zukunft jenseits dieses Klischees aussehen könnte, läßt sich in St. Anton an Hand einiger bemerkenswerter Neubauten erkennen. Die Ski-WM ist dabei nur der unmittelbare Anlaß. St. Anton hat dieses Ereignis geschickt mit dem Ausbau des Bahntunnels durch den Arlberg verbunden, dem der Ort seinen frühen touristischen Aufstieg verdankt. Seit 1880 quert die Bahn den Arlberg, von der Vorarlberger Textilindustrie als neuer Absatzweg mitfinanziert.

Mit dem 1998 begonnenen zweigleisigen Ausbau des Arlbergtunnels bot sich für den Ort eine einmalige Chance: Der Bahnhof konnte aus der Ortsmitte 200 Meter auf die andere Seite der Rosanna verlegt werden. Damit verschwand eine Barriere, die bisher den Ort geteilt hatte. Zugleich wurde aus dem Bahnhofsareal eine Freifläche in bester Lage, an deren Rändern Neubauten errichtet wurden, die alle alpinen Klischees elegant hinter sich lassen: das neue Zielstadion, eine Sporthalle mit angeschlossenem Wellness-Bad und das Hotel Anton.

Zuerst aber ein Blick auf den neuen Bahnhof: Hier haben die ÖBB ihr Versprechen, Einrichtungen der neuen Hochleistungsstrecken nicht nur technisch, sondern auch architektonisch auf höchstem Niveau zu errichten, eingelöst. Der Bahnhof - nach einem Entwurf von Gerhard Manzl, Manfred Sandner und Johann Ritsch errichtet - wirkt als langgestreckte Skulptur, die zwischen zwei Tunnelbauwerken eingespannt ist. Die Architekten haben die Lärmschutzwand und das Bahnhofsgebäude zu einer ruhigen Großform zusammengefaßt, deren Außenhaut mit dünnen Edelstahlnetzen verkleidet wird. Wenn sie bis zur Ski-WM fertiggestellt ist, wird sie wie ein vereister Wasserfall wirken, durch den man die Schalterhalle betritt. Als technisches Objekt mit hoher Ortsbindung ist dieser außergewöhnliche Bahnhof mehr gestaltete Landschaft als Gebäude. Die Bahn hat hier bewiesen, daß sie neben technischen und organisatorischen Spitzenleistungen im Trassenbau - die sechs Kilometer lange und 1,6 Milliarden Schilling (116 Millionen Euro) teure Teilstrecke wurde inklusive aller Behördenverfahren in zehn Monaten geplant und in zweieinhalb Jahren errichtet - auch im Hochbau höchste Standards erreichen kann.

Vom selben Architektenteam, das den neuen Bahnhof geplant hat, stammt der Entwurf für das Zielstadion, das schon im vergangenen Winter in Betrieb war, ebenfalls ein ruhiger Baukörper, holzverkleidet und sanft in den Hang geschoben. Für die WM ist er derzeit von zusätzlichen Tribünen überwuchert. Frei geblieben ist das große Fenster zum Zielhang, hinter dem bereits bei den Rennen in der vergangenen Saison die im Fernsehen gezeigten Interviews mit Blick auf die Piste stattfanden.

Direkt daneben steht die neue WM-Halle von Much Untertrifaller und Helmut Dietrich, eine geschickt in den Hang plazierte große Box mit einer Sport- und Veranstaltungshalle und einem Wellness-Bad, das im Herbst in Betrieb gehen wird. Zur Freifläche des ehemaligen Bahnhofs hin haben die Architekten der Halle eine Art Paravent vorgesetzt, eine mit Holzlamellen verkleidete Stahlkonstruktion, die der Box mehr Leichtigkeit gibt. Ein gerahmtes Freibecken an der Seite sorgt für zusätzliche Belebung. Hangseitig ist das Gebäude vollständig in den Berg gegraben, sodaß die Skiabfahrt direkt aufs Dach führt. Vom Hang aus sind vom Gebäude nur drei kleine mit Holzlamellen verkleidete Aufbauten zu sehen, in denen Ruheräume der Sauna und eine Bar untergebracht sind, sowie die Oberlichtbänder der Sporthalle, die quer zum Hang stehen und das Gebäude optisch im Berg verankern.

Am anderen Ende des ehemaligen Bahnhofs findet sich das einzige privat errichtete Objekt in dieser Reihe von Neubauten, das Hotel Anton. Es verdankt sein Entstehen ebenfalls der Bahnhofsverlegung: Die Besitzerfamilie Falch hatte sowohl ihr Wohn- als auch ihr Gästehaus auf dem Areal des neuen Bahnhofs und mußte beides aufgeben. Mit der Ablöse wurde zuerst am Hang ein neues Wohnhaus errichtet. Weil sich die Verhandlungen mit den ÖBB in die Länge zogen und der Baubeginn für den neuen Bahnhof näher rückte, wurde die Zeit knapp. Erst im Frühjahr 1999 war ein Grundstück gefunden, mit Unterstützung des Architekturforums Tirol machte man sich auf die Suche nach einem Architekten. Wolfgang Pöschl aus Innsbruck legte im Juni einen ersten Entwurf vor - und im Dezember desselben Jahres wurde das Haus bezogen. Dieser knappe Zeitplan hat der Qualität nicht geschadet, im Gegenteil: Es blieb keine Zeit für Kompromisse. Im Querschnitt ein Terrassenhaus auf zwei Ebenen, zeigt sich das Gebäude vor allem an der Eingangsseite unkonventionell. Statt einer Garage findet sich ein großes Flugdach aus Stahltrapezblech, statt eines Satteldachs eine Flachdach mit einem aufgesetzten, beidseitig verglasten und innen verspiegelten Kasten, der Licht von der Südseite bis in den Wohnraum auf der unteren Ebene reflektiert. Hangseitig sind die beiden Ebenen großteils bis zum Boden verglast. Konstruiert ist das Gebäude in einer Mischbauweise: An ein Rückgrat aus Stahlbeton sind Holzelemente angedockt, Stahl und Glas sind zweckmäßig damit kombiniert.

Die Auftraggeber waren mit ihrem Haus derart zufrieden, daß sie bei der Planung des Hotels nur kurz überlegten, den konventionellen Standards des Tirolerhauses zu folgen. Warum sollten ihre Gäste schlechter wohnen als sie selbst? Das Hotel, das Wolfgang Pöschl für sie entworfen hat, überträgt die Qualitäten des privaten Wohnhauses auf die Gastronomie. Ein funktionell perfektes Haus mit Zimmern, die sich durch Schiebewände verwandeln lassen und die Träume eines urbanen Publikums erfüllen. Die Fassade ist als Filter ausgebildet, große Glaswände, kombiniert mit Alkoven, die in die Fassade gestülpt sind und so zusätzlich zu den normalen Betten einen besonderen Liegeplatz mit Ausblick in die Berge bieten.

Daß solche Bauten nicht ohne Widerspruch bleiben, ist klar: „Bürger von St. Anton! Es ist höchste Zeit, gegen die weitere Verschandelung des Tiroler Stils unseres Ortes etwas zu unternehmen“, war kürzlich im Gemeindeblatt zu lesen. Daß es dabei nicht um den alten Streit zwischen Tradition und Moderne geht, zeigt der Nachsatz: „Noch kommen die Gäste zu uns. Aber wie lange noch?“ Geht es also bloß um unterschiedliche Marketingkonzepte, ob man eher eine traditionelle oder eine urban-moderne Zielgruppe ansprechen möchte? Nicht nur. Es geht vor allem um die Frage, ob es in der Welt des Tourismus noch eine Identität außerhalb der kalkulierten Wirkung gibt. Die Tiroler Baukultur beweist nicht nur in St. Anton, daß sie dieser Herausforderung gewachsen ist: Wenn in einem Dorf wie Gaimberg in Osttirol ein Feuerwehrgebäude wie jenes von Rainer Pirker einen Wettbewerb gewinnen kann, dann besteht Hoffnung. An solchen Tirolerhäusern werden auch die Gäste des 21. Jahrhunderts erkennen, daß sie nicht in einer Disneyland-Konserve gelandet sind, sondern in einer lebendigen Kultur.

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