Artikel

Impressionistisches Geschichtsverständnis
Neue Zürcher Zeitung

Umstrittene Berliner Neubauprojekte im Schatten von Baudenkmälern

24. Januar 2001 - Jürgen Tietz
Stadtreparatur im Stil der «kritischen Rekonstruktion» ist seit der internationalen Bauausstellung der achtziger Jahre nichts Neues in Berlin. Doch die Sehnsucht nach Geschichte in der deutschen Hauptstadt nimmt immer konservativere Formen an. Da der Bertelsmann-Konzern die Fassade des Kommandantenhauses Unter den Linden rekonstruieren darf, wird der Chor derer immer lauter, die auch eine Rekonstruktion der Schlossfassade fordern. Konservatorisch ist der architektonische Rollback höchst bedenklich. Dabei schien Berlin mit dem Umzug von Regierung und Parlament bereits einen guten Weg im Umgang mit den Zeugnissen seiner Baugeschichte gefunden zu haben. Beispielhaft gebärdete sich etwa der Bund als Bauherr und setzte seine Baudenkmäler in enger Abstimmung mit der Denkmalpflege für die neuen Ministeriumsnutzungen instand. Die Verwerfungen deutscher Geschichte blieben im Dokumentcharakter dieser Bauwerke, die aus den unterschiedlichsten Epochen stammen, unmittelbar greifbar. Historisches wurde bewahrt, Neues in klaren Formen davon abgesetzt.


Moderne ohne Lobby

Doch mit dem 1999 vom Berliner Senat verabschiedeten Planwerk Innenstadt besitzt die Berliner Geschichtsleidenschaft jetzt ein streitbares, weil doktrinäres und rückwärts gewandtes städtebauliches Rahmenwerk. Dabei ist gegen den Wunsch des Planwerkes, jene Wunden zu schliessen, die die manchmal recht geschichtsvergessene Stadtplanung der Nachkriegszeit gerissen hatte, an sich wenig einzuwenden. Doch die allzu starre Fixierung auf den historischen Stadtgrundriss, die eine diffuse Geschichtssehnsucht bedient, wird zur Bedrohung für die überlieferten echten Denkmäler. Die vom Planwerk propagierte urbane Verdichtung und die Rückkehr zu Blockrandbebauungen rücken vor allem dem Wirkungsfeld der Berliner Nachkriegsarchitektur in Ost und West massiv auf den Pelz. Es erscheint höchst fragwürdig, warum in einer Grossstadt des 21. Jahrhunderts der Stadtraum nach dem Vorbild des 19. Jahrhunderts rekonstruiert werden muss. Das Ergebnis des Berliner Vorgehens führt zwangsläufig zu einem sentimentalen architektonischen Erlebnispark. Wäre es nicht weitaus ehrlicher, die Stadt durch eine selbstbewusste moderne Architektur weiterzuentwickeln? Doch die Moderne besitzt in Berlin keine Lobby.

Deutlich wird die Berliner Misere an dem gerade erst abgeschlossenen Wettbewerb für eine Bebauung auf dem Friedrichswerder. Der Friedrichswerder, von alters her der Spreeinsel - der Keimzelle Berlins - vorgelagert, wurde seit dem 17. Jahrhundert besiedelt und stellte damit die erste Stadterweiterung des mittelalterlichen Berlin dar. Doch der ursprüngliche Charakter des Areals und seine kleinteilige Bebauung sind nicht erhalten. Ihre Zerstörung setzte bereits im 19. Jahrhundert ein und fand in den sechziger Jahren mit dem Abräumen von Karl Friedrich Schinkels Bauakademie ihr unrühmliches Ende. So bildet die einst eng umbaute Friedrichswerdersche Kirche, die Schinkel 1824-30 verwirklichte, heute den ältesten architektonischen Bezugspunkt in diesem Stadtbereich. Seit jüngstem ragt gleich daneben eine Ecke der Bauakademie als Teilrekonstruktion empor.

Eine entsprechend den politischen Vorgaben des Planwerks Innenstadt jetzt im Rahmen eines Bieterverfahrens ausgezeichnete Planung für den Bereich westlich der Friedrichswerderschen Kirche, die von Georg Graetz, Christoph Tyrra und Tobias Nöfer stammt, singt ein Loblied auf die Parzelle. Durch die Kleinteiligkeit des neu zu errichtenden Stadtquartiers soll der historische Charakter wieder wachgerufen werden: Um eine lediglich fünf Meter schmale Strasse - die zwischenzeitlich aus dem Stadtgrundriss ausradierte Falkoniergasse - sollen sich künftig neun Häuser mit Wohnungen und Geschäften drängeln. Dabei werden die Neubauten der Ziegelfassade der Friedrichswerderschen Kirche bis auf wenige Meter nahe kommen. Durch die Rekonstruktion des Stadtgrundrisses geht die nach dem Zweiten Weltkrieg gewonnene Wirkung der Kirche als Solitär wieder verloren.


Fiktion statt Dokument

Sosehr sich die geplanten Neubauten mit ihrem sehnsuchtsschmachtend italianisierenden Fassadenkleid auch auf die verlorene Historie des Genius Loci zu beziehen vorgeben - auf eine Tiefgarage werden sie nicht verzichten. Einer ebensolchen Tiefgarage musste gleich gegenüber der Friedrichswerderschen Kirche in den neunziger Jahren die archäologisch ergrabenen Reste des Münzkanals der Preussischen Münze für den monumentalen Erweiterungsbau des Aussenministeriums weichen. Da half es auch nichts, dass der Architekt dieses für die Stadtgeschichte bedeutenden technischen Denkmals des ausgehenden Barocks Andreas Schlüter hiess, zu dessen Hauptwerken das benachbarte Hohenzollernschloss gehörte. Dieser Umgang mit Geschichtszeugnissen wirft ein bezeichnendes Licht auf den Wert, der den Geschichtsspuren im Rahmen des Berliner Architekturdiskurses beigemessen wird. Die Fiktion von Geschichte wird höher geschätzt als das tatsächliche historische Dokument.

Einem ähnlich impressionistischen Geschichtsverständnis begegnet man auch in der Charlottenburger City West, rund um Kurfürstendamm und Bahnhof Zoo - freilich unter vertauschten Vorzeichen. Während man in der Mitte der Stadt mit Siebenmeilenstiefeln der Vergangenheit entgegeneilt, ohne den authentischen Denkmälern dieser Vergangenheit den ihnen gebührenden Respekt entgegenzubringen, weiss man in der City West den Wert des Erbes der Nachkriegsarchitektur nicht zu schätzen. So wird zwar das in den fünfziger Jahren entstandene, betont bescheidene Haus des alten Café Kranzler mit seiner berühmten Rotunde - einst eines der meistphotographierten Wahrzeichen Westberlins - in Abstimmung mit dem Landesdenkmalamt hergerichtet. Doch zuvor wurde ein gutes Stück des Gebäudes preisgegeben. Statt das denkmalgeschützte «Kranzler»-Ensemble durch einen qualitätvollen Neubau behutsam weiterzuentwickeln und dabei die Dimensionen des historischen Stadtraums der fünfziger Jahre zu wahren, überragt inzwischen ein 60 Meter hohes gläsernes Bürohaus nach dem Entwurf Helmut Jahns das offenbar ungeliebte Baudenkmal.

Durch den Massstabsprung des «Neuen Kranzlerecks» werden nicht nur die Bauten der Umgebung zur Staffage degradiert. Zugleich zerteilt seine breit lagernde Baumasse den Kurfürstendamm in zwei Hälften. In offenem Widerspruch zur Stadtplanung an anderen Stellen Berlins, wo man das Hohelied der Blockrandbebauung singt, hat man die bis vor kurzem geschlossene Strassenfront entlang des Kurfürstendamms zugunsten eines breiten Zugangs zu der neuen Einkaufspassage aufgerissen. Diese breite Fussgängerstrasse soll Kunden in den Hof des «Neuen Kranzlerecks» ziehen.

In Berlin-Mitte wie am Kurfürstendamm bietet sich letztlich das gleiche Bild: Berlins Baudenkmäler drohen ins Abseits zu geraten. Ob sie dabei durch Neubauten mit einem historistischen oder einem medioker-modernistischen Gewand in die Enge getrieben werden, ändert am Ergebnis wenig. So erweist sich die Berliner Geschichtsbesessenheit, wie sie das Planwerk Innenstadt predigt, am Prüfstein der Baudenkmäler in erster Linie als Geschichtsvergessenheit.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: