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Ungeliebtes Erbe
Neue Zürcher Zeitung

Ein Überblick über Architektur der DDR

2. Februar 2001 - Jürgen Tietz
Seit der deutschen Wiedervereinigung ist die DDR-Architektur zu einem wichtigen Thema der Baugeschichtsforschung aufgestiegen. So liegen inzwischen zahlreiche Publikationen sowohl über den Städtebau der DDR als auch über einzelne Architekten vor. Diese können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in der Öffentlichkeit lediglich die Phase der «nationalen Tradition» zwischen 1949 und 1955 mit ihrem zwischen Schinkel und Stalin schwankenden Stilgemisch - etwa an der Berliner Stalinallee - einer gewissen Beliebtheit erfreut.

Die Gebäude der Phase der Industrialisierung des Bauwesens, die sich zwischen 1955 und 1970 anschloss, ehe der weitgehende Niedergang der DDR-Architektur einsetzte, sind dagegen noch immer Anfeindungen ausgesetzt. Zahlreiche qualitätvolle Bauten dieser Zeit sind denn auch inzwischen aus dem Bild der ostdeutschen Städte verschwunden. Parallel zu dem politisch wie wirtschaftlich motivierten Stilwechsel von der Tradition zur Moderne veränderte sich in der DDR auch das Architektenbild. An die Stelle des «kapitalistischen» Privatarchitekten traten nun die in Kollektive eingebundenen «Komplexprojektanten». Freilich standen auch hinter den Kollektiven weiterhin Menschen. Deren Lebens- und Arbeitsweg hat das Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner bei Berlin in einem Sammelband zusammengefasst. Eingeleitet wird das Buch, das 220 Architektenbiographien präsentiert, mit einem Essay von Thomas Topfstedt, der den Wandel des Architektenbildes in der DDR nachzeichnet.

Neben so illustren Vertretern der DDR-Architektur wie Hermann Henselmann (Hochhaus an der Weberwiese, Berlin), Josef Kaiser (DDR-Aussenministerium, Berlin, abgerissen), Richard Paulick (Blöcke C Nord und Süd Stalinallee, Berlin) oder Heinz Graffunder (Palast der Republik, Berlin) begegnen dem Leser auch weniger bekannte Architekten, etwa Kurt Nowotny, von dem das hinreissende Hauptpostamt am Leipziger Augustusplatz (1961-64) stammt. Der Band stellt somit einen wichtigen Anstoss für die weitere Erforschung der DDR-Architektur dar, aber auch zur Erhöhung ihrer öffentlichen Akzeptanz.


[Vom Baukünstler zum Komplexprojektanten. Architekten in der DDR. Dokumentation eines IRS-Sammlungsbestandes biographischer Daten. Hrsg. Holger Barth, Thomas Topfstedt. Reihe Regio Doc 3, Erkner 2000. 305 S., Fr. 38.-. ]

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