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Klassische Orte des Innehaltens
Neue Zürcher Zeitung

Neue Bücher über Ludwig Mies van der Rohe

29. August 2001 - Jürgen Tietz
Runde Jahrestage besitzen ihre eigene Dynamik. Unausweichlich summieren sich an ihnen die Lobreden. Doch ebenso schnell, wie die medial gelenkte Erinnerung aufflammt, verlischt sie meist auch wieder. Von diesem Mechanismus machte auch Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969) keine Ausnahme: Zu seinem hundertsten Geburtstag 1986 versammelte sich der Chor seiner Schüler und der Architekturhistoriker und stimmte einen Lobgesang an - und nutzte ihn weidlich für marktgängige biographische Publikationen. Die damals veröffentlichten Bücher werden noch heute von Fritz Neumeyers Studie über das «Kunstlose Wort» überragt. Neumeyer verortet den Architekten im geistigen Umfeld seines ersten Bauherrn Alois Riehl und rekonstruiert anhand von Mies' Bibliothek die Einflüsse, die Mies van der Rohe und seine Architektur geprägt haben. In der Blütezeit der postmodernen Architektur blieb Neumeyers wissenschaftliche Durchdringung des Phänomens Mies fast zwangsläufig ohne Auswirkungen auf die gebaute Umwelt. Denn dort galt noch immer Roberto Venturis Verdikt «Less is a bore», das er Mies' Maxime «Less is more» gegenüberstellte. In einer Art Kollektivhaftung wurde auch Mies als einer der Ahnherren der Moderne für deren Sünden mitverantwortlich gemacht. Stahl und Glas galten - und gelten manchem noch heute - als vermeintliches Kernübel der Unwirtlichkeit nicht zuletzt der europäischen Städte, deren eigene, steinerne Tradition lautstark beschworen wurde. Was blieb, waren die Gebäude von Mies. Sie wurden und werden genutzt - manche besser, manche schlechter. Die meisten dienen darüber hinaus als Anschauungsobjekte ihrer selbst. Ikonen einer mehr oder weniger verhassten und gleichzeitig verehrten Moderne.

Zwar ebbte die Zahl an Mies-Veröffentlichungen nach dessen Jubiläum ab, doch Mies blieb Gegenstand der architekturgeschichtlichen Forschung, aber auch der Hagiographie der Moderne. Nun ist zeitgleich mit der von zwei monumentalen Katalogen begleiteten New Yorker Doppelausstellung (NZZ 14. 7. 01) eine ganz erstaunliche Intensivierung des Interesses am Phänomen Mies zu verzeichnen - ganz ohne besonderen biographischen Anlass. Ein Buch aus der Edition Blau, das von einem Essay Yehuda E. Safrans eingeleitet wird, präsentiert leider nur eine Auswahl von 21 Bauten, wobei der Schwerpunkt auf dem amerikanischen Mies liegt. Doch dafür entschädigen die vorzüglichen Aufnahmen von Rui Morais de Sousa. Sie lassen Farbe und Materialien bei Mies lebendig werden und besitzen zudem eine hohe atmosphärische Dichte. Die Fotos bescheiden sich nicht damit, die Gebäude als die bekannten Ikonen der Moderne wiederzugeben, die sie fraglos sind. Sie zeigen diese Ikonen teilweise auch im Kontext der Städte. Und sie verschweigen auch nicht die Altersspuren der Gebäude. Die Patina verdeutlicht: Es sind Gebäude mit einer Geschichte, Gebäude in Nutzung. In Zeiten eines schnelllebigen Architekturverbrauchs ist auch das ein Qualitätskriterium für Mies' Architektur.

Einen frischen Blick auf den scheinbar altbekannten Mies gibt auch der Architekt Rolf D. Weisse. Seine grob gekörnten Schwarzweissfotos zeigen Mies als einen jovial wirkenden älteren Herrn. Die Zigarre in der Hand, aus der dicke Rauchwolken aufsteigen. Er doziert vor einer andächtig lauschenden Versammlung. Das Gesicht ist gealtert, Tränensäcke, Krähenfüsse, die sich auch im Schwarzweiss nicht verlieren. Doch ebenso wenig verliert sich der wache Blick von Mies, die Neugier und die Achtsamkeit. Was auf den ersten Blick als artifizielle Überformung anmutet, entpuppt sich schnell als ein Dokument: Mies van der Rohe im Gespräch in einigen von Weisse aufgenommenen Filmsequenzen, die für das Buch in Fotos zerlegt wurden. Daher die Grobkörnigkeit. Weisse, zeitweilig Mitarbeiter im Büro von Mies, skizziert den Weg vom Projekt für die Concert Hall (1941/42) bis zur Berliner Nationalgalerie als dem Endpunkt der Entwicklung einer Idee der frei überspannten Räume. Gebäude aus Haut und Knochen. Dazwischen liegen zahlreiche Etappen, meist Entwürfe, die lediglich Projekt blieben, aber eben auch das Farnsworth House (1946-51) und die Crown Hall in Chicago (1950-56). Eine massstäbliche Vergleichsskizze von Weisse listet die Hallenbauten untereinander auf.

Wer die Monumentalität der Nationalgalerie kennt, der erschrickt über die gigantische Grösse, die die geplante Convention Hall für Chicago angenommen hätte. Weisse hat ein durchaus persönliches Buch über Mies und die Berliner Nationalgalerie geschrieben. So persönlich, dass er den aktuellen Zustand der Nationalgalerie scharf kritisiert: Granulat auf der Granitplattform und Taubennägel an der Stahlkonstruktion, die die Wirkung des Gebäudes ebenso stören wie die geteilten Gläser anstelle der von Mies vorgesehenen Glasflächen, rufen Weisses Zorn hervor. Nicht bei Weisse nachzulesen ist freilich, dass die Staatlichen Museen in den nächsten Jahren eine Generalsanierung der Neuen Nationalgalerie planen. Das Leerräumen der grossen gläsernen Ausstellungshalle von Stellwänden und Gardinen bei den jüngsten Ausstellungen von Ulrich Rückriem und Jenny Holzer war der richtige Schritt, um die unmittelbare Wirkung dieses monumentalen Raumes den Besuchern wieder vor Augen zu führen. Die Herrichtung der Nationalgalerie könnte nun eine spannende Fallstudie über das Thema «Restaurierung der jüngsten Moderne» werden. Doch wie diese Millionenaufgabe angesichts der Berliner Finanzierungsprobleme gemeistert werden soll, ist derzeit noch völlig offen.

Ein brillantes Feuerwerk zündet Josep Quetglas in seinem Buch über den Barcelona-Pavillon. In Form eines Dreiakters spürt er höchst pointiert - und damit freilich auch an einigen Punkten durchaus streitbar - den unterschiedlichen Aspekten in Mies' frühem Hauptwerk nach: dem Rückbezug zur antiken Tempelarchitektur und der Schinkel-Rezeption. Zugleich macht er den geschlossenen Raum sowie die Frage der Spiegelungen des Glases, der verchromten Stützen und der polierten steinernen Wandflächen im Pavillon zum Thema und damit die Entmaterialisierung der Architektur - die Architektur der Leere.

Zu einer monographischen Reihe der einzelnen Bauten von Mies weiten sich die Publikationen von Werner Blaser, ebenfalls im Birkhäuser-Verlag. Soeben hat er einen Band über die Crown Hall vorgelegt. Blasers Bücher sind selbst kleine Kunstwerke, deren Ästhetik den Leser in ihren Bann zieht. Es sind Meditationen über die Baukunst, über Struktur und Kultur, wie etwa die Neuauflage von «West meets East», die Mies' Haut-und-Knochen-Bauten in das Geflecht östlicher Bautraditionen einwebt - mit einem Seitenblick auf Tadao Ando. Vielleicht liegt ja auch gerade hier der Grund für die heimliche Mies-Renaissance. In der überzeitlichen Qualität seiner Bauten, die mit dem distanzierten Blick von vierzig Jahren nicht ab-, sondern zunimmt. Mies van der Rohes Gebäude erfüllen gleichermassen die Sehnsucht nach Reduzierung wie nach Vielfalt. Mies hat Orte des Innehaltens geschaffen. In ihren ruhigen - oft klassischen - Formen laden sie dazu ein, sich auf ihre Architektursprache einzulassen, sich in ihnen zu vertiefen. Nach den historisierenden Exzessen der Postmoderne und der Architektur der «explodierten Hühnchen», wie sie die Dekonstruktivisten präsentiert haben, inmitten der Unübersichtlichkeit der vernetzten Welten bietet Mies' Architektur eine Zentrierung. Die Qualität ihrer Details hält auch den Rost aus. Mag sein, dass es die Sehnsucht nach ihrer Unmittelbarkeit ist, die sie heute nicht nur als Studienobjekte interessant macht, sondern auch als Vorbilder. Mies weiterbauen kann freilich nicht heissen, Mies zu kopieren. Mies hat für den freien Umgang mit Vorbildern selbst das beste Vorbild abgegeben, wie Quetglas anschaulich vorführt. Wie eine Gespensterdebatte mutet daher die gegenwärtige Berliner Diskussion um die mögliche Realisierung von Mies' Glashausvision aus den zwanziger Jahren am Bahnhof Friedrichstrasse an. Was wie ein Witz der späten Postmoderne klingt, wirft ein erschreckendes Schlaglicht auf das Niveau der dortigen Architekturdebatten.


[Yehuda E. Safran: Mies van der Rohe. Port./engl. Editorial. Blau, Lissabon 2000. 216 S., Fr. 118.- (lieferbar über Gingko-Press). - Rolf D. Weisse: Mies van der Rohe. Vision und Realität. Von der Concert Hall zur Neuen Nationalgalerie. Strauss-Verlag, Potsdam 2001. 120 S., Fr. 78.-. - Josep Quetglas: Der gläserne Schrecken. Birkhäuser-Verlag, Basel 2001. 192 S., Fr. 35.-. - Werner Blaser: Mies van der Rohe Crown Hall. Birkhäuser-Verlag, Basel 2001. 84 S., Fr. 44.-.]

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