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Mediathek in Porto-Vecchio

Etwas versteckt und unbemerkt, ohne große Allüren, aber mit subtilem Charme, entfaltet die neue Mediathek in Porto-Vecchio ihre Stärken von innen heraus. Der Entwurf respektiert den Bestand alter Olivenbäume und Steineichen, indem das Gebäude diese umschließt und umfließt. Zugleich ist ein neuer Ort mit bemerkenswerter Aufenthaltsqualität und breitem Zugang zu Medien und Büchern entstanden. Hiervon profitiert auch das angrenzende Quartier.

3. Dezember 2024 - Emre Onur
Auf den ersten Blick würde man die Mediathek an diesem Standort kaum erwarten. Fotos vom Gebäude lassen vermuten, dass es inmitten eines Waldes steht. Die Nachbarbebauung ist geprägt durch gesichtslose Wohnblöcke, heruntergekommene Gewerbebauten, einige Autowerkstätten und einen Hypermarché. Die neue Mediathek »Animu«, was auf Korsisch so viel bedeutet wie Atem, wertet allerdings das angrenzende Quartier Pifano deutlich auf. Noch in diesem Jahr sollen eine neue Schule, ein Sportplatz, ein Gemeindezentrum und Spielplätze hinzukommen. Insgesamt fließen fast 10 Mio. Euro in den Stadtteil, um bestehende Gebäude instand zu setzen und neue Einrichtungen zu schaffen. Mit ca. 12 000 Einwohner:innen ist Porto-Vecchio die drittgrößte Stadt Korsikas und verfügt über einen bedeutenden Fährhafen. Die Umgebung, bekannt für ihre Strände und Salinen, hat jedoch auch mit Verkehrsproblemen zu kämpfen und erlebt in der Sommersaison eine Verzehnfachung ihrer Bevölkerung. Geteilt wird die Stadt in die kleinere Altstadt auf dem Hügel, die tagsüber verschlafen wirkt und sich nachts in eine einzige Partymeile verwandelt, und die Unterstadt mit Hafen, Restaurants, Gewerbe und Wohnsiedlungen. 2016 schrieb die Stadt Porto-Vecchio einen Wettbewerb für eine neue Mediathek aus, die zusätzlich Raum für kulturelle Veranstaltungen bieten sollte. Die Mediathek hatte den Auftrag, die »Entwicklungsunterschiede innerhalb der Stadt zu verringern«. Während die hoch gelegene Altstadt über ein Kulturzentrum mit Kino verfügt, war die untere Stadthälfte bislang unterversorgt. Als Standort war ein felsiges Gelände vorgesehen, von Eichen und Olivenbäumen umgeben. Dominique Coulon & Associés gingen als Sieger aus dem internationalen Wettbewerb hervor: Ihr Entwurf zielt in erster Linie darauf ab, die umgebende Natur zu erhalten. Dazu vermaßen sie jeden Baum und Felsen. So lässt sich die organische Form des Sichtbetonbaus erklären. »Seine Kurven sind so gestaltet, dass sie die Bäume und Felsen umfließen«, erläutern die Architekten. »Das Gebäude umarmt die Landschaft, um sie besser zu schützen.« Bäume mussten für den Bau nicht weichen. Das Haus ist ein wahrer »Tree-Hugger«. Für die Menschen auf Korsika ist ein achtsamer Umgang mit der Natur von großer Bedeutung, denn sie sind fest verwurzelt in ihrer Tradition und seit jeher verbunden mit der wilden Landschaft, die geprägt ist durch schroffe Felsformationen, Korkeichen und Kastanienbäume. Das große Vertrauen in die Natur rührt sicherlich daher, dass man sich in der Geschichte der Insel stets vor den zahlreichen Angreifern ins bergige Hinterland zurückziehen musste.

Versteckt hinter Bäumen

Die Mediathek öffnet sich gleich mehrfach den Besucher:innen, durch zwei Panoramafenster an der Hauptstraße und einer Fensterfassade an der Seitenstraße. In dieser verkehrsberuhigten Seitenstraße befindet sich, versteckt hinter majestätischen Bäumen, der Haupteingang. Ein weiterer Seiteneingang mit direktem Zugang zum Multimediasaal liegt um die Ecke. Einige der Sichtbetonwände sind mit Granitstücken, einem auf dem Grundstück vorhandenen Gestein, durchsetzt. Das Material kommt häufig in lokalen Bauwerken vor und verleiht der Fassade schöne Lichtreflexionen, Kletterwand-Feeling inklusive. »Um die organischen Formen und den Schwebeeffekt von Rampen und Gebäude umzusetzen, war Beton das Mittel der Wahl«, erklärt Architekt Dominique Coulon. In einigen Bereichen setzt sich der schwere Betonkörper leicht vom Boden ab und berührt ihn nur an wenigen Stellen. »Zudem verstärkt Beton das monolithische Erscheinungsbild des Gebäudes.« Nicht zuletzt wurde die Materialwahl durch die Nähe zum Meer beeinflusst, was die Entscheidung für ein besonders widerstandsfähiges Material nahelegte.

Lesen mit Aussicht

Beim Betreten der Mediathek überrascht die Großzügigkeit der Innenräume. Doch ist der Innenraum keineswegs introvertiert, wie man es von herkömmlichen Bibliotheken erwarten würde. Er öffnet sich durch seine Panoramafenster der Umgebung und holt sich die Natur (zurück) ins Gebäude. Erfreulich ist das große Angebot an Kinderliteratur. Für Kinder gibt es viel Platz, alles wirkt offen und sehr aufgeräumt. Gemütliche Sitzkissen laden zum Schmökern ein. Auch separate Vorleseräume sind vorhanden. Die mittig gelegene Rotunde mit ihren Rückzugsräumen widmet sich digitalen Medien und Gaming. Ein schönes Detail auf den zweiten Blick sind die in die Rotunde eingeschnittenen Sitznischen mit Computerplätzen. Der Bereich für Erwachsene befindet sich in einem kleineren Seitenteil. Diese unterschiedlich große Gewichtung zwischen Kinder- und Erwachsenenbibliothek ist richtig, um angehende Bücherwürmer fürs Lesen zu begeistern, ohne dass es gleich aussehen muss wie in einer Kinderbücherei. Zahlreiche regionale Literatur, auch auf Korsisch, bereichert das Programm. Im Hochsommer sind die Räumlichkeiten von den Temperaturen angenehm, denn die südliche Fassade ist überwiegend geschlossen, die Bäume dienen der zusätzlichen Verschattung. Diffuses Tageslicht dringt über die großen Oberlichter ein und sorgt für angenehmes Leselicht. Die Farbgestaltung wird vom kräftigen Blau des Teppichs dominiert, das beruhigend wirkt und Assoziationen zu Himmel und Meer weckt. Das Blau setzt in den sonst cleanen Räumen einen Farbakzent. Stützen stehen nur dort, wo sie gebraucht werden, und ermöglichen Flexibilität in der Raumorganisation. Dies wird durch die schlanken Fensterpfosten, die ebenfalls Teil des Tragwerks sind, unterstützt.

Der Garten der Erkenntnis

Der eigentliche Rückzugsraum ist der Garten, ein Ort der Kontemplation. Lediglich eine Aufschrift über der unauffälligen Tür hinter dem Empfangstresen verrät, was sich dahinter verbirgt. Der Gang allein hat schon etwas Meditatives. Man schreitet eine etwa 50 m lange gewundene Rampe langsam hinab und taucht in eine andere Welt ein. Die Rampe ruht auf nur zwei Stützen und einer geschwungenen Begrenzungsmauer. Die linksseitig erhöhte Umfassung verschließt zunächst den Blick in den Garten, auf dem Weg nach unten kehrt sich das Verhältnis der Begrenzungsmauer um und Garten und Gebäude kommen zum Vorschein. Der Außenbereich nutzt die Hanglage des Geländes, wodurch kaum Straßenlärm eindringt. Hier gibt es eine Bar aus Betonblöcken, Sitzmöglichkeiten und ein kleines Amphitheater mit Segeldach. Das aufgeständerte Hauptgeschoss erlaubt Blicke durch und unter das Gebäude bis auf die andere Straßenseite. Im Sommer lässt es sich unter der korsischen Sonne gut aushalten. Hier finden Ausstellungen, Konzerte, Workshops sowie Lesungen statt.

Die Mediathek geht respektvoll mit dem Baumbestand und den charakteristischen Felsformationen des Geländes um, indem sie diese geschickt integriert oder umfließt. Für die Bewohner:innen bietet sie einen ebenso grundlegenden wie wertvollen Zugang zu Medien und Büchern. Ein Besuch lohnt sich nicht nur, um abseits der Touristenpfade in die bemerkenswerte Architektur einzutauchen, sondern auch, um an einem lauen Sommerabend ein kühles Kastanienbier zu genießen und die authentische Lebenswelt der Einheimischen kennenzulernen. Dennoch bleibt die Frage, ob die Investitionen in das Quartier den eigentlichen sozialen Bedürfnissen der Stadt langfristig gerecht werden.

Standort: Voie Romaine, 20137 Porto-Vecchio (F)
Bauherrin: Stadt Porto-Vecchio
Architektur: Dominique Coulon & Associés, Straßburg
Assoziiertes Architekturbüro: Amelia Tavella Architectes, Aix-en-Provence
Entwurf: Dominique Coulon
Vorentwurf: Ali Ozku, Hannes Libis, Hugo Maurice
Bauaufsicht: Für Amelia Tavella Architectes: Anaïs Natali, Margot Van Gaver
Für Dominique Coulon & Associés: Ali Ozku, Hannes Libis
Tragwerksplanung: SB Ingénierie
Beratung Statik: Batiserf Ingénierie, Fontaine
Elektroplanung: BET G. Jost, Straßburg
Akustikplanung: Ingemansson
Landschaftsarchitektur: Bruno Kubler
NGF: 1 200 m²
BGF: 2 805 m²
Nutzfläche: 1 060 m²
Baukosten: 4,5 Mio. Euro
Fertigstellung: 2022

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Emre Onuremre.onur[at]konradin.de

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