Artikel

Baut Kindern Paläste! Die Geburtsklinik in Wien-Gersthof wird ein Gymnasium
Spectrum

Fast wäre die 100 Jahre alte Geburtsklinik in Wien-Gersthof in Luxuswohnungen umgebaut worden. Jetzt ist sie das jüngste Gymnasium der Stadt, das hoffentlich weitere 100 Jahre bestehen wird.

9. Juni 2025 - Christian Kühn
Bauen im Bestand ist heute – zumindest in hoch entwickelten Industriestaaten – das zentrale Thema des Architekturdiskurses. Es wird weiterhin Neubau geben, aber eines ist klar: Den kleinsten ökologischen Fußabdruck hinterlässt, wer ein bestehendes Gebäude nutzt, statt ein neues zu bauen. Dass es dabei oft zu Konflikten zwischen dem vorhandenen Gebäude und der neuen Nutzung kommt, kann man als Problem sehen – oder als Chance, konventionelle Muster zu hinterfragen und aus der Spannung zwischen neuer Nutzung und vorhandenem Gerüst innovative Lösungen zu schaffen.

Dass dies sogar unter den strengen Bedingungen des Denkmalschutzes gelingen kann, beweist das Anfang des Jahres eröffnete Gymnasiumsgebäude in Gersthof mit der Adresse Wielemansgasse 28. Sein endgültiger Name ist noch nicht fixiert, da es derzeit als Ausweichquartier für andere, gerade in Sanierung befindliche Schulen dient. Das Bestandsgebäude hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Nach Plänen der Architekten Alfred Mautner und Johann Rothmüller 1924 bis 1926 als Entbindungsklinik für Handelsangestellte errichtet, war es zeitweise Militärspital und schließlich seit den 1970er-Jahren ein Spezialkrankenhaus für Orthopädie, das 2019 ins neue Krankenhaus Nord in Floridsdorf übersiedelte.

Klassen und offene Lernzonen wechseln sich ab

Erste Überlegungen für eine Nachnutzung gingen in Richtung luxuriöser Wohnungen. Statt einer solchen Privatisierung öffentlichen Eigentums entschied sich die Stadt Wien für einen Verkauf an die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) mit der Auflage, einen Bildungsbau zu errichten. In einem europaweit offenen Verhandlungsverfahren setzte sich das Büro Franz & Sue mit dem Konzept durch, den Innengangtyp zwar beizubehalten, aber durch verglaste Nischen und Durchbrüche hell und freundlich zu gestalten.

Die Klassenräume fallen mit einer Tiefe von fünf Metern schmäler und deutlich länger aus als üblich. Diese Abweichung von der Norm ermöglicht es aber, den Klassenraum zu zonieren und im hinteren Bereich durch Stehpulte ein besonderes Lernarrangement anzubieten. Klassen und offene Lernzonen wechseln sich ab und bieten vielfältige Nutzungsoptionen. Die zahlreichen Balkone und Terrassen, auf denen sich früher die Wöchnerinnen erholten, wurden an die aktuellen Sicherheitsnormen angepasst und stehen zumindest theoretisch den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung. Wie so oft erschweren Bedenken bezüglich der Aufsichtspflicht die tatsächliche Nutzung.

Rosarotes Märchenschloss

Das äußere Erscheinungsbild des Hauses erinnert nicht an ein Krankenhaus, sondern an ein rosarotes Märchenschloss in einem Park mit 100-jährigen Bäumen, die auf den Fotos aus der Entstehungszeit noch als Stecklinge zu sehen sind. Formal verbindet das Gebäude mit seinen dezenten Ornamenten, dem Skulpturenschmuck und den von stämmigen Säulen getragenen Pergolen späten Jugendstil, Art déco und Expressionismus. Charakteristisch für die Zeit ist die strenge Symmetrie, die in diesem Fall noch durch die Ausbildung eines den Eingang rahmenden Ehrenhofs betont wird. Formale Verwandtschaften gibt es zu mehreren Wiener Bauten der Zeit, vom Amalienbad über den Reumannhof bis zum Krematorium in Simmering, womit der Bogen von der Geburt bis zum Tod in einer architektonischen Sprache gespannt wäre. Dass die beiden Architekten Mautner und Rothmüller als erstes gemeinsames Projekt 1920 die Filmarchitektur für den Monumentalfilm „Sodom und Gomorrha“ mitgestaltet haben, könnte die leichte Kulissenhaftigkeit ihrer Architektur erklären.

Das Büro Franz & Sue hat viel Erfahrung mit der Sanierung komplexer denkmalgeschützter Bestandsbauten, wie etwa das Justizzentrum in Salzburg und die Volksschule und Mittelschule in Leoben zeigen. Der Erfolg solch komplexer Sanierungsprojekte hängt von der guten Beziehung zwischen Architektur, Denkmalamt, der Bauherrschaft und nicht zuletzt den ausführenden Firmen ab. In diesem Fall funktionierte diese Beziehung auch deshalb so gut, weil das Projekt im Laufe der Planungs- und Bauzeit ab 2020 für die BIG zu einem Leitprojekt wurde, mit dem sie Maßstäbe setzen wollte: grundsätzlich für das Bauen im Bestand, für Lowtech-Lösungen in der Haustechnik und für eine gewisse Elastizität in der Funktion im Interesse der Umsetzung neuer Modelle für das Lernen und Lehren. Gute Architektur ist kein eng anliegender Handschuh, der genau auf eine Nutzung zugeschnitten ist, sondern ein lockerer Fäustling, der mehrere, auch noch nicht absehbare Nutzungen erlaubt.

Die Turnsäle befinden sich im Park

Dazu gehört auch das Hinterfragen von scheinbar Selbstverständlichem. So war etwa zu Planungsbeginn noch unklar, wo die beiden Turnsäle für die Schule platziert werden sollten. Alle Versuche, sie direkt mit dem Altbau zu verbinden, führten zu keiner befriedigenden Lösung. So landeten die Turnsäle schließlich frei stehend im Park, vom Hauptgebäude in drei Minuten Fußweg erreichbar. Die beiden Säle haben sehr unterschiedlichen ­Charakter. Ein Saal ist eine Normturnhalle mit rund 30 mal 15 Metern, der andere ein Bewegungsraum mit einer Spiegelfront, deren Elemente sich schützend um 180 Grad drehen lassen, wenn statt Ballett Völkerball auf dem Spielplan steht. Eine Längswand des Bewegungsraums ist als Kletterwand ausgebildet und erhält zusätzliches Licht von oben, während die andere über die volle Breite verglast ist und einen Blick in die Stadt bietet. Im Außenraum wirken die beiden Säle mit ihrer Hülle aus schwarz lasierten Holzlamellen wie abstrakte Skulpturen.

Die Turnsäle sind nicht die einzigen vom Haupthaus abgesetzten Gebäude der Anlage. Auch die ehemalige Direktionsvilla erhielt eine neue Nutzung als Laborgebäude für die Naturwissenschaften ohne direkte Verbindung zum Hauptgebäude. Wirklich störend ist das nur bei sehr schlechtem Wetter. Die kurze Unterbrechung des schülerischen Innenraumdaseins durch einen kurzen Spaziergang im Park ist dagegen unbezahlbar. Mehr Natur ins Haus holen wollte man im Hauptgebäude auch durch die Schaffung eines Gartengeschoßes, also durch Abgrabung des angrenzenden Geländes auf das Niveau des Kellergeschoßes, das damit zumindest teilweise zu einem vollwertigen Raum wird, unter anderem für die Nachmittagsbetreuung, die nun einen direkten, niveaugleichen Zugang zum Park hat.

Mit diesem Umbau hat die BIG Maßstäbe für intelligentes Bauen im Bestand gesetzt. Es bleibt zu hoffen, dass sich hier eine Schulgemeinschaft etabliert, die das Potenzial dieses einzigartigen Schulgebäudes zu nutzen weiß. Vielleicht kann sie sich von Julius Tandler, dem Stadtrat für das Wohlfahrtswesen im Roten Wien, inspirieren lassen. Von ihm stammt, im Jahr 1927 anlässlich der Eröffnung des zum Kinderheim umgebauten Schlosses auf dem Wilhelminenberg formuliert, das berühmte Zitat: „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder.“ Oder in unsere Zeit übersetzt: „Für exzellenten Bildungsbau verschuldet man sich nicht; man investiert in die Zukunft.“

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: