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Architekturbiennale Venedig: Einmal Espresso aus Kanalwasser, bitte!

Kluge Maßnahmen gegen die Klimakrise: Auf der Architekturbiennale in Venedig wird etwa die natürliche Intelligenz von Pflanzen, Mikroben und Pilzen als Quelle für neue Materialien und Bauformen erforscht. Und sogar Elefantendung und Brackwasser spielen eine Rolle.
24. Juni 2025 - Isabella Marboe
„Fundamentals“ nannte Rem Koolhaas, der große Analytiker unter der Architektenschaft die Biennale, die er 2014 sehr stringent kuratierte. Die Hauptausstellung handelte profund und multiperspektivisch elementare Bestandteile der Architektur ab: Stiege, Aufzug, Fenster, Tür, Dach. Zwei Jahre hatte er dafür ein interdisziplinäres Forschungsteam recherchiert. Es war das letzte Mal, dass sich die Architektur noch so eindeutig definierte. Zwei Jahre später öffnete Alejandro Aravena mit „Reporting from the Front“ das Feld für brennende Themen wie Naturkatastrophen, Wohnungsnot, Migration, Verbrechen. Er sah Architektur als Weg, Benachteiligten ein Leben in Würde zu ermöglichen.
Die heurige Architekturbiennale mit dem Titel „Intelligens.Natural.Artificial.Collective“ fordert radikales Umdenken. 2024 verzeichnete die Erde die höchsten Temperaturen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, Kurator Carlo Ratti sieht sie an einem Wendepunkt und formulierte sein Manifesto: „Intelligens: Towards a New Architecture of Adaption“. Für den Architekten, Ingenieur, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Polytechnikum Mailand ist die Anpassung an bedrohliche Klimabedingungen eine Überlebensfrage.
Bäume aus dem 3-D-Drucker
Der Ursprung der Architektur liegt im Schutz vor einem hostilen Klima, Ratti schickt sie also an vorderster Front gegen die globale Erderwärmung ins Feld und fordert ihr dabei eine Neukonfiguration ab. Auf dem Weg dorthin diffundiert sie in diverse Sparten der Kunst, Natur- und Geisteswissenschaften und erweitert ihren Werkzeugkasten um neue Technologien bis hin zu künstlicher Intelligenz. Es wäre auch einmal interessant, deren immensen Strom- und Wasserverbrauch verschriftlicht zu sehen. Auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis werden viele Fragen gestellt, löst sich Autorenschaft auf und dreht sich alles um die große Hitze. Kuratorisch setzte Ratti gleichermaßen auf Schwarmintelligenz. Vom Open Call mit „überwältigendem“ Rücklauf blieben 750 Teilnehmende. So viele waren es noch nie.
Die Hauptausstellung spürt die drei Intelligenzen auf. „Intelligens.Natural“ sucht resiliente, nachhaltige Strategien bei indigenen Völkern, analysiert das Bauen in sehr heißen oder nassen Gegenden, die Erfahrung mit Extremwetterereignissen haben, und erforscht die natürliche Intelligenz von Pflanzen, Mikroben, Pilzen, Organismen als Quelle für neue Materialien und Bauformen. Die „Living Structure“ Domino 3.0 (Kengo Kuma and Associates, Sekusi House – Kuma Lab & Iwasawa Lab, beide University of Tokyo, Ejiri Structural Engineers) versteht sich als Weiterentwicklung von Le Corbusiers Prototyp aus Decken und Stützen. Domino 3.0 besteht aus den digital vermessenen, mittels 3-D-Drucker rekonstruierten Bäumen, die der Sturm Vaia in Norditalien 2019 mitgerissen hat. Künstliche Intelligenz und japanische Holzverbindungen vereinigten sich zur Wohnstruktur der Zukunft. Dem Original kann sie im Status quo nicht das Wasser reichen.
Auch im Ziegel steckt Zukunft, er findet sich mehrfach. So besteht die vier Meter hohe, statisch belastbare, parabelförmige „Elephant Chapel“ von Boonserm Premthada aus sehr leichten, materialeffizienten Ziegeln aus Elefantendung.
„Artificial.Intelligence“ umfasst alles von der ersten industriellen Revolution über die Mondlandung, Big Data bis hin zu künstlicher Intelligenz, die Grundrisse für soziale Wohnbauten generiert. Absoluter Publikumsliebling ist der humanoide Roboter Alter 3. Seine Schöpfer, Takashi Ikegami und Luc Steels, statteten ihn mit Komponenten für Wahrnehmung, Bewegung und ein episodisches Gedächtnis aus. Man kann mit ihm plaudern, seine Mimik und Antworten suggerieren Gefühle. Nothing beats the Original. „Collective.Intelligence“ feiert solidarische, empathische Projekte. Seien es schwimmende Schulen, Notbehausungen, Theater oder sehr kluge Adaptionen für günstigere Wohnungen: Hier wird Architektur wieder zum Instrument, Lebensbedingungen zu verbessern. Upcycling ist anderswo alltägliche Überlebensstrategie.
Filmisch dokumentiert „Alternative Urbanism: The Self-Organized Markets of Lagos“ vom Studio Oshinowo das geschäftige Treiben auf drei riesigen, selbst organisierten, illegalen Spezialmärkten in Lagos, wo aus Industriemüll der westlichen Welt sehr kreativ Brauchbares gefertigt und verkauft wird. In Europa macht sich die Bürgerinitiative „House Europe!“ für Nutzung und Erhalt von Bestand stark. Alte Bauten speichern sehr viel Energie, ihr Abriss ist Verschwendung und Vernichtung von Material, mit gravierenden Konsequenzen: Wohnen wird unleistbar. Bis 31. Jänner kann man noch unterschreiben.
Hier Kühl-, dort Strickdecke
Zum besten Beitrag wurde das Canal Café von Diller Scofidio + Renfro, Natural Systems Utilities, SODAI, Aaron Betsky und Davide Oldani gekürt. Auf der Lagune des Arsenale installierten sie eine Art Hybrid aus Labor und Espressobar, der das Brackwasser aus dem Kanal biologisch und künstlich filtert, um alle Schadstoffe zu entfernen. Aus dem gekochten Wasser wird Espresso gebrüht. Wenn die Zukunft der Architektur so intelligent, kommunikativ und genussvoll ist, bitte gern!
Die nationalen Pavillons haben durchwegs außergewöhnlich hohes Niveau, fast jeder ist ein Gewinn. Den Goldenen Löwen bekam Bahrain für eine modulare Kühldecke, die von einer Mittelstütze getragen wird und daher überall im öffentlichen Raum installierbar ist (Kurator Andrea Faraguna, Statik: Mario Monotti, Bauphysik: Alexander Puzrin). Ihre Wirkung war vor Ort eindeutig spürbar.
Serbien versinnbildlicht Kreislaufwirtschaft, Interdisziplinarität und technologischen Fortschritt in unnachahmlich poetischer Weise. Die riesige Strickdecke, die als malerischer Baldachin von der Decke hängt, verbindet die Kulturpraxis des Strickens mit der ersten künstlichen „Belgrade Hand“ (1963). Im Lauf der Biennale wird sie von Spulen an den Wänden aufgespult und verlustlos wieder verwendbar sein.
Österreich thematisiert „leistbares Wohnen“
Wohltuend klassisch präsentiert Spanien 16 ausgesuchte Projekte auf je einer Waage in der Balance mit ihrer Umwelt. Sie zeigen unaufgeregt, wie Architektur zur Dekarbonisierung beitragen, Materialforschung vorantreiben und das regionale Handwerk stärken kann. Der dänische Pavillon hätte eine Auszeichnung verdient: Er entwickelt Schutt der momentanen Restaurierung zu Neuem, das langfristig wieder einbaubar ist. Selbst Detailpläne sind hier ausgestellt, die Verweildauer von Architekturschaffenden ist lang. Ukraine, Lettland und der Libanon reflektieren Architektur unter der Bedingung von Krieg.
Das österreichisch-italienische Kuratorentrio Michael Obrist, Sabine Pollak und Lorenzo Romito thematisiert als einziges die virulente Frage leistbaren Wohnens. Ihre „Agency for better Living“ stellt den fürsorgenden sozialen Wohnbau in Wien aus und der aus staatlichem Versagen geborenen zivilgesellschaftlichen Eigeninitiative in Rom gegenüber. Was beide voneinander für ein besseres Leben lernen können, wird eine Biennale lang diskutiert.
Die heurige Architekturbiennale mit dem Titel „Intelligens.Natural.Artificial.Collective“ fordert radikales Umdenken. 2024 verzeichnete die Erde die höchsten Temperaturen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, Kurator Carlo Ratti sieht sie an einem Wendepunkt und formulierte sein Manifesto: „Intelligens: Towards a New Architecture of Adaption“. Für den Architekten, Ingenieur, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Polytechnikum Mailand ist die Anpassung an bedrohliche Klimabedingungen eine Überlebensfrage.
Bäume aus dem 3-D-Drucker
Der Ursprung der Architektur liegt im Schutz vor einem hostilen Klima, Ratti schickt sie also an vorderster Front gegen die globale Erderwärmung ins Feld und fordert ihr dabei eine Neukonfiguration ab. Auf dem Weg dorthin diffundiert sie in diverse Sparten der Kunst, Natur- und Geisteswissenschaften und erweitert ihren Werkzeugkasten um neue Technologien bis hin zu künstlicher Intelligenz. Es wäre auch einmal interessant, deren immensen Strom- und Wasserverbrauch verschriftlicht zu sehen. Auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis werden viele Fragen gestellt, löst sich Autorenschaft auf und dreht sich alles um die große Hitze. Kuratorisch setzte Ratti gleichermaßen auf Schwarmintelligenz. Vom Open Call mit „überwältigendem“ Rücklauf blieben 750 Teilnehmende. So viele waren es noch nie.
Die Hauptausstellung spürt die drei Intelligenzen auf. „Intelligens.Natural“ sucht resiliente, nachhaltige Strategien bei indigenen Völkern, analysiert das Bauen in sehr heißen oder nassen Gegenden, die Erfahrung mit Extremwetterereignissen haben, und erforscht die natürliche Intelligenz von Pflanzen, Mikroben, Pilzen, Organismen als Quelle für neue Materialien und Bauformen. Die „Living Structure“ Domino 3.0 (Kengo Kuma and Associates, Sekusi House – Kuma Lab & Iwasawa Lab, beide University of Tokyo, Ejiri Structural Engineers) versteht sich als Weiterentwicklung von Le Corbusiers Prototyp aus Decken und Stützen. Domino 3.0 besteht aus den digital vermessenen, mittels 3-D-Drucker rekonstruierten Bäumen, die der Sturm Vaia in Norditalien 2019 mitgerissen hat. Künstliche Intelligenz und japanische Holzverbindungen vereinigten sich zur Wohnstruktur der Zukunft. Dem Original kann sie im Status quo nicht das Wasser reichen.
Auch im Ziegel steckt Zukunft, er findet sich mehrfach. So besteht die vier Meter hohe, statisch belastbare, parabelförmige „Elephant Chapel“ von Boonserm Premthada aus sehr leichten, materialeffizienten Ziegeln aus Elefantendung.
„Artificial.Intelligence“ umfasst alles von der ersten industriellen Revolution über die Mondlandung, Big Data bis hin zu künstlicher Intelligenz, die Grundrisse für soziale Wohnbauten generiert. Absoluter Publikumsliebling ist der humanoide Roboter Alter 3. Seine Schöpfer, Takashi Ikegami und Luc Steels, statteten ihn mit Komponenten für Wahrnehmung, Bewegung und ein episodisches Gedächtnis aus. Man kann mit ihm plaudern, seine Mimik und Antworten suggerieren Gefühle. Nothing beats the Original. „Collective.Intelligence“ feiert solidarische, empathische Projekte. Seien es schwimmende Schulen, Notbehausungen, Theater oder sehr kluge Adaptionen für günstigere Wohnungen: Hier wird Architektur wieder zum Instrument, Lebensbedingungen zu verbessern. Upcycling ist anderswo alltägliche Überlebensstrategie.
Filmisch dokumentiert „Alternative Urbanism: The Self-Organized Markets of Lagos“ vom Studio Oshinowo das geschäftige Treiben auf drei riesigen, selbst organisierten, illegalen Spezialmärkten in Lagos, wo aus Industriemüll der westlichen Welt sehr kreativ Brauchbares gefertigt und verkauft wird. In Europa macht sich die Bürgerinitiative „House Europe!“ für Nutzung und Erhalt von Bestand stark. Alte Bauten speichern sehr viel Energie, ihr Abriss ist Verschwendung und Vernichtung von Material, mit gravierenden Konsequenzen: Wohnen wird unleistbar. Bis 31. Jänner kann man noch unterschreiben.
Hier Kühl-, dort Strickdecke
Zum besten Beitrag wurde das Canal Café von Diller Scofidio + Renfro, Natural Systems Utilities, SODAI, Aaron Betsky und Davide Oldani gekürt. Auf der Lagune des Arsenale installierten sie eine Art Hybrid aus Labor und Espressobar, der das Brackwasser aus dem Kanal biologisch und künstlich filtert, um alle Schadstoffe zu entfernen. Aus dem gekochten Wasser wird Espresso gebrüht. Wenn die Zukunft der Architektur so intelligent, kommunikativ und genussvoll ist, bitte gern!
Die nationalen Pavillons haben durchwegs außergewöhnlich hohes Niveau, fast jeder ist ein Gewinn. Den Goldenen Löwen bekam Bahrain für eine modulare Kühldecke, die von einer Mittelstütze getragen wird und daher überall im öffentlichen Raum installierbar ist (Kurator Andrea Faraguna, Statik: Mario Monotti, Bauphysik: Alexander Puzrin). Ihre Wirkung war vor Ort eindeutig spürbar.
Serbien versinnbildlicht Kreislaufwirtschaft, Interdisziplinarität und technologischen Fortschritt in unnachahmlich poetischer Weise. Die riesige Strickdecke, die als malerischer Baldachin von der Decke hängt, verbindet die Kulturpraxis des Strickens mit der ersten künstlichen „Belgrade Hand“ (1963). Im Lauf der Biennale wird sie von Spulen an den Wänden aufgespult und verlustlos wieder verwendbar sein.
Österreich thematisiert „leistbares Wohnen“
Wohltuend klassisch präsentiert Spanien 16 ausgesuchte Projekte auf je einer Waage in der Balance mit ihrer Umwelt. Sie zeigen unaufgeregt, wie Architektur zur Dekarbonisierung beitragen, Materialforschung vorantreiben und das regionale Handwerk stärken kann. Der dänische Pavillon hätte eine Auszeichnung verdient: Er entwickelt Schutt der momentanen Restaurierung zu Neuem, das langfristig wieder einbaubar ist. Selbst Detailpläne sind hier ausgestellt, die Verweildauer von Architekturschaffenden ist lang. Ukraine, Lettland und der Libanon reflektieren Architektur unter der Bedingung von Krieg.
Das österreichisch-italienische Kuratorentrio Michael Obrist, Sabine Pollak und Lorenzo Romito thematisiert als einziges die virulente Frage leistbaren Wohnens. Ihre „Agency for better Living“ stellt den fürsorgenden sozialen Wohnbau in Wien aus und der aus staatlichem Versagen geborenen zivilgesellschaftlichen Eigeninitiative in Rom gegenüber. Was beide voneinander für ein besseres Leben lernen können, wird eine Biennale lang diskutiert.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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