Artikel

Rückwärtsgang in Stahlbeton
Der Standard

Die Budapester Burg ist eine Großbaustelle. Viktor Orbáns Fidesz rekonstruiert hier die Kaiserzeit und schiebt andere historische Schichten zur Seite. Eine kritische Bergbesteigung mit dem Künstler Andreas Fogarasi.

9. August 2025 - Wojciech Czaja
Eine breite Baulücke klafft am Nordrand des Várhegy, des schmalen Bergrückens parallel zur Donau, auf dem die Budapester Burg thront. Rechts von der Lücke: Das wuchtige Gebäude des ungarischen Staatsarchivs, ein historistischer Bau aus dem Jahr 1923. Links davon: ein schmales Stiegenhaus aus Beton und Glas, dem das dazugehörige Haus fehlt. Es gehörte zum Archiv-Erweiterungsbau aus den 1970er-Jahren, der inzwischen abgerissen wurde.

Gefüllt werden soll die Baulücke mit einer Art neuem Altbau. Der im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte und später abgerissene Turm soll wieder errichtet werden, ergänzt um einen Gebäudeflügel, der 1923 geplant, aber nie ausgeführt wurde. Eigentlich sollte mit den Bauarbeiten schon 2022 begonnen werden, passiert ist bisher nichts. Der unerwünschte Bau aus sozialistischer Zeit wurde vorsichtshalber schon beseitigt.

Die Moderne tilgen

Es ist nicht der einzige neue Altbau auf dem Várhegy im Rahmen der großen Rekonstruktions-Initiative namens Nationales Hauszmann-Projekt. Benannt ist es nach Hofbaumeister Alajos Hauszmann, der zwischen 1890 und 1905 die Burg in großem Stil ausbaute, um auf imperialer Augenhöhe mit Wien zu sein – eine Ära, die jetzt wiedererstehen soll, wenn es nach Viktor Orbáns Fidesz-Partei geht, die das Programm maßgeblich vorantreibt. Davon erzählen die vielen Bauzäune, bedruckt mit Fotos, Zeichnungen und Porträts früherer Könige in stattlich-bärtiger Männlichkeit.

Nicht alle sind begeistert von diesem Großvorhaben. „Eine wesentliche Motivation des Hauszmann-Projekts und der aktuellen Regierung ist es, die Moderne aus dem Stadtbild zu tilgen“, sagt Andreas Fogarasi, vor dem Bauzaun des Nationalarchivs stehend. „Ihre Verwerfungen und Wunden und die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts sollen unsichtbar gemacht werden.“ Der in Wien lebende Künstler mit ungarischen Wurzeln kennt die Bausubstanzen von Budapest, denn sie sind Kern seiner Arbeit. Er kombiniert Elemente von abrissbedrohten Bauten zu Materialpaketen, komprimierter Architektur-Archäologie. Seine besondere Liebe gilt der Architektur der Nachkriegszeit. Den Abbruch des Archivgebäudes bedauert er sehr.

Dass den Befürwortern des Hauszmann-Projekts die Bauten der 1950er- bis 1980er-Jahre ein Graus sind, wird keineswegs verhohlen. Denn die Kommunisten, sagen sie, hätten die Zeugen der imperialen Zeit, die der Krieg übrigließ, aus „ideologischen Gründen“ zerstört. Die simple Gleichung: Kommunismus gleich Moderne gleich Internationalität, ohne Rücksicht auf das typisch Ungarische, was immer es sein mag. Spaziert man mit Andreas Fogarasi durch den Várhegy, wird klar, dass das nicht ganz stimmt. Denn die Kommunisten machten hier keineswegs Tabula rasa. Im Altstadt-Gefüge entdeckt man zahlreiche Wohnbauten jener Zeit, die eine unaufgeregte Moderne mit historischen Elementen kombinieren und tadellos gealtert sind.

„Moderne Neuinterpretation“

Auch die Burg selbst wurde nach 1945 nicht als Symbol des unerwünschten Imperialismus gesprengt, sondern wieder aufgebaut – hier unterschied sich Ungarn von der DDR, die das Berliner Stadtschloss per Sprengladung beseitigte. „In Budapest wurde in einem jahrzehntelangen Prozess eine moderne Neuinterpretation geschaffen“, sagt Andreas Fogarasi. „Verschiedene Fassaden nahmen Bezug auf verschiedene Zeitalter, es wurden alternative Formen für die wiederaufgebaute Kuppel diskutiert. Aber heute treffen sich Berlin und Budapest im Rekonstruktionswahn der Gegenwart.“

Nähert man sich dem Burgkomplex, der die südliche Hälfte des Várhegy einnimmt, zeigt das Hauszmann-Projekt sein ganzes Gewicht. Hier werden derzeit das Gebäude des Oberkommandos der ungarischen Streitkräfte und das Erzherzog-Joseph-Palais von Grund auf neu errichtet. Allein diese beiden Bauten dürften mehr Beton aufbieten als die gesamte sozialistische Moderne auf dem Burgberg. Verkleidet in Styropor, darauf ein dünner Firnis aus historischem Dekor.

Das Spiel aus alt und neu wird nicht weniger verwirrend, je weiter man spaziert. Ein Flügel der Burg aus der Rekonstruktion der Nachkriegszeit ist bis auf die Fassade demoliert, daneben baut man an einer alternativen Rekonstruktion. Zwar ist die acht Jahrhunderte umfassende Baugeschichte der Budapester Burg eine des permanenten Umbaus, doch während die Wieder-Aufbauer des Sozialismus noch sorgfältige Archäologie betrieben hatten, ist für das Hauszmann-Projekt nur ein einziges historisches Kapitel interessant – jenes, das mit Ungarns größter territorialer Ausdehnung assoziiert wird. Auch hier ist also reichlich Ideologie im Spiel. Die Architekturtheoretikerin Maitri Dore weist in ihrer Forschungsarbeit Nation-building through architecture in post-socialist Budapest auf diesen selektiven Umgang mit der Geschichte hin: Alles vor dem ungarischen Schlüsseljahr 1867 wird beiseitegeschoben, alles nach 1945 sowieso.

Für sie ist der Fokus auf den Várhegy auch ein Zeichen, dass sich Fidesz nicht mit der Stadt auseinandersetzen und lieber über ihr thronen will. Während hier in Buda dreistellige Millionenbeträge ausgeschüttet werden, bröselt die Bausubstanz in Pest an vielen Stellen vor sich hin. Das ärgert auch Andreas Fogarasi: „Es macht mich unglaublich wütend, dass ein Staat, der die Bildung, die Gesundheitsversorgung, die unabhängige Presse und Kultur finanziell aushungert, sich mit einem enormen Aufwand dieses Denkmal errichtet und dafür historisch und architektonisch wertvolle Substanz zerstört.“

Feingliedrige Glaselemente

Endpunkt des Spaziergangs: die Kuppel des Palastes, wiedererrichtet 1961. Das Tageslicht flutet durch einen Vorhang feingliedriger Glaselemente in die Räume der Nationalgalerie. Auch hier hat das Hauszmann-Projekt große Pläne. Die Galerie wird in einen Neubau in Pest abgesiedelt, entworfen vom japanischen Büro SANAA. Die Kuppel soll durch eine Kopie der neobarocken Hauszmann-Kuppel ersetzt werden. Andreas Fogarasi, der Materialsammler, schaut zu den Glaselementen und seufzt: „Im schlimmsten Fall bekomme ich ein Dutzend davon. Im besseren Fall gar nichts – und die Kuppel bleibt bestehen.“

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: