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db deutsche bauzeitung 2020|11
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db deutsche bauzeitung 2020|11

Mitten am Rand

Rathaus in Remchingen

In der Gemeinde mit mehreren etwa gleichwertigen Teilorten gab es bislang nur zaghafte Versuche, eine Mitte zu bilden. Die enorm starke Setzung des neuen Rathauses bietet mit ihren klar gegliederten Fassaden aus Dämmbeton zwar keinerlei gestalterischen Bezug zur Umgebung, durch Struktur, Ausrichtung, Platzgestaltung und unterschiedliche Angebote hingegen umso mehr Anknüpfungspunkte – und mit den beiden gegensätzlichen Prinzipien von Solitärbildung und Einbindung auf verschiedenen Ebenen Möglichkeiten zur Identifikation.

6. November 2020 - Christian Schönwetter
Wer mit der Bahn von Stuttgart nach Karlsruhe fährt, bekommt wenig Landschaft und viel Zersiedelung zu sehen. Kurz nach Pforzheim hält der Zug noch einmal in Remchingen, einer Gemeinde, die als Paradebeispiel für das Phänomen »Zwischenstadt« dienen könnte: Mit ihrer guten S-Bahn-Anbindung eignet sie sich als preiswerte Wohnalternative zu den nahe gelegenen Großstädten und zählt inzwischen 12.000 Einwohner, ihr Charakter lässt sich schwer einordnen, sie ist weder Dorf noch Vorort noch Stadt. Die siedlungstypologische Unbestimmtheit rührt aber auch wesentlich von der Geschichte her, denn Remchingen entstand erst ab 1973 im Zuge der baden-württembergischen Gebietsreform als Zusammenschluss dreier kleinerer Gemeinden. Baulich sind sie über die Jahrzehnte enger zusammengewachsen, ohne jedoch ein richtiges Zentrum auszubilden. Wer hier aus dem Zug steigt, landet zunächst in einer Art Niemandsland zwischen den beiden Ortsteilen Wilferdingen und Singen. Die frühere Randlage lässt sich an den eingeschossigen Gewerbebauten einer Tankstelle und eines Pflanzenmarkts ablesen, ergänzt durch eine Kulturhalle und ein Seniorenheim, das noch immer Aussicht in die freie Landschaft bietet. Ein Blick auf den Stadtplan zeigt jedoch, dass der Bereich vor dem Bahnhof gleichzeitig so etwas wie die geografische Mitte der Gesamtgemeinde darstellt. Remchingen möchte hier ein neues Zentrum etablieren und hat zunächst mit der gezielten Ansiedlung von Einzelhandel begonnen. Ein Discounter und ein Drogeriemarkt verbessern seit Kurzem die Nahversorgung und locken einige Kundschaft an. Als weit ausgreifende Flachbauten mit großem Parkplatz errichtet, lassen sie allerdings eher an ein Gewerbe­gebiet denken als an ein verdichtetes Ortszentrum.

Ganz anders der jüngste Baustein, der zur Belebung der neuen Mitte beitragen soll: Das Rathaus präsentiert sich als hochkompakter Körper, dessen vier Geschosse schon eher eine gewisse Zentralität suggerieren. Damit überragt es fast alle anderen Bauten der Umgebung, markiert das neue Herz Remchingens sinnfällig in der Stadtsilhouette und strahlt ein Selbstvertrauen aus, das einem öffentlichen Gebäude gut zu Gesicht steht – endlich ist das größte Haus im Ort einmal nicht die Bank. Dass die Gemeinde sich hier mit einem so voluminösen Bauwerk darstellen kann, ist der Integration weiterer Nutzungen zu verdanken, die das Rathaus zu einem Multifunktionsbau machen. Nicht nur der Sitzungssaal und diverse Ämter, die sich bislang über den gesamten Ort verteilten, sind darin zusammengeführt, sondern auch die Polizeistation und eine öffentliche Bibliothek. Und nicht zuletzt findet im EG ein Brauhaus Platz – quasi als Ersatz für einen traditionellen Ratskeller.

Außenraum und Außenhaut

Geschickt wurde die konzeptionelle und gestalterische Setzung eines solcherart erweiterten Verwaltungszentrums genutzt, um die diffuse stadträumliche Situation zu klären. Standen die Kulturhalle und das Seniorenheim als Solitäre bislang beziehungslos nebeneinander, so werden sie jetzt durch den Neubau zu einem Ensemble ergänzt, das einen gut proportionierten Platz rahmt. Er eignet sich für Open-Air-Veranstaltungen im Zusammenhang mit der Halle, aber auch für Adventsmärkte o. Ä. Im Westen öffnet er sich zur Landschaft, im Osten schirmt das Rathaus ihn von der angrenzenden Bundesstraße ab. Um ihn dadurch jedoch nicht zum Hinterhof zu degradieren, erhebt sich das Gebäude auf einem fünfeckigen Grundriss, sodass zur Rechten und Linken ausreichend breite Freiräume verbleiben, die – trichterartig zulaufend – den Blick von der Straße gleichsam einsaugen und in Richtung des Platzes lenken. Auf die Lage zwischen diesen öffentlichen Räumen reagiert das Bauwerk folgerichtig mit dem Verzicht auf eine eindeutige Vorder- oder Rückfront und auf einen klaren Haupteingang. Vielmehr sind alle Fassaden gleichwertig ausgebildet und im EG markieren drei tiefe Einschnitte an verschiedenen Seiten die Zugänge: einer vom Platz, die übrigen beiden näher an der Straße, aus Richtung Bahnhof und aus Richtung des historischen Dorfkerns von Wilferdingen.

Eine schwere Hülle aus Sichtbeton lässt das Rathaus fest mit dem Ort verwurzelt erscheinen. Als Dämmbetonkonstruktion erstellt, ermöglichte sie einen komplett mineralischen Wandaufbau, der sich im Falle eines Abbruchs voll recyceln lässt. Sie verleiht dem Gebäude einen massiven, monolithischen Charakter, ein Eindruck, den die tiefen Laibungen und die Attika ohne Blech unterstreichen. Quadratische Fensteröffnungen perforieren die Hülle in einem regelmäßigen Raster. Im EG sind sie verlängert und reichen bis auf Straßen­niveau hinab, ohne jedoch die strenge Tektonik der Fassaden zu stören. Wie ein großer Fels steht der Bau auf dem Platz und strahlt in seinem disparaten Umfeld eine unerschütterliche Ruhe aus. Insgesamt wirkt er solide und wertig.

Allerdings nur, solange man ihn aus der Nähe betrachtet. Tritt man ein paar Schritte zurück, wird auf dem Dach ein wildes Durcheinander aus Anlagentechnik und Lüftungsleitungen sichtbar. Das fast schon dekonstruktivistische Tohuwabohu will so gar nicht zu den ruhigen disziplinierten Fassaden passen. Eine nachträgliche Einhausung sei bereits in Planung, ist auf Nachfrage bei den Architekten zu erfahren, und man fragt sich, wie das dafür benötigte, nicht gerade geringe Volumen wohl die Gesamterscheinung des Bauwerks beeinflussen wird.

Wie aus einem Fels geschlagen

Doch erst einmal siegt die Neugier auf die Innenräume. Den Eintretenden empfängt ein imposantes Sichtbeton-Atrium über vier Geschosse. In Serpentinenmanier führt eine Treppe nach oben, von Stockwerk zu Stockwerk weiter zurückspringend, wie aus einem massiven Fels geschlagen. Ein großer Teil der Verwaltungsräume ist direkt von den Galerien des hellen Atriums zugänglich, sodass relativ kurze Flure ausreichen, um die übrigen Büros zu erschließen. Im 1. OG liegt der Trausaal mit einer vorgelagerten Loggia für einen kleinen Umtrunk nach der Zeremonie. Im 2. OG deutet eine im Grundriss gezackte Wand an, dass sich dahinter ein besonderer Raum befinden muss. Es ist der zweigeschossige Ratssaal, dem die Wand zu einer besseren Akustik verhilft. Auf der gegenüberliegenden Seite öffnet er sich mit einer Vollverglasung zur Dachterrasse und bietet einen entspannenden Blick über den Platz in die Landschaft.

Ein wenig suchen muss man die Gemeindebibliothek im 3. OG, deren Eingang sich kaum von denen der Verwaltungsräume unterscheidet. Auch an der Fassade macht sie sich nicht bemerkbar, sondern versteckt sich geradezu hinter normalen Bürofenstern. Schade, dass sie nicht gut auffindbar im Eingangsgeschoss liegt und dass sie keine Ein- und Ausblicke vom öffentlichen Raum gestattet. Da die Entscheidung, die Bibliothek im Rathaus unterzubringen, erst sehr spät fiel, ließ sich die Planung nicht mehr ändern. Aber Schwamm drüber. Alles in allem überwiegt beim Schlendern durchs Gebäude der Eindruck eines offenen, einladenden Rathauses, in dem die Bürger willkommen sind. Stellvertretend für die Nutzer zeigt sich die Dame im Bürgerbüro hochzufrieden mit der großzügigen, lichten Atmosphäre.

Bleibt die Frage, ob es dem Bauwerk gelingt, trotz seiner Randlage der neuen Mitte Remchingens Leben einzuhauchen. Beim Besuch an einem Donnerstagnachmittag im September zumindest scheint dies zu funktionieren. Auf der Terrasse des Brauhauses sitzen einige Gäste, der ein oder andere Bürger besucht die Ämter, die Wasserspiele des Platzes locken Kinder an und auf den Bänken ruhen sich Senioren aus, wenn dort nicht gerade ein paar Jugendliche »abhängen«. Das Konzept der Nutzungsmischung scheint aufzugehen und Personen aus allen Generationen anzuziehen. Besonders die Integration des gastronomischen Angebots erweist sich für die Vitalisierung von Gebäude und Platz als hilfreich. Letztlich kommt es offenbar nicht darauf an, ob die Gestaltung nun bis ins letzte Detail gelungen ist, vielmehr bestätigt sich wieder einmal die alte Stadtplaner-Weisheit: Urbanität erzielt man nicht mit Steinen, sondern mit Menschen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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