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Spielhaus unterm Kirchenzelt

Hagen: Kirche wird zur Kita

Umnutzung ist besser als Abriss, aber nicht immer führt der Umbau von Kirchen zu überzeugenden Lösungen. In Hagen ist die Operation gelungen: Durch ein ‧Haus-in-Haus-Konzept, das mit aller gestalterischen Klarheit umgesetzt wurde, bleibt die Raumwirkung des einstigen Kirchenschiffs weiterhin erfahrbar.

9. August 2021 - Hubertus Adam
Der Hamburger Architekt Gerhard Langmaack (1898-1986), der auf Empfehlung von Fritz Schumacher in jungen Jahren 1925/26 das Haus für die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg errichten konnte, zählte zu den prägenden Figuren des evangelischen Kirchenbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Mehr als 60 Sakralbauten weist sein Œuvre auf, wobei es sich zum Teil um Wiederaufbauprojekte, zum Teil um Umbauten handelten.

Im westfälischen Hagen entstand nach seinen Plänen 1960-62 die Martin-Luther-Kirche. In prominenter Lage, unmittelbar östlich des Hauptbahnhofs und direkt am Eingang zur Innenstadt, hatte die Evangelische Gemeinde der Stadt hier 1889 ihr zweites Gotteshaus errichten lassen. Der neogotische Bau des Leipziger Architekten Julius Zeißig wurde im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs nahezu komplett zerstört; erhalten blieben lediglich der Turmstumpf und geringe Reste der Außenmauern. Unter Zuhilfenahme einer Baracke des Reichsarbeitsdienstes konnten nach 1945 wieder Gottesdienste gefeiert werden, bis schließlich Langmaack seinen Kirchenneubau errichtete. Als Zeichen des Neubeginns wurde die Kirche rückwärtig auf dem Grundstück platziert und der mit einem roten Ziegelmantel umhüllte Turmstumpf vermittels eines Flachbaus einer Werktagskapelle von Süden her an das Kirchenschiff angedockt. Zeltartig im Ausdruck, verbreitert und erhöht sich dieses zum Altarraum, der aus einem schwingenden Zusammenspiel dreier konkaver Wände geformt ist. Die Wände des Schiffs bestehen aus einer mit farbigen Bleiglasfenstern ausgefachten Stahlbetonstruktur, während den Altarraum kleine halbrund geformte Fenster von der Seite aus in zurückhaltendes farbiges Licht tauchten.

Umnutzung in mehreren Schritten

Die demografische Situation in Hagen hat sich seit den 60er Jahren stark gewandelt, das Bahnhofsviertel wirkt multikulturell, und unmittelbar nördlich der Martin-Luther-Kirche steht inzwischen eine Moschee. Die in der Boomphase des Sakralbaus nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete Kirche war angesichts der schwindenden Anzahl von Gottesdienstbesuchern viel zu groß, sodass um 2000 durch Tobias Langmaack im Westteil des Kirchenschiffs eine Orchesterempore als Probenraum eingebaut wurde, die mit einer gefalteten Glaswand vom Rest des Innenraums abgetrennt war.

Dauerhaft war aber auch die Hybridnutzung keine Lösung, denn seit 2010 fanden keine Gottesdienste mehr in der Kirche statt. So entschied sich die Gemeinde, das inzwischen denkmalgeschützte Gebäude zu entwidmen; 2016 ging es in den Besitz der Stadt Hagen über. Mit dem Umbau zu einer Kita für ungefähr 100 Kinder war eine für einen ehemaligen Kirchenbau akzeptable Nachnutzung gefunden, und überdies erhoffte sich die Stadt damit eine Aufwertung des als tendenziell problematisch angesehenen Bahnhofsviertels.

Haus im Haus

Kitas in Kirchenbauten der Spätmoderne einzubauen, ist ein Thema, das auch schon anderenorts erprobt wurde, so von Bolles + Wilson 2013 in Münster und von Flos und K 2018 in Saarlouis. Das Projekt in Saarlouis ähnelt konzeptionell auch dem Vorgehen von Ellertmann Schmitz in Hagen, die ein Haus-in-Haus-Prinzip umgesetzt haben. »Arche« nennen sie den zweigeschossigen Einbau mit Satteldach, der mit seinem trapezoiden Wänden der Geometrie des Kirchenschiffs folgt und nur den Altarraum frei lässt. Wie beim Dach des Kirchenschiffs steigt auch hier die Dachlinie nach Osten hin an. Das neue bergende Gebäude steht also frei im Raum und lässt allseitig einen Umgang frei, der zugleich als thermischer Puffer fungiert.

Man betritt die Kita »Kolibri« wie vormals die Kirche über das Vestibül, wo die Eltern ihre Kinder abgeben und Kinderwagen abstellen können. Schon von hieraus wird das Haus-im-Haus-Prinzip sichtbar, und im Umgang überzeugt das Gegenüber der farbig verglasten Kirchenwand mit ihren rhythmisierenden Betonpfeilern und des Holzbaus der Arche. Deren EG umfasst Büros, eine Kindergartengruppe sowie einen Mehrzweckraum. Letzterer, ganz im Osten und damit im breitesten Bereich des Kinderhauses positioniert, lässt sich zum ehemaligen Altarbereich hin öffnen, sodass dieser optional räumlich mitgenutzt werden kann.

Die übrigen Kindergartengruppen nutzen das über Treppen vom Umgang aus zugängliche OG der Arche, für die unter Dreijährigen wurden die Werktagskapelle und das EG des Turms neu gestaltet. Unter der früheren Orgelempore, die in einem nördlichen Annexbau aufgestellt war, haben die Architekten die Küche und die Sanitärbereiche eingerichtet.

Weißer Gesamtklang

Der Einbau, dessen Lattung von der Brüstung der Orgelempore inspiriert ist, tritt als helles Gebäude in Erscheinung. Vom erdenden leichten Graublau des Linoleumbodens und dem Naturstein des früheren Altarbereichs abgesehen ist Weiß der durchgängige Farbton im Innern, auch die ursprünglich holzsichtige Decke wurde nun überstrichen. Denkt man an andere Kitas, die mit schreiender Buntfarbigkeit besonders kindgerecht erscheinen wollen, so ist diese Zurückhaltung wohltuend. Sie ist aber auch ästhetisch konsequent, denn Farbigkeit besteht schon: Sie kommt von den farbigen Bleiglasfenstern. Und schließlich ist die helle Farbfassung des Innern auch eine Notwendigkeit, um eine gute Belichtung der Arche zu ermöglichen. Dazu tragen weitere Maßnahmen bei – einerseits die Oberlichter im Dach, andererseits haben Ellertmann Schmitz vereinzelte Buntglasfelder des Kirchenschiffs entfernt und die farbige Verglasung des Chorbereichs komplett durch Klarglas ersetzt.

Das Transformationsprojekt überzeugt durch architektonische Präzision, gestalterische Klarheit und den Respekt vor dem Baubestand. Dadurch, dass das neue Volumen frei im Raum steht und das Innere nicht komplett verbaut und zergliedert, bleibt die vormalige Raumwirkung der Kirche noch gut erfahrbar. Das Haus-in-Haus-Konzept – von den Architekten liebevoll sogar mit Dachüberständen umgesetzt, als könne es hier regnen – führt überdies zu einem willkommenen Nebeneffekt: Unter dem Kirchendach wirkt die Arche viel kleiner als sie in Wirklichkeit ist. Fast puppenstubenartig, ein veritables Haus zum Spielen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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