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db deutsche bauzeitung 2021|10
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db deutsche bauzeitung 2021|10

Der Kniff mit den Ecken

Fußballstadion in Lausanne (CH)

Glück gehabt: Nachdem zunächst ein monströses Sportzentrum samt Mantelbebauung zur Diskussion gestanden hatte, ‧entschied sich die Stadt Lausanne schließlich für ein pures, eigenfinanziertes Fußballstadion. Das architektonische und statische Konzept ist ebenso funktional einleuchtend wie visuell attraktiv. Der FC Lausanne-Sport kann sich über eine Ikone freuen.

5. Oktober 2021 - Hubertus Adam
Für den FC Lausanne-Sport war der 29. November 2020 ein denkwürdiger Tag. Nicht unbedingt in sportlicher Hinsicht, unterlagen die Fußballer aus der Romandie doch in einer Heimniederlage 0:3 den Berner Young Boys. Aber in die Vereinsgeschichte geht das Datum trotzdem ein, weil an diesem Tag das erste Spiel im neuen Stadion stattfand, dem Stade de la Tuilière. Dieses liegt am nördlichen Stadtrand, dort wo die Stadt zerfasert und in eine landschaftlich geprägte Ebene übergeht. Bisher wurde ein Kilometer weiter südlich im Stade Olympique de la Pontaise gespielt, aber wie anderenorts auch entsprach der Bau aus dem Jahr 1954 nicht mehr den strengeren Sicherheitsvorschriften und ließ sich auch nicht mit vertretbarem Aufwand baulich anpassen.

Erfolg im zweiten Anlauf

Hervorgegangen ist der Stadionneubau aus dem Projekt »Métamorphose, das der Stadtrat seit 2006 verfolgt. Es handelt sich um einen Stadtumbau in großem Maßstab, der mehrere neu anzulegende Ökoquartiere zum Wohnen und Arbeiten, öffentliche Einrichtungen und Gewerbegebiete umfassen sollte, aber auch die Erneuerung nicht zuletzt der sportlichen Infrastruktur. Letztere sollte sich in einem Megakomplex mit Fußballstadion, olympischer Schwimmhalle und schier endlosen kommerziell nutzbaren Flächen für Büro und Gewerbe im südlichen Stadtteil Près-de-Vidy konzentrieren. Den Wettbewerb der Jahre 2011/12 konnten gmp für sich entscheiden, allerdings zeigte sich schnell, dass das »überspannte« Projekt auf tönernen Füßen stand: Das Modell der Public-private-Partnership basierte auf falschen Annahmen, wirtschaftlich war das ganze Vorhaben nicht tragfähig. Immerhin reagierte die Stadt schnell: Das gmp-Projekt verschwand in der Versenkung und mit ihm auch der Gedanke eines durch eine aufgeblasene Mantelbebauung sich finanzierenden Riesensportzentrums. Die Programmbestandteile wurden nun separiert und an andere Standorte verschoben: Das Schwimmbad nach Malley im Westen, das Stadion in das Viertel Tuilière im Norden. In einem neuerlichen Wettbewerb des Jahres 2014 setzten sich :mlzd und Sollberger Bögli aus Biel durch, die sich eigens dafür zusammengefunden hatten. Auf die hinteren Ränge verwiesen wurde die internationale Prominenz: OMA, SANAA, Souto de Moura, Cruz y Ortiz.

Nun ging es zügig voran – ganz anders als etwa in Aarau oder Zürich, wo die Stadionneubauten nur schleppend Fahrt aufnehmen. Da das Stadionprojekt schon in den Masterplan des bis 2030 in der Umgebung entstehenden Ökoquartiers Plain-de-Loup integriert war, bedurfte es keiner zusätzlichen Volksabstimmung. Als Bauherrschaft fungierte die Stadt Lausanne, die dem FC Lausanne-Sport den Betrieb übertragen hat und dafür Miete einnimmt. Ausgelegt ist das Stadion bei internationalen Spielen für 12 000 Besucherinnen und Besucher, für die Schweizer Super League (höchste Spielklasse der Schweizer Meisterschaft, entspricht der 1. Bundesliga in Deutschland) sind 12 500 zugelassen. Bei anderen Großveranstaltungen dürfen bis zu 20 000 Personen ins Stadion.

Abgeschnitten oder hochgeklappt

Wenn man sich von der Stadt her nähert, ist das Stadion schon von Weitem sichtbar. Breit gelagert ruht es auf einem leicht geböschten landschaftlichen Sockel und bildet den Auftakt des Centre Sportif de la Tuilière, einem sich in die Ebene über Landschaft und See erstreckenden Areal aus zwei Reihen leicht gegeneinander versetzter Fußballfelder samt Leichtathletikanlage. Ikonisches Zeichen sind die betonierten Ecken des Neubaus, die diesem einen ganz eigenen, unverwechselbaren Ausdruck verleihen und den eigentlichen Coup der Architekten darstellen. Versteht man das Stadion als Baumasse, so wirkt es, als seien die Ecken des orthogonalen Volumens, das durch vier das Spielfeld umgebende Tribünen gebildet wird, schräg abgeschnitten worden. Liest man es als Struktur, so erscheinen die Ecken wie hochgeklappt. Die Vorteile dieser gestalterisch prägnanten Lösung liegen auf der Hand: Durch die Abkantung der Ecken kann der Besucherstrom auf der räumlich begrenzten Parzelle besser um das Stadion herumgeführt werden. Zudem fungieren die perfekt geschalten Wandpartien nicht nur als Signete, sondern ganz praktisch als Vordächer für die an den Ecken angeordneten Zugänge.

Darüber hinaus sind die gekippten Betondreiecke zentrale Bestandteile des statischen Konzepts, das auf einer hybriden Struktur aus Stahl und Beton beruht. Die Eckwände belasten den umlaufenden stählernen Ringträger der Dachkonstruktion auf Zug, während sie unten durch eine Ringmauer aus ‧Beton verbunden sind. Die stählerne Dachkonstruktion selbst ruht auf einer Reihe ebensolcher Stützen, die auf dem oberen Umgang aufsitzen. Zugstangen an der Fassade stabilisieren die weit über das Spiel ausgreifenden Kragarme und fungieren bei Wind als Druckstäbe.

In diese Hülle eingeschrieben ist die Tribünenstruktur, die aus vor Ort betonierten Scheiben und präfabrizierten Tribünenelementen besteht. Mit 35 Grad weisen die Ränge die maximal in der Schweiz zulässige Steilheit auf, um die gewünschte Hexenkessel-Atmosphäre nach englischem Vorbild zu erzeugen; die Architekten verweisen insbesondere auf das Stadion des FC Liverpool an der Anfield Road. Unterstützt wird diese Wirkung noch durch das vergleichsweise niedrige Dach, welches die Wirkung der Fangesänge akustisch unterstützt. Förderlich in dieser Hinsicht war auch das Entfallen eines im Wettbewerb noch vorgesehenen Zwischengeschosses.

Hexenkessel samt Panorama

Hat man erst einmal auf der Tribüne Platz genommen, so lenkt nichts vom Spiel ab. Vor Spielbeginn und in der Pause hingegen locken die Erschließungsbereiche zwischen innerer und äußerer Schale, die veritable Aufenthaltsräume mit eigener architektonischer Qualität darstellen. Geräumig ist der mit gastronomischen Stationen ausgestattete untere Umgang hinter der Ringmauer. Über die mit Stufen und Sitzpodesten ausgestatteten Innenseiten der dreieckigen Eckwände gelangt man direkt hinauf zum oberen Umgang unterhalb des Dachs, der durch die als Windschutz dienende Verglasung hindurch ein faszinierendes 360-Grad-Panorama über Stadt, See und Alpen bietet.

Die klare und logische Tragstruktur des Gebäudes setzt auf die Rohheit des Materials, die unmittelbare Lesbarkeit und maximale Sichtbarkeit. Schon von den Eingängen an den Ecken aus öffnet sich der erste Blick auf das gegenüber der Umgebung 1 m vertiefte Spielfeld, und die Tribünenuntersichten bestimmen dank der Offenheit schon von außen das Bild. Möglich war all dies natürlich nur, weil keine Mantelnutzung einzubeziehen war, die gemeinhin die Kraft und Rauheit der Konstruktion verschleiert. Zusätzliche Nutzungen wie Restaurant oder VIP-Bereiche konzentrieren sich hier auf die mit ihrer Außenseite dem Platz zugewandten Haupttribüne, die von einer vertikal leicht gefalteten und damit an einen Vorhang erinnernden Glasfassade geprägt wird. Sie nimmt dem großmaßstäblichen Volumen etwas von seiner Wucht und vermittelt auf diese Weise zur Bebauung ringsum, während das Stadion auf den anderen Seiten nicht als Gebäude, sondern als reine Struktur erscheint. Als reine Struktur, die – wie Goethe angesichts der Arena von Verona konstatierte – sich eigentlich erst im Moment des Spiels vollendet und damit zur Architektur wird.

Der Kniff mit den Ecken hat Lausanne eine unverwechselbare Sportstätte beschert. :mlzd und Sollberger Bögli sprechen auch vom Bild eines Gefäßes, oder, um beim Sport zu bleiben, von einem Pokal. Der thront nun schon einmal am Stadtrand von Lausanne, auch wenn es für den FC Lausanne-Sport zu Pokal und Meisterschaft noch ein langer Weg sein sollte.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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