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db deutsche bauzeitung 2022|09
Begrünte Gebäude
db deutsche bauzeitung 2022|09

Koexistenz auf dem Dach

Dachgarten eines Firmengebäudes in Zürich (CH)

Eine einst ungenutzte Dachfläche eines Zürcher Bürohauses wurde in einen üppig gedeihenden und sinnlich anmutenden Garten verwandelt, den sich Menschen, Pflanzen und Tiere teilen. Eine Erfolgsgeschichte, nicht nur für die Mitarbeitenden des Unternehmens.

12. September 2022 - Hubertus Adam
Dach- und Hausbegrünungen stehen aktuell hoch im Kurs: Kaum ein Bauprojekt der vergangenen Jahre ist auf so eine breitenwirksame Akzeptanz gestoßen wie etwa Stefano Boeris »Bosco Verticale« in Mailand. Das Unisono des Green-Building-Hypes lässt die vereinzelten kritischen Stimmen nur wenig Gehörfinden. Die des Landschaftsarchitekten Günther Vogt etwa, der den ökologischen Sinn von begrünten Hochhäusern und begrünten Fassaden infrage stellt: Es bedarf eines hohen Pflegeaufwands und komplexer Bewässerungssysteme. Aber v. a., und das ist Vogts vielleicht entscheidendstes Argument, werden die Bewohnerinnen und Bewohner von der Sorge um die Pflanzen entkoppelt, da diese in ein gleichsam kybernetisches Bewirtschaftungsmodell eingebunden sind.

Immersive Kontaktzone

Bei einer Dachbegrünung in Zürich wollte man es anders machen. Ein Schweizer Unternehmen ist Hauptmieter des um einen Innenhof gruppierten Gebäudes aus dem Jahr 2003. Im Lauf der Zeit entstand die Idee, auch das bislang ungenutzte, bis auf eine Holzplattform nicht zu betretende und lediglich von schütterem Moos bewachsene Flachdach über dem 3. OG neu zu gestalten, mit anderen Worten: zu begrünen und als Erholungsraum für die Mitarbeitenden zu nutzen. Die Aufgabe übernahm die Architektin Nadja Zürcher mit ihrer Firma Quantaviva, sie holte zur Planung das Architekturbüro Vera Gloor sowie verschiedene andere Fachplaner mit ins Boot. Bewusst wählte man nicht ein ausgewiesenes Landschaftsarchitekturbüro, um eine primär an ästhetischen Kriterien orientierte Gestaltung zu vermeiden. Denn von Anbeginn war klar, dass die Dachlandschaft nicht als ein optisches Gegenüber, sondern gewissermaßen als immersive Kontaktzone von Mensch, Pflanze und Tier dienen sollte. Das funktioniert aber nur, wenn nicht an den Bedürfnissen der zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer vorbeigeplant wird. Nadja Zürcher lancierte einen partizipativen Prozess unter allen Beteiligten, um ein tragfähiges Gesamtkonzept zu entwickeln.

Der nächste Schritt bestand darin, die technische Umsetzbarkeit zu evaluieren. Das betraf zuerst das nicht unerhebliche Gewicht von Substrat, Erde und Pflanzen, die auf das Dach aufgebracht werden mussten. Auch wenn das bestehende Dach an einigen Stellen zu verstärken war, sollte nicht zuletzt aus Kostengründen auf eine weitergehende statische Ertüchtigung des Gebäudes verzichtet werden. Daher bildet der Pflanzplan gewissermaßen das bestehende Tragwerksystem ab: Höher wachsende Pflanzen umgeben die Dachränder, weil hier die hinter der Fassade liegenden Stützen genutzt werden konnten. Der Nebeneffekt: Der Garten schließt nach außen hin ab und lässt in vielen Bereichen den Effekt eines Hortus conclusus entstehen. Die mächtigsten Bäume, vier 7 m hohe Amberbäume, nutzen die innen liegenden Pfeiler zur Lastabtragung. Magerwiese als niedrigster Bewuchs mit geringer Substratschicht umgibt hingegen den zentralen Innenhof.

Koexistenz als Herausforderung

Die umgestaltete Dachfläche umgibt den Innenhof dreiseitig und misst insgesamt 2 500 m². Auf der Südseite findet sich ein bestehender Büroflügel, von dem aus man den Dachgarten betritt. Westlich anschließend ist ein überdeckter und damit pavillonartig wirkender Loungebereich neu entstanden, der sich auch bei schlechterem Wetter nutzen lässt. Ebenfalls weitgehend neu errichtet wurden zwei Dachaufbauten, in denen sich Fluchttreppenhäuser, Toiletten, Technikbereiche und Abstellräume für Gartengeräte verbergen. Rahmenelemente und abgespannte Metalldrähte erlauben den Bewuchs durch Rankpflanzen, sodass die kubischen Körper in naher Zukunft hinter einer grünen Hülle verschwinden. Daneben tragen die Dachaufbauten zur Zonierung des Gartens bei, indem sie stärker von den menschlichen Nutzerinnen und Nutzern frequentierte Bereiche nahe dem Zugang beispielsweise von den etwas abgelegenen Bereich trennen, in dem Vögel nisten. Die Koexistenz von Menschen, Tieren und Pflanzen ergibt sich nicht von selbst; sie bedarf der Steuerung.

Bei der Auswahl der Pflanzen wurde auf das Prinzip der Vergesellschaftung geachtet. Gräser, Blumen, Kräuter und Stauden bedecken den Boden und verhindern das Austrocknen. Kleine Obstpflanzen, Beeren, Büsche, Hecken und Sträucher und Rankpflanzen bilden die mittlere Ebene, die von den Amberbäumen überragt wird. Der Pflanzboden besteht aus Substrat und mit aktivierter Pflanzenkohle versetzter Bionika-Schwarzerde. Je nach Position auf dem Dach unterschiedlich stark aufgebracht, fungiert er als Retentionsfläche für das Regenwasser. Auf ein zuschaltbares Bewässerungssystem ließ sich angesichts der stetig heißer werdenden Sommer allerdings nicht verzichten. Verwendet wird reines Wasser, keine angereicherte Nährlösung, wie man es von begrünten Fassaden kennt. Einige Tiefwurzler wie Rosen oder bedingt winterharte Pflanzen wie Feigen wachsen in Kübeln.

Bei der Auswahl der Pflanzen setzte Nadja Zürcher weitestgehend auf einheimische Arten, also solche, die auch anderswo in der Stadt und ihrer Umgebung vorkommen. Und auf Essbarkeit: Beeren, Trauben, Äpfel, Birnen, Kirschen, Aprikosen und andere Früchte können von den Mitarbeitenden geerntet werden, locken aber auch Vögel an. Darüber hinaus gibt es einen Bereich mit Pflanzkästen für das Urban Gardening. Eine Imkerei, die in Zürich auch andere Dachgärten bewirtschaftet, hat im Südosten des Dachgartens einige Bienenkästen aufgestellt, und daran schließt sich ein großzügiges Gehege samt Stall an, in dem ein Dutzend Appenzeller Spitzhaubenhühner leben. Ihre Pflege obliegt den Auszubildenden des Unternehmens.

Gleichung mit vielen Unbekannten

Dachbegrünung, das hört sich zunächst ebenso wünschenswert wie simpel an. Simpel ist es nicht, im Gegenteil: Für Nadja Zürcher ging es um die Lösung einer komplexen Gleichung mit vielen Unbekannten. Die Herausforderung bestand im Zusammenführen ganz unterschiedlicher Disziplinen: Architektur, Landschaftsplanung, Tragwerksplanung, Dachabdichtung, Humusmanagement, Bauphysik, Haustechnik, Gartenbau, um nur einige zu nennen.

Zur Arbeit mit der Natur gehört auch das Scheitern, wie man schon beim Bestellen eines einzigen Balkonkastens erfahren kann; bis ins Detail lässt sich Landschaft nicht planen. Vereinzelt mussten Pflanzen entfernt und ersetzt werden, wobei insbesondere die Windexposition des Dachs ein Problem darstellt. Grundsätzlich aber ist der Dachgarten ein großer Erfolg – hinsichtlich des Pflanzenwachstums und der Ansiedlung von Insekten und Vögeln. Aber auch bei den etwa 300 Mitarbeitenden des Unternehmens, die das Dach für die Mittagspause, für das zurückgezogene Arbeiten, aber auch für Besprechungen unter freiem Himmel nutzen. Oder einfach nur, um Natur zu erleben. Und wer nicht ohnehin auf dem Weg nach oben ist, erfährt intern über Social Media, welches Obst oder welche Kräuter gerade zu ernten sind.

Einmal in der Woche kommt Nadja Zürcher vorbei und schaut nach dem Rechten. Und einmal im Monat sorgt der Gärtner für das nötige Maß an Pflege. Für Nadja Zürcher ist der Dachgarten nicht zuletzt ein Pionierprojekt für Biodiversität und Verbesserung des Mikroklimas. Ungenutzte Dachflächen, die sich intelligent bepflanzen ließen, gibt es viele. Man muss es eben nur wollen. Und damit die brachliegenden Potenziale erkennen und nutzen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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