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Kippt das Klima schneller als die Stimmung unter den Architekten?
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Es hat lange gedauert, bis die drohende Klimakatastrophe als zentrale Herausforderung für das Bauen erkannt wurde.

1. März 2024 - Christian Kühn
Die Fakten sind hinlänglich bekannt: Wenn es nicht gelingt, die Erderwärmung auf ein Ausmaß von plus 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu beschränken, wird es ungemütlich auf unserem Planeten. Konkret bedeutet das unter anderem, dass beim Überschreiten dieses Durchschnittswerts keine Ernährungssicherheit für die wachsende Weltbevölkerung mehr gegeben wäre. Im Jahr 2015 haben sich 195 Staaten in Paris auf das 1,5-Grad-Ziel verpflichtet.

2018 erstellte das Intergovernmental Panel for Climate Change, kurz IPCC, einen Bericht, nach dem dieses Ziel sinnvoll und noch erreichbar wäre, allerdings mit großen Anstrengungen bereits in den Jahren vor 2030. Die EU hat sich daher eine Reduktion der CO2-Emissionen um 55 Prozent bis zu diesem Datum als Ziel gesetzt.

Das Bauwesen trägt zu diesen Emissionen mehr bei als jeder andere Sektor der Wirtschaft. Das mag überraschen, war man doch seit den 1970er-Jahren gewöhnt, das Problem vor allem im Energieverbrauch für das Heizen und Kühlen unserer Häuser zu sehen. Die Sorge galt der Frage, ob die Öl- und Gasreserven dafür ausreichen.

Verantwortlich für 60 Prozent des Ressourcenverbrauchs

Dass wir es nicht mit einem Energie-, sondern mit einem Emissionsproblem zu tun haben, wurde erst Anfang der 1990er-Jahre klar, als die Beweise für den menschengemachten Klimawandel nicht mehr zu leugnen waren.

Die Menschheit hat, zumindest auf längere Sicht betrachtet, kein Energieproblem. Allein die Sonne liefert 10.000 Mal mehr Energie, als wir verbrauchen, dazu kommen Wind- und Wasserkraft. Das ändert allerdings nichts daran, dass das Bauwesen zusätzlich zu Heizung und Kühlung noch massiv zu den globalen klimaschädlichen Emissionen beiträgt.

Das liegt einerseits an den fossilen Energien, die für die Herstellung von Baumaterialien nötig sind. Allein die Zementindustrie trägt fünf bis sieben Prozent zu den globalen Emissionen bei. Da diese Materialien oft über weite Strecken transportiert werden, entstehen zusätzliche Emissionen, die dem Bauwesen zuzurechnen sind. Andererseits kommen noch die Abbruchmaterialien dazu, die viel zu günstig deponiert werden können.

Alles in allem ist das Bauwesen in den Industrienationen für 60 Prozent des Ressourcenverbrauchs, 50 Prozent des Mülls, über 35 Prozent des Energieverbrauchs und letztlich über 50 Prozent der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich.

Moratorium für den Neubau

Die Planenden in den Bereichen Architektur und Ingenieurwesen mussten sich erst daran gewöhnen, als Teil des Problems betrachtet zu werden und nicht mehr ausschließlich als Erfinder neuer Welten. Dass es ein paar Jahre gedauert hat, bis das Emissionsthema im Bauwesen von den Rändern ins Zentrum gerückt ist, lag wohl darin begründet, dass im Kern jeder Antwort der Begriff „weniger“ stehen muss: weniger Boden verbrauchen, weniger neu bauen, stattdessen Leerstände nutzen und umbauen. Nur langsam sickerte die Erkenntnis durch, dass es auch ohne Neubau so etwas wie Fortschritt in der Architektur geben könnte.

Heute ist die Stimmung gekippt: Die Architekturszene ist auf das Thema fokussiert wie nie zuvor. Radikale Forderungen jüngerer Kolleginnen und Kollegen nach einem Moratorium für den Neubau oder zumindest für den Abriss werden als kreative Provokation diskutiert. Die Pioniere der Kreislaufwirtschaft im Bauen, die sich seit vielen Jahren diesem scheinbar wenig attraktiven Thema widmen, bekommen die Anerkennung, die sie verdienen.

An den Universitäten beginnt eine Umstellung der Curricula in Richtung einer ganzheitlichen Betrachtung, bei der es um dynamische Systeme und nicht um statische Objekte geht. Zukünftige Architektinnen und Architekten müssen lernen, die Präzision von Weltraumingenieuren mit der Geduld von Gartenarchitekten zu verbinden.

Großer Leerstand

Auch die Kammer der Ziviltechniker:innen hat reagiert und vor wenigen Tagen ein Positionspapier mit dem Titel „Klima, Boden & Gesellschaft – Positionen zum verantwortungsvollen Planen und Gestalten“ veröffentlicht, bei dessen Präsentation sie die von den Sozialpartnern ins Spiel gebrachte Idee eines „Eigenheimbonus“ massiv kritisierte. „Aktuell auf Neubauten und somit auf Versiegelung zu setzen, um die Bauwirtschaft anzukurbeln“, gleiche der „Forderung nach einer neuen Pandemie, um mehr Patienten behandeln zu können“. Das Positionspapier stellt in vier Kapiteln den Beitrag vor, den gute Planung und Gestaltung zu einem effektiven und sozial gerechten Klimaschutz leisten können.

Beim Architekturfestival TurnOn, das vorige Woche in Wien stattfand, war das Thema ebenso bereits im Festvortrag von Andreas Hofer präsent, dem Intendanten der IBA27, der Internationalen Bauausstellung der StadtRegion Stuttgart, die 2027 eröffnet wird. Er fühle sich manchmal als „Suchtberater“ in einer Welt, die süchtig geworden sei nach immer mehr Ressourcen, vom Bauland über die Wohnfläche pro Person bis zum Energieverbrauch. Die IBA Stuttgart möchte zeigen, welche neuen Symbiosen, etwa zwischen Wohnen und Produktion, in einem hoch industrialisierten Umfeld möglich sind.

Auch in der Podiumsdiskussion von TurnOn zum Thema „Bodenverbrauch“ ging es sehr bald um das Thema Leerstand. Laut einer Analyse der Statistik Austria, die im Herbst publiziert wurde, stehen rund 653.000 von 4,9 Millionen Wohnungen leer.

Exzentrisches ist auch erlaubt

Noch dramatischer ist die Lage im gewerblichen Bereich. Während die leer stehenden Wohnflächen auf 12,5 km² geschätzt werden, sind es bei Industrie- und Gewerbeflächen fast zehnmal so viele. Wie sich solche Leerstände anders nutzen lassen, zeigte bei TurnOn das Büro Smartvoll, das an der Salzburger Peripherie für den Projektentwickler Marco Sillaber an der Revitalisierung zweier Industriebrachen arbeitet. Beide Standorte – das Sony CD-Werk und ein Zentrallager des Universal Versand – gehörten einmal zu prominenten Unternehmen. Das Potenzial dieses Bestands liegt in seiner enormen Dimension, die mit Lichthöfen nutzbar gemacht wird. Der im Lager des Universal Versand verbaute Beton entspricht mit rd. 63.000 Tonnen 0,5 Prozent des jährlich in Österreich anfallenden Bauschutts, die nun nicht deponiert, sondern weitergenutzt werden.

Bei so viel smartem Pragmatismus war man froh, bei TurnOn auch Exzentrischem zu begegnen, wie etwa Peter Haimerls Wabenhaus für die bayrische Wohnbaugenossenschaft Wogeno. Was auf den ersten Blick nach ornamentaler Fassadenakrobatik aussieht, hat ein raffiniertes Erschließungskonzept, das ungewöhnliche Raumkombinationen erlaubt. Sähen alle Häuser so aus, könnten wir das 1,5-Grad-Ziel wohl nie erreichen. Ab und zu vom Leben in der Schräge zu träumen sollte man sich von diesem Ziel aber nicht verbieten lassen.

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