Zeitschrift

db 2024|05
Umhüllt
db 2024|05

Wohnungsbau in Hasselt

Im belgischen Hasselt hat das Atelier Kempe Thill im Innenhof einer ehemaligen Kaserne einen ungewöhnlichen Wohnungsbau mit neun flexibel einteilbaren Ebenen realisiert. Die lichte Architektur mit ihrer rundum verglasten Fassade sorgt in den Wohnungen für viel Tageslicht und steht im gelungenen Kontrast zu den Backsteinfassaden des sanierten bzw. ergänzten Bestands.

3. Mai 2024 - Robert Uhde
Wer mit dem Zug von Aachen oder Brüssel nach Hasselt kommt, dessen Blick trifft direkt am Bahnhof als Allererstes auf die futuristische Architektur des monumentalen Gerichtsgebäudes, das 2013 nach Plänen von Jürgen Mayer H. hier fertiggestellt wurde. Mit der 2022 umgenutzten Herkenrode-Kaserne hat die gerade mal 70 000 Einwohner:innen zählende Hauptstadt der Provinz Limburg mittlerweile ein architektonisches Juwel ganz anderer Art zu bieten. Denn nach der Schließung und temporären Zwischennutzung des innerstädtischen Blocks als Bürostandort hatte die Kommune 2015 beschlossen, den teilweise noch aus dem 17. Jahrhundert stammenden Komplex zu verkaufen, um das ehemals militärisch genutzte Areal behutsam nachzuverdichten und in ein vielfältig nutzbares Innenstadtquartier umzuwandeln.

Mittlerweile ist das Projekt weitgehend fertiggestellt. Eine typologische Besonderheit ist dabei das im Zentrum der Anlage auf dem ehemaligen Exerzierplatz neu entstandene Wohngebäude. Der 2022 nach Plänen von André Kempe und Oliver Thill fertiggestellte Neubau stellt auf neun Ebenen mit einer Bruttogeschossfläche von insgesamt 7 500 m² fünfzig individuell gestaltete Wohnungen mit einer Größe von 28 bis 210 m² zur Verfügung und überrascht dabei durch seine rundum durchgehende Glasfassade und die dahinterliegenden offenen Wintergärten.

Ausgangspunkt für die Planung war ein 2015 ausgeschriebener Einladungswettbewerb, aus dem aufgrund des großen Projektumfangs ein gemeinsamer Entwurf vom Atelier Kempe Thill (Rotterdam) sowie von Abscis Architecten (Gent), dem UAU Collectiv (Hasselt) und LAND landschapsarchitecten (Antwerpen) als Sieger hervorgegangen war. In enger Zusammenarbeit mit den örtlichen Immobilienentwicklern Kolmont und Vestio hatten die vier Büros vorgeschlagen, die zentral innerhalb des mittelalterlichen Stadtringes gelegene Blockbebauung mit ihren monumentalen Kasernengebäuden aus dem späten 19. Jahrhundert und dem markanten Torhaus grundlegend zu sanieren und durch Balkone und Durchgänge stärker zum Blockinneren hin zu orientieren. Parallel dazu wurde das aus der Renaissance (1544) stammende Refugium der Schwestern der Abtei Herkenrode behutsam in das neue Konzept eingebettet.

Ein Teil der nördlichen Blockrandbebauung aus dem 20. Jahrhundert ist demgegenüber aufgrund von Bauschäden abgerissen und durch zeitgenössische Wohnbauten mit hellen Klinkerfassaden ersetzt worden (Planung: Abscis Architecten und UAU-Collectiv). »Die Bestandsgebäude der ehemaligen Kaserne und das Torhaus stehen andererseits als Veranstaltungsgebäude für die Universität Hasselt zur Verfügung, sodass in der Summe ein vielfältiger Funktionsmix entstanden ist«, so André Kempe und Oliver Thill, die beide aus Ostdeutschland stammen und seit 2000 ein eigenes Büro mit Hauptsitz in Rotterdam führen.

Im Rahmen der Planung haben sich die beteiligten Büros ganz bewusst am Konzept der mittelalterlichen Stadt orientiert, ergänzt durch neue räumliche, soziale und ökologische Qualitäten: »Ganz wichtig war in diesem Zusammenhang der städtebauliche Impuls des Projekts«, wie Oliver Thill erklärt. »Denn im Rahmen der Umsetzung ist der bislang geschlossene Baublock durch drei neue Durchgänge geöffnet und über eine halböffentliche Durchwegung an das städtische Gefüge der Stadt Hasselt angebunden worden.« Durch die neu geschaffene Tiefgarage ist es gleichzeitig gelungen, das Gelände komplett autofrei zu halten. Der nach Plänen von LAND gestaltete und in Teilen begrünte Innenhof bietet stattdessen eine sichere Spielumgebung für Kinder und dient gleichzeitig als ruhige Oase für die Bewohnerinnen und Bewohner. Radfahrende haben über einen Fahrrad- und Lastenaufzug einen eigenen Zugang zur Tiefgarage. Eine neu geschaffene unterirdische Verbindung zu einer weiteren Tiefgarage und zu einem außerhalb des Altstadtkerns gelegenen Parkplatz sorgt darüber hinaus dafür, dass das Zentrum von zusätzlichen Verkehrsbewegungen entlastet wird.

Luftiger Wohnungsbau im Kern der Anlage

Die augenfälligste Veränderung vor Ort betrifft den im Zentrum des Blocks auf einer Fläche von 22 x 35 m neu platzierten Wohnungsbau von André Kempe und Oliver Thill, der den Innenhof nach Westen einfasst: »Zu Beginn unserer Planung hatten wir noch überlegt, die mittelalterliche Struktur des Bestandes aufzugreifen«, blickt Oliver Thill zurück. »In enger Abstimmung mit dem Bauherrn haben wir uns dann aber für eine bewusst leichte Architektur mit durchgehenden Glasfassaden entschieden, um so ein deutliches Gegengewicht zu der vorhandenen Backsteinarchitektur zu schaffen und um das vorhandene Licht im Innenhof optimal zu nutzen.« Und trotz des überraschenden Kontrasts und trotz des großen Volumens des Baukörpers ist es gelungen, den Neubau weitgehend zurückhaltend zu gestalten und die Gesamtsituation nicht zu dominieren.

Betont wird der leichte, beinahe schwebende Eindruck des insgesamt rund 9,6 Mio. Euro teuren Neubaus durch die horizontale Gebäudestruktur mit ihren offenen Gebäudeecken und den um rund 0,6 m auskragenden Geschossdecken. Eine Besonderheit sind außerdem die auf der Ost- und Westseite jeweils 2,7 m, auf der Nord- und Südseite jeweils 1,7 m tiefen, je nach Wohnungsgröße unterschiedlich langen Wintergärten. Die mit Meranti-Holzböden angenehm warm gestalteten Wintergärten nehmen rund ein Drittel der jeweiligen Wohnfläche ein und erlauben mit ihren bis zu 5,70 m hohen, oben und unten in Aluminiumprofilen fixierten Ganzglas-Schiebeelementen eine beinahe ganzjährige Nutzung. Zusätzlich fungieren die Wintergärten auch als energetischer Puffer, indem sie die zurückliegenden Wohnungen im Sommer vor der hochstehenden Sonne schützen und im Winter andererseits den Heizwärmebedarf reduzieren. Ein ausreichender Schutz gegen die hohen Windlasten insbesondere in den oberen Ebenen wird dabei durch eine obere Aushebesicherung in den Elementen sichergestellt.

Privatsphäre auch im EG

Ab der fünften Etage und im Staffelgeschoss ermöglichen die geschosshohen Glasfassaden einen ungestörten Panoramablick über die Dachlandschaft von Hasselt. »Die unteren beiden Etagen haben wir demgegenüber als Maisonette-Einheiten ohne von außen sichtbare Geschossdecke ausgebildet, um so die Anordnung von Schlafzimmern im Erdgeschoss zu vermeiden«, erklärt Oliver Thill. »Um auch für die Wohnräume im Erdgeschoss ausreichend Privatsphäre und Komfort zu gewährleisten, haben wir es außerdem um 0,5 m angehoben und die Wohnräume mit vorspringenden, doppelt so hohen Wintergärten ausgebildet.«

Der Zugang zum Gebäude erfolgt über ein luftiges doppelgeschossiges Foyer auf der Westseite, das mit seiner materialbetonten Gestaltung mit Sichtbeton, dem polierten Betonestrich und einer frei stehenden Stirnwand aus Eichenholz den urbanen Charakter des Gebäudes unterstreicht. Von hier erschließen zwei Aufzüge und eine Innentreppe im tragenden Stahlbetonkern die verschiedenen Ebenen: »Zusätzlich zu diesem Kern waren aus bautechnischer Sicht keine tragenden Wände notwendig«, erklärt Oliver Thill. »Stattdessen haben wir lediglich acht notwendige Stützen in den Grundriss integriert, teilweise kombiniert mit den Schächten für Kabel und Rohre. Im Verbund mit einem Innenausbau in Leichtbauweise haben wir eine maximale Kompaktheit und Wirtschaftlichkeit erreicht und gleichzeitig die Grundlage für eine sehr flexible Grundrissentwicklung geschaffen, sodass wir die Wohnungen ganz individuell an die Bedürfnisse der künftigen Bewohner anpassen konnten.«

Mit dem Projekt in Hasselt knüpfen André Kempe und Oliver Thill ganz bewusst an vorherige Entwürfe im Bereich Wohnungsbauprojekte an. Ganz offensichtliche Bezugspunkte bietet dabei das bereits 2009 fertiggestellte Apartmenthaus »HipHouse« im niederländischen Zwolle. Auch dort war es den Architekten gelungen, mit einer raumhohen, hälftig als Schiebetüren ausgeführten Verglasung luftige Wohnungen mit offenem Loft-Charakter zu schaffen: »Aufbauend auf dieser Erfahrung haben wir auch hier in Hasselt versucht, durch eine strategische Verschmelzung städtischer und vorstädtischer Qualitäten ein bezahlbares Idealmodell für städtisches Wohnen zu schaffen«, erklärt Oliver Thill. »Mit seinen großen Wintergärten, dem fließenden Innen-außen-Verhältnis, den loftartigen Grundrissen und der sehr hochwertigen Materialisierung betrachten wir das Projekt dabei als echte Alternative zum vorherrschenden flämischen Wohnmodell in Einfamilienhäusern.«

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

Tools: