Bauwerk

Mémorial de la Shoah
Antoine Jouve, Simon Vignaud - Paris (F) - 2005

Der Holocaust in Buchstaben und Bildern

Das Pariser Mémorial de la Shoah wird eröffnet

Das Mémorial de la Shoah, das morgen in Paris der Öffentlichkeit übergeben wird, präsentiert sich als das grösste seiner Art in Europa. Mehr als um ein Mahnmal handelt es sich um ein umfassendes Dokumentationszentrum.

26. Januar 2005 - Marc Zitzmann
Vor sechzig Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit. Seit 1996 wird am 27. Januar in Deutschland alljährlich offiziell der Opfer des nationalsozialistischen Terrors gedacht. Auch in vielen anderen europäischen Ländern - darunter seit 2004 die Schweiz - ist dieser Tag ein «Tag des Gedenkens an den Holocaust und der Verhütung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit». Es hätte sich angeboten, das Berliner Holocaust-Mahnmal an diesem Datum zu eröffnen - was aber erst am 10. Mai geschehen wird. Dafür wird morgen in Paris das Mémorial de la Shoah der Öffentlichkeit vorgestellt.

Eine Mauer mit 76 000 Namen

Steht man im Vorhof des Memorials, das von der Rue Geoffroy-l'Asnier im historischen Judenviertel durch massive Metallgitter abgeschirmt wird, blickt man auf eine vierzehn Meter hohe blinde Steinfassade. Die beiden Seitenwände des Hauptgebäudes sind aus Beton und bilden ein Geflecht aus Davidsternen. Im vorderen Teil des Vorhofs befindet sich ein über mannshoher Zylinder aus Bronze, der die Schornsteine der Vernichtungslager evoziert. Unter dem Vorhof ist über zwei Treppen die Krypta zu erreichen, ein weiter Raum, der im Halbdunkel liegt. Durch den Zylinder fällt von oben Tageslicht auf einen grossen Stern aus schwarzem Marmor, unter dem die Asche von Opfern aus Auschwitz-Birkenau, Belzec, Chelmno, Majdanek, Sobibor, Treblinka sowie Mauthausen und dem Warschauer Ghetto in Erde aus Israel begraben liegt. Dieser Teil des Komplexes wurde 1956 fertiggestellt; das Mémorial du Martyr Juif Inconnu - eine Anlehnung an die republikanische Tombe du Soldat Inconnu - steht seit 1991 unter Denkmalschutz.

Den Architekten Antoine Jouve und Simon Vignaud stellte sich die Aufgabe, diesem Komplex drei dahinter gelegene Wohnhäuser aus den 1840er Jahren anzugliedern. Deren Fassaden weisen keinerlei Gemeinsamkeit auf mit der monumentalen Steinwand zur Rue Geoffroy-l'Asnier. Der Versuch einer Vereinheitlichung wurde erst gar nicht unternommen; hinter vielen Fenstern zur Rue du Pont Louis-Philippe prangen jetzt grosse Fotoporträts. Neu ist im historischen Vorhof ein Mur des noms, auf dem die Namen und Geburtsjahre von 76 000 deportierten französischen Juden eingemeisselt sind, alphabetisch und nach dem Jahr der Deportation geordnet.

Die Gesamtfläche hat sich von 1800 auf 5000 Quadratmeter erhöht. Das Museum und das Dokumentationszentrum haben neue Räumlichkeiten erhalten, ganz neu ist ein Multimediasaal mit zwölf Bildschirmen. Die Bestände entstammen dem Centre de Documentation Juive Contemporaine (CDJC), auf dessen Initiative hin einst das Mémorial du Martyr Juif Inconnu gebaut worden war. Aus der Fusion der beiden Institutionen ist jetzt das Mémorial de la Shoah hervorgegangen. Die Geschichte des CDJC verdient kurz erzählt zu werden. Gegründet wurde das Zentrum im April 1943 in Grenoble. Laut der Historikerin Annette Wieviorka war für Frankreichs Juden das Ende des Kriegs damals schon absehbar. Es sei für den Gründer des CDJC, den Geschäftsmann Isaac Schneersohn, darum gegangen, den Boden für das Danach zu bereiten: also möglichst viel Material für künftige Restitutionen und Forderungen nach Schadenersatz zu sammeln.

Wissen statt Emotionen

Die Geschichte der eigentlichen Bestände des CDJC beginnt erst nach 1945. Namentlich mit der Sicherung wichtiger Archive des Vichy- Regimes und der Besatzungsmacht (darunter die der Gestapo) durch einen jungen Mitarbeiter, den späteren Antisemitismusforscher Léon Poliakov. Der Bedeutung dieser Archive ist es zu verdanken, dass das CDJC zu den Nürnberger Prozessen einen permanenten Vertreter entsandte und die dort verwendeten Dokumente offiziell zugestellt bekam. In den achtziger Jahren stellte das Zentrum der französischen Justiz das sogenannte Télex d'Izieu zur Verfügung, dank welchem eine Anklage gegen Klaus Barbie, den Gestapo-Chef von Lyon, erhoben werden konnte. Lange Zeit war das CDJC die einzige Institution, die Dokumente zur Verfolgung und Vernichtung der französischen Juden sammelte; Robert Paxton hat hier ebenso geforscht wie Serge Klarsfeld. Auch wurde mit «Le Monde Juif» am CDJC 1946 die erste «Revue d'histoire de la Shoah» (so der heutige Titel) gegründet. 1997 deponierten die Archives nationales in der Krypta des Memorials die «Fichiers des juifs», ein 1991 von Klarsfeld entdecktes Konvolut verschiedener Karteien der Vichy-Verwaltung, in denen verhaftete, internierte, befreite oder gesuchte Juden aufgelistet wurden. Heute besitzt das Zentrum 1 000 000 Schriftstücke (fast alles Originale), 60 000 Fotos und 55 000 Bücher. Diese können im Lesesaal des vierten Stocks konsultiert werden.

Ein kleiner Teil davon ist in den 1000 Quadratmetern des unterirdisch gelegenen Museums zu sehen. Für die Szenographen Catherine Bizouard und François Pin war es keine einfache Aufgabe, die beiden schlauchartigen Hauptsäle so zu gestalten, dass ein Gefühl der Klaustrophobie vermieden werden konnte. Dank einer rhythmischen Raumaufteilung und der Verwendung kontrastierender Materialien - gestockter Beton für die Wände, Metall für die Decke, Kunstharz für den Boden - ist ihnen das gelungen. Die chronologisch-thematisch angelegte Dauerausstellung zeigt, von einem geschichtlichen Abriss des europäischen Judentums seit dem Mittelalter ausgehend, die Mechanismen auf, die von Hitlers Machtergreifung zum Völkermord geführt haben. Der Fokus liegt auf Frankreich, doch werden dortige Ereignisse immer in einen europäischen Kontext gestellt. Laut Jacques Fredj, dem Direktor des Memorials, sollten die Verfolgten nicht «comme des victimes, mais comme des acteurs de leur vie» gezeigt werden. Entsprechend finden sich neben Dokumenten der Nazis und ihrer Helfer auch viele Zeugnisse vom Leben und Handeln - einschliesslich des Widerstands - der Juden. Der Parcours mündet in einen in sanftes weisses Licht getauchten Saal, dessen Paneel mit 2550 kleinen Fotos aus Klarsfelds «Mémorial des enfants juifs déportés de France» bedeckt ist. Erst hier gestattet sich die Szenographie, die sonst streng neutral ist, etwas wie einen verhaltenen emotionalen Effekt.

Im ersten Stock liegen die Räume für Wechselausstellungen. Bis zum 17. April sind hier rund fünfzig Zeichnungen von David Olère zu sehen, einem Überlebenden des Sonderkommandos von Auschwitz. Kurz nach dem Krieg entstanden, wirken diese Werke wie ein einziger Schrei. Der Kontrast von Olères Pathos (und auch der Monumentalität des Memorials von 1956) einerseits und andererseits der Art, wie heute die Innengestaltung der neuen Gebäudeteile auf jede Art von Zeichenhaftigkeit verzichtet, ist sprechend. In den Nachkriegsjahren ging es darum, den Völkermord möglichst eindrücklich zu vergegenwärtigen, die Menschen zu frappieren, ja zu schockieren. Der heutige Umgang mit der Shoah ist ungleich sachlicher. Das Architektenteam habe auf jeden Kommentar, auf jedes «élément d'ambiance» verzichten wollen, erklärt François Pin bei einem Rundgang.

Die Innengestaltung der neuen Gebäudeteile ist tatsächlich funktional bis zur Banalität. Im Gegensatz zum Berliner Mahnmal mit seinen 2711 Betonstelen versucht das Pariser Memorial nicht einmal, ein Sinnbild zu finden für «eine Absage an die Vergegenwärtigung des Grauens mit ästhetischen Mitteln» (NZZ vom 18. 12. 04). Stattdessen setzt es auf Didaktik: Neben dem Museum und dem Dokumentationszentrum leisten auch Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche, ambitiöse editorische Projekte sowie Diskussionen, Konferenzen und Filmprojektionen im neuen Auditorium Aufklärungsarbeit.

www.memorialdelashoah.org

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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