Bauwerk

Wirtschaftskammer Niederösterreich
RLP Rüdiger Lainer + Partner - St. Pölten (A) - 2006

Feuerwerk der Raumlust

Keine Glasfassade und doch ein Bürohaus. Dafür von einer räumlichen Differnziertheit, die ihresgleichen sucht: das neue Zentralgebäude der Witschaftskammer in St. Pölten.

4. Februar 2006
Wenn man die Quartiere im Süden des historischen Stadtkerns von St. Pölten aus der Automo bilistenperspektive beurteilt, die sich beim Fahren auf der Mariazeller Straße bietet, kommen sie sicher schlecht weg. Dringt man allerdings zu Fuß oder mit dem Rad in das Gebiet zwischen der mehrspurigen Autostraße und der Traisen vor, stellt man überrascht fest, dass dieses Stadterweiterungsgebiet aus dem 19. Jahrhundert mit dem zeittypischen Schachbrettraster wesentlich mehr zu bieten hat, als man St. Pölten gemeinhin zutraut.

Mit der Josefstraße, die von dort, wo die Linzer Straße den ehemaligen Mauerring verlässt, geradewegs nach Süden strebt, verfügt das Quartier über ein in einigen Zonen durchaus lebendiges städtebauliches Rückgrat. An der nahezu zwei Kilometer langen Strecke finden sich unter anderem zwei Kirchen, mehrere Schulen und eine qualitätsvolle, urbane Wohnanlage aus den späten 1920er-Jahren von Rudolf Wondracek, einem leider viel zu wenig bekannten und geschätzten St. Pöltener Architekten dieser Zeit. Die Josefstraße endet an der Kreuzung mit der Landsbergerstraße in einem Kreisverkehr. Bis vor wenigen Jahren stand nahebei das fernwirksame Wifi-Hochhaus von Karl Schwanzer. Seine bauplastische Qualität machte es zu einem städtebaulichen Merkzeichen, und in St. Pölten war es sicher einsames Hauptwerk dieser Ära. Eine extreme Minimalisierung der Räume und die konstruktive Unveränderbarkeit des Stahlbetons verhinderten jedoch die weitere Nutzung unter heutigen Erfordernissen, weshalb der Abbruch unabwendbar wurde.

Das neue Zentralgebäude der Wirtschaftskammer, das nun auf dem Grundstück steht, ist zwar kein Hochhaus, aber seine architektonische Qualität kompensiert den Verlust in hohem Maß. Das Projekt von Rüdiger Lainer, der noch bei Schwanzer an der Technischen Universität Wien studiert hatte, gewann den 2001 ausgelobten Wettbewerb. 2003 war Baubeginn, Ende 2005 wurden die Büros bezogen.

Auf den ersten Blick wirkt das lange Gebäude mit der mehrmals flach geknickten Fassade und dem nach Südosten wegstrebenden kürzeren Gebäudeflügel nicht wie ein typisches Bürohaus. Es verfügt nicht über die übliche Glasfassade und schon gar nicht über die heute beliebte doppelte Ausführung. Vielmehr handelt es sich eindeutig um einen Massivbau. Städtebaulich liegt das Bauwerk im nördlichen Zwickel von Landsbergerstraße und Josefstraße, wobei der lange, sich in Nordsüd-Richtung erstreckende Baukörper zum Verkehrskreisel im Süden in zwei Flügel aufgespreizt ist. Diese Anordnung und Gliederung betont das einzelne, große Objekt, was städtebaulich mit den benachbarten Wohnanlagen korrespondiert. Doch von diesen unterscheidet es sich mit einer lebendig bewegten großen Form.

Aus dem massiven Körper sind überdies an unregelmäßig verteilten Stellen der Fassade und an den Ecken loggienartig Volumen herausgeschnitten. Bauplastisch relativieren sie die Strenge des großen Körpers; funktional dienen diese Außenräume für kurze Arbeitspausen im Freien, wohl mehrheitlich zum Rauchen. Die außen aufgesetzten Fenster scheinen auf den ersten Blick auch unregelmäßig verteilt angeordnet, die vermeintliche Zufallsverteilung folgt jedoch exakten geometrischen Regeln, sodass die Anschlüsse der Bürotrennwände problemlos möglich sind. Diese bewusst gestaltete Zufälligkeit vermeidet eine Untergliederung der Fassade, lässt sie flächiger wirken und stärkt die große, ganzheitliche Form.

Im Erdgeschoß durchstößt die lange Eingangshalle den Baukörper ziemlich schräg in Fortsetzung der Vorfahrt. Nach dem häuschenartig gerahmten Windfang gelangt man in eine zwei Geschoße hohe Raumzone, wo das Empfangspult steht. Ein Steg, der den Raum quer überspannt, bildet eine kleine Zäsur, bevor man in den sechs Geschoße hohen, mit Glas überdeckten Lichthof hinaufblickt. Allein das Betreten des Gebäudes folgt somit einer räumlichen Dramaturgie, die einiges an starken Wirkungen bereithält.

Im Grundriss reihen sich die Büros entlang den Fassaden. Die Mittelzonen sind jeweils keilförmig aufgespreizt und enthalten zwischen zwei Gängen Neben- und Archivräume. Von dieser Art streben drei Flügel - wie bei einem Y - vom noch weiter auseinander gespannten mittleren Drittel des Baukörpers weg, wo der lange Lichthof mit unregelmäßigen Raumbegrenzungen seine autonome Kraft entfaltet. Rundherum ziehen sich die Erschließungsgalerien für die Büros. Sie sind da und dort etwas ausgeweitet, sodass flache Raumnischen zu einem kurzen Verweilen und zu spontanen Gesprächen einladen.

Die Gänge werden nie besonders lang, ohne dass sie von einer innen verglasten Loggia oder einer kleinen Ausweitung unterbrochen werden, und dort, wo die zwei Gänge eines Gebäudeflügels im spitzen Winkel wieder aufeinander treffen, weitet sich der Raum zur kleinen Ganghalle, in der Begegnungen weniger beengt ablaufen können. Nun wird man sich fragen, ob vor lauter Individualität nicht etwa die Orientierung verloren geht. Aber darüber braucht man sich bei der klaren Struktur der drei Gebäudeflügel und dem übersichtlichen Lichthof keine Sorgen zu machen. Zurechtfinden ist nicht schwer, und Identität geht vor kalter Funktionalität. Denn die Vielfalt und Differenziertheit dieser allgemeinen Räume zeugt von außerordentlicher Raumlust, der Freude, unterschiedlichste Räume und Raumzonen zu generieren und den darin Arbeitenden zur neugierigen und interpretierenden Benutzung anzubieten. Erste Anklänge zu dieser Art Raumfeuerwerk finden sich schon in Rüdiger Lainers frühen Wohnbauten. Die freie Form des Lichthofs wurde von ihm auch in der Mall des Kinocenters bei den Gasometern ausprobiert, aber hier in der Wirtschaftskammer ist die Form strengeren Gesetzen unterworfen und die Farbigkeit zurückgenommen.

Ob dieses neuartige Bürogebäude wohnlich ist im Sinne eines Wohngebäudes, ist zu bezweifeln, denn wohnlich sind dort meist die privaten Räume, hier sind es vor allem die allgemeinen Räume. Eher ist es wohnlich im Sinne eines Stadtkerns mit Gässchen, Höfen, Ausblicken und Durchblicken. Denn die Gänge dienen nicht bloß einer nüchternen Verbindungsfunktion, sondern bieten immer wieder Orte für kurzes Aufhalten an, wie wir dies beim Flanieren durch eine Stadt kennen und genießen.

Gewiss lässt sich so ein großes Haus mit nur einem Haupt- und vielleicht einem Nebeneingang sowie mehreren Fluchtstiegenpforten nicht mit dem offenen System einer Kleinstadt gleichsetzen. Dennoch weist es viel mehr Freiheitsgrade auf als gar manches langweilig durchfunktionalisiertes Bürohaus und ist gerade deshalb vorbildlich. Aber Vorsicht beim Abkupfern, architektonisch so locker Räume bilden und kombinieren, dahinter aber eine Ordnung wahren, das muss man können. Rüdiger Lainer und sein Team haben dies in St. Pölten jedenfalls meisterlich vorgeführt.

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