Bauwerk

Haus und Atelier Bill
Michele Arnaboldi - Pianezzo (CH) - 2003

Dialog mit alten Mauern

Ein Umbau von Michele Arnaboldi in Pianezzo

Das heute immer wichtiger werdende Bauen im Bestand hat viele Gesichter. So hat der Locarneser Architekt Michele Arnaboldi in Pianezzo bei Bellinzona eine Gruppe von Rustici nach dem «Haus-im-Haus-Konzept» sanft saniert und um einen klar strukturierten Neubau zu einem zeitgemässen Wohn- und Atelierhaus erweitert.

2. Dezember 2005 - Lore Kelly
Der Umgang mit Altbauten im Rahmen einer Sanierungsmassnahme kann sehr unterschiedlich sein. Dies ist längst nicht mehr nur eine Frage der Stadtbild- oder Denkmalerhaltung. Ebenso sind ökonomische und ökologische Aspekte zu berücksichtigen. Die Rohstoffsituation und Schadstoffemissionen verschärfen die Problematik dramatisch. Es ist deshalb ein Gebot der Stunde, auf vorhandene Bausubstanz zurückzugreifen, sie zu reparieren und weiter zu nutzen, statt Grünflächen zu zersiedeln und neue Ressourcen zu binden. Umbau- und Sanierungsmassnahmen werden in naher Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen - ihr Anteil am Gesamtbauvolumen liegt im westlichen Europa heute bei fast 40 Prozent. Im Bestand zu bauen, heisst nicht nur, sich mit historisch wertvoller Substanz zu beschäftigen, sondern sich zunehmend auch mit banalen Gebäuden der Nachkriegszeit zu beschäftigen oder aber - wie im Tessin - sich mit den vielen ungenutzten Rustici aus Bruchsteinmauerwerk abzugeben. Sie sind begehrt, da sie oft an schöner, abgeschiedener Lage stehen. Doch der Wildwuchs in Sachen Umbau war hoch - bis sich der Bund einschaltete und in gewissen Fällen sogar den Abbruch der neuer Bauteile verfügte.

«Haus-im-Haus-Konzept»

Oberhalb des bei Bellinzona in der Valle Morobbia gelegenen Tessiner Dorfes Pianezzo erwarb der Künstler Jakob Bill fünf baufällige, ineinander verschachtelte Bruchsteinhäuser. Sie fügen sich idyllisch in ein intaktes Umfeld ein. Von hier aus hat man eine herrliche Sicht auf die Berge und den Lago Maggiore. Bill nahm Kontakt mit dem Locarneser Architekten Michele Arnaboldi auf, von dem er sich ein spannendes Projekt versprach. Denn Arnaboldi ist bekannt für das Erforschen und das Ausprobieren konventioneller Materialien, die über die rein konstruktive Anwendung und über den sinnlich-taktilen Aspekt hinausgehen.

Beim ersten Anblick der Ruinen leuchtete es Arnaboldi nicht ein, warum sein Auftraggeber diese zerfallenen Mauern in ein Wohn- und Atelierhaus verwandeln wollte. Zu seinen Bedenken trug auch die Kostenseite bei. Doch dann setzte er sich mit der Bausubstanz auseinander und fand zu einer einfachen architektonischen Lösung. Die fünf Rustici aus Bruchstein wurden sanft umgebaut, und anstelle eines engen, viel zu kleinen Wohnhauses, das keinen denkmalpflegerischen Wert hatte, wurde ein Neubau geplant. Der älteste Rustico ist ungefähr 200 Jahre alt. Bei Bedarf bauten die früheren Besitzer jeweils einen neuen Rustico an. Da die fünf Steinhäuser in verschiedenen Zeiten gebaut wurden, waren sie auch in unterschiedlichem baulichem Zustand. Durch Arnaboldis Intervention entstand schliesslich ein attraktives Ensemble, bestehend aus den Rustici und einem klar strukturierten Neubau.

Das Gesuch für den Um- und den Neubau wurde von den Behörden genehmigt, da die Rustici in ihrer früheren Identität erhalten blieben. Der Ausbau erfolgte gemäss dem «Haus-im- Haus-Konzept», das heisst, es wurden selbsttragende Boden-, Wand- und Deckenelemente aus Holz eingesetzt. Deshalb gibt es im Innern der Häuser keinen einzigen rechten Winkel. Das Holzbauunternehmen Blumer & Lehmann aus Gossau (SG) errechnete die Holzelemente am Computer, und sie wurden auch per Computer millimetergenau zugeschnitten. Die fertigen Elemente wurden wie Möbel in die Steinhäuser hineingestellt, und der Holzboden wurde mit biologischen Materialien versiegelt. Die Umnutzung erfolgte somit ohne grosse Eingriffe in das bis zu fünfzig Zentimeter dicke Mauerwerk. Die bestehenden Fensteröffnungen wurden bis auf einige geringfügige Korrekturen kaum verändert.

Die für das Sopraceneri typischen Steindächer wurden neu gedeckt und brüchige sowie nicht stabile Mauern restauriert und ergänzt. Die Konstruktionen atmen und vermitteln deswegen ein gesundes Raumklima. Das Atelier wird mit einem Oberlicht aus Milchglas belichtet, das für eine angenehme Arbeitsatmosphäre sorgt. Durch die Holzbauten entstanden Räume auf verschiedenen Ebenen und mit diversen Höhen, die unterschiedliche Stimmungen evozieren. Bemerkenswert ist die Dachlandschaft, die auch im Innern erlebbar wird. Dazu tragen auch die Details bei, die eine erstaunliche handwerkliche Präzision aufweisen.

Filigraner Neubau aus Holzelementen

Die Aussenhülle des Neubaus besteht aus kanadischem Douglasienholz. Denn um das Dominieren von Glas am pavillonartig leicht wirkenden Neubau zu vermeiden, wurden vor dessen Fensterfront lamellenartige, verschiebbare Holzläden angebracht. Dadurch vermittelt das Innere Offenheit und Weite, ohne dass der Neubau von aussen in Konkurrenz zu den Rustici tritt. Dank der horizontalen Anordnung der Lamellen und der Schalung sowie der ebenfalls horizontalen Schichtung des alten Bruchsteinmauerwerks fügt sich der Neubau harmonisch in die gewachsene Einheit der Rustici ein. Die Komplexität verleiht dem Projekt seine sinnliche Intensität. Hier wurde ein bekanntes Thema in ganzheitlicher Weise abgehandelt, die vorhandenen Qualitäten wurden nicht nur aufgenommen, sondern auch überzeugend weitergeführt. Das Resultat ist beglückend: Hoch über der Magadinoebene und dem See entstand inmitten von Kastanienbäumen und Wiesen ein Ort der Entspannung, der Meditation und des kreativen Schaffens.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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