Bauwerk

Chirurgische Abteilung der Zürcher Heilstätte
Rudolf Gaberel - Davos (CH) - 1930
Chirurgische Abteilung der Zürcher Heilstätte, Foto: historische Aufnahme
Chirurgische Abteilung der Zürcher Heilstätte, Foto: Hubertus Adam
Chirurgische Abteilung der Zürcher Heilstätte, Foto: Hubertus Adam
Chirurgische Abteilung der Zürcher Heilstätte, Foto: Hubertus Adam

Licht, Luft und Sonne

1. Mai 1998 - Hubertus Adam
Wer heute in Davos ankommt, kann nur noch in Ansätzen jene urbane Topographie ausmachen, die Thomas Mann einst zu der treffenden Formulierung verleitete, die Gebäude mit ihren Balkonlogen wirkten hier «von weitem löchrig und porös wie ein Schwamm». Mit dem irreversiblen Wandel vom Kurort zum Wintersportparadies machte Davos einen tiefgreifenden Wechsel durch: nicht mehr die Sanatoriumskomplexe am Hang prägen das Ortsbild, sondern dicht gereihte Appartementhäuser, die das Tal überwuchern und längst die frühere Siedlungsgrenze verwischt haben.

«Davos, das neue Mekka der Schwindsüchtigen», hatte 1874 der Slogan gelautet, der Tuberkulosekranke nach Graubünden locken sollte. «Der Weg zu Kraft und Gesundheit führt über Davos», hiess es hingegen auf einem Plakat des örtlichen Verkehrsvereins aus dem Jahr 1929. Die «Sonnenstadt im Hochgebirge» wollte sich seinerzeit ein dezidiert modernes Image geben und ihren Ruf als Ort der Moribunden ablegen, der nicht zuletzt durch Thomas Manns «Zauberberg» zementiert worden war.

In den Bauten des Architekten Rudolf Gaberel (1882-1963) fand die Wende zur Moderne ihre architektonische Entsprechung. Die Chirurgische Klinik der Zürcher Heilstätte im Ortsteil Clavadel, zwischen 1930 und 1932 entstanden, wurde zum Musterbeispiel einer funktionalistischen Architektur.

Der Kampf gegen die Volksseuche Tuberkulose trat nach Robert Kochs Entdeckung des Tuberkelbazillus 1882 in ein wissenschaftlich fundiertes Stadium und führte schon vor der Jahrhundertwende zu neuen Heilmethoden. Das Wissen um die Infektionswege bedingte die Absonderung der Kranken in geschlossenen Häusern, die mit windgeschützten, der Sonne zugewandten Balkons optimale Voraussetzungen für Freiluft-Liegekur und Heliotherapie boten. Hoch über Davos gelegen, wurde das Sanatorium Schatzalp zur Wiege der neuen Heilstättenarchitektur, von Pfleghard und Haefeli 1899/1900 als einer der ersten grossen Schweizer Eisenbetonbauten errichtet. Wegweisend war nicht nur das Flachdach, das den Schneerutsch verhinderte, sondern auch der Verzicht auf historisierende Dekorelemente, mit dem Ziel, das Gebäude möglichst staubfrei zu halten.

Dass die Propaganda für das Neue Bauen sich in den zwanziger Jahren argumentativ auf hygienisch-medizinische Erkenntnisse stützen konnte, erstaunt vor diesem Hintergrund nicht. Le Corbusiers funktional segregierte Stadtvisionen benutzen die Reinlichkeitsrhetorik ebenso wie die Schriften Sigfried Giedions, der in seiner Publikation «Befreites Wohnen» (1929) explizit auf die Sanatoriumsarchitektur verwies. Auch das Gebäude der Thurgauisch-Schaffhausischen Heilstätte, von Pfleghard, Haefeli und Robert Maillart in Davos erbaut und von Gaberel mit einer Liegehalle auf dem Dach erweitert, entsprach dem Postulat Giedions, das moderne Haus müsse «leicht, lichtdurchlassend und beweglich» sein.

Auftraggeber des Neubaus in Clavadel, einem am Eingang zum Sertigtal gelegenen Ortsteil von Davos, war die Stiftung Zürcher Heilstätten, die seit 1898 ein Lungensanatorium in Wald im Zürcher Oberland betrieb und eine schon bestehende Einrichtung in Clavadel 1918 als Hochgebirgs-Dépendance übernommen hatte. Rudolf Gaberel, von dem schon Entwürfe für den Umbau des Altbaus stammten, gewann 1930 den Wettbewerb für den Neubau einer separaten chirurgischen Abteilung.

«Das Gebäude besteht aus einem nach der bestmöglichen Besonnung und Aussicht gerichteten, um 43 Grad von der Südrichtung nach Westen abgedrehten Krankenflügel und einem senkrecht dazu gestellten Behandlungs- und Wirtschaftsflügel», heisst es im Erläuterungsbericht. Der T-förmige, kompakte Baukörper erlaubte dank einem zentralen Erschliessungskern minimale Wege im Inneren. Die auf drei Ebenen übereinander angeordneten Patientenzimmer mit ihren insgesamt 60 Betten orientierten sich zum Tal hin, die Operations- und Behandlungsräume befanden sich im rückwärtigen Trakt, dessen Dachterrasse Zugang zum Berghang hatte.

Die heilende Kraft von Licht, Luft und Sonne zu nutzen war eigentlicher Zweck des Gebäudes. Bei gutem Wetter wurden die Betten der Patienten auf die den Zimmern vorgelagerten Liegebalkons gefahren. Statt für eine geschlossene Brüstung entschied sich Gaberel für ein Gefüge aus horizontal angeordneten Stangen: zum einen erleichterte dieses System die Beseitigung des Schnees, zum anderen warfen die Stangen weniger Schatten als herkömmliche Brüstungen. Bei starkem Wind konnten die grossflächig verglasten Liegehallen an den beiden Stirnseiten des Krankentraktes genutzt werden.

Von der Möblierung der einzelnen Zimmer abgesehen, ist Gaberels Klinik weitgehend unverändert geblieben. Neue Standards im Gesundheitswesen haben jetzt jedoch eine Erweiterung des Komplexes nötig gemacht. Ohne umfangreiche Baumassnahmen, so die Stiftung Zürcher Hochgebirgskliniken, wäre Clavadel nicht mehr zu betreiben gewesen.

So plausibel die Argumentation auch sein mag - Gaberel selbst hatte übrigens eine zukünftige Aufstockung vorgesehen -, so unverständlich bleibt der Verzicht auf einen Wettbewerb. Denn Sensibilität im Umgang mit dem Bau ist dem Erweiterungsprojekt des Zürcher Architekten Werner Bauert bei allen Nachbesserungen schwerlich zu attestieren. Der mächtige talseitige Trakt, der mit Aufnahme, Verwaltung und Sporthalle in diesem Mai eingeweiht wird, und das neue, leicht gebogene Bettenhaus rücken Gaberels einstigen Solitär optisch ins Abseits und machen das mehrfach umgebaute Sanatoriumsgebäude der Jahrhundertwende überflüssig - der Abbruch steht bevor.

In einem weiteren Bauabschnitt sollen die noch vorhandenen historischen Fenster und Türen der Patientenräume im Gaberel-Bau durch moderne Schiebetüren ersetzt und die Fenster des Sockelgeschosses vergrössert werden. Die museale Rekonstruktion eines historischen Patientenzimmers ist da wohl kaum mehr denn ein schwacher Trost.

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