Bauwerk

Unterkünfte für obdachlose Kinder
Richard Vakaj - Wien (A) - 1996
Unterkünfte für obdachlose Kinder, Foto: Walter Zschokke

80 Quadratmeter Zuhause

An der „Camillo Sitte Lehranstalt“ in Wien-Landstraße haben Richard Vakaj und seine Schüler rumänischen Straßenkindern ein Obdach geschaffen. Nun wird dieser hölzerne Elementbau in Rumänien aufgestellt.

15. März 1997 - Walter Zschokke
Der geklonte Mensch als Schreckgespenst: Vor ihm macht man uns dieser Tage fürchten. Als ob die Menschwerdung mit der Zeugung (oder einer technischen Züchtung) und der Geburt (oder der „Dekantierung“) abgeschlossen wäre. Mehr als 20 Jahre dauert heute der Entwicklungsprozeß. Das Ziel einer reifen Persönlichkeit werden viele erst nach drei Jahrzehnten ins Blickfeld bekommen. Geduldige Erziehungsarbeit und konsequente Vorbildwirkung konstituieren im Lauf der Zeit einen mehr oder im Ermangelungsfall eben weniger gebildeten und kultivierten Menschen, der, selbständig an sich arbeitend, fähig ist, aktiv an den produktiven, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Prozessen mitzugestalten.

Katastrophale Einbrüche durch Krieg, politische Umstürze oder allgemeine Not haben zur Folge, daß zahlreiche Jugendliche in einer höchst empfindlichen Entwicklungsphase aus der Bahn gedrängt oder geworfen werden und, weil es ums schiere Überleben geht, einem Druck zu asozialem und kriminellem Verhalten unterworfen werden. Man sieht, hört und liest heute in den Medien von den Straßenkindern in Brasilien; die Literatur kennt das Phänomen schon länger. Heinrich Pestalozzi betreute unter anderem in Stans durch den kriegerischen Einbruch französischer Heere zu Waisen gewordene Kinder und wurde als neuzeitlicher Pädagoge bekannt.

Charles Dickens' Roman „Oliver Twist“ berichtet aus einer Zeit, als Halbwüchsige wegen eines Taschendiebstahls durch Erhängen aus der Welt geschafft wurden. Der russische Pädagoge Anton S. Makarenko sammelte positive Erfahrungen, als er sich ab 1920 kriminellen und verwahrlosten Jugendlichen widmete, die ihre Eltern durch Krieg und Revolution verloren hatten. Sein Buch „Der Weg ins Leben“ hat seinen Wert bis heute bewahrt, auch wenn Makarenkos spätere Schriften aus der Stalinzeit bedenklich eng denkend sind.

Kurt Held, von dem das bekannte Jugendbuch „Die rote Zora und ihre Bande“ stammt, hat mit dem vierbändigen Roman „Giuseppe und Maria“ das Leben verwaister und sich selbst überlassener Jugendlicher im südlichen Italien in der Phase von 1944/45 beschrieben, als die Alliierten sich nach Norden vorkämpften.

Es ist daher kein neuartiges oder unbekanntes Phänomen, daß auch in Europa durch Umwälzungen betroffene elternlose Jugendliche Halt und Zuwendung brauchen, damit sie nicht stehlen müssen, um ihr Überleben zu sichern. Kirchliche Kreise widmen sich beispielsweise in Rumänien dieser Aufgabe mit viel Energie.

Richard Vakaj wurde mit dem Elend rumänischer Straßenkinder in Oradea konfrontiert, als er eine Vorbereitungsfahrt für den traditionellen Projektunterricht der „Camillo Sitte Schule“ machte. Als Professor an dieser Höheren Technischen Lehranstalt ergriff er 1993/94 die Initiative, um mit den Schülern Unterkünfte für obdachlose Kinder nicht nur zu planen, sondern auch selber herzustellen. Dieser Tage fahren Lehrer und Schüler nun nach Oradea, Rumänien, um ihren Prototyp aufzustellen.

Eine Notbehausung von zirka 80 Quadratmetern Wohnfläche, ist das Architektur? Und was hat das auf der entsprechenden Seite im „Spectrum“ zu suchen? werden jene fragen, die sich für ihre Prachtbauten schon längst eine Würdigung erwartet haben. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Betrachtung und Bewertung von Bauwerken nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Umständen erfolgen kann, unter denen und für die sie entstanden sind. Und wenn Jugendliche mit großem Einsatz über längere Zeit für ihre vom Schicksal härtest betroffenen Altersgenossen eine Behausung planen und ausführen, hat das auch deshalb mit Architektur zu tun, weil das Produkt durch das soziale Engagement an inhaltlichem Wert gewinnt.

Der Lernprozeß ist nicht bloß ein handwerklich-technischer, sondern ein soziokultureller. Man erfährt unmittelbar, was andernorts „Existenzminimum“ bedeuten kann. Die damit in den Schülern vollzogene Reifung läßt sich mit keinem noch so ausgeklügelten fiktiven Projekt simulieren. Der architektonische Gehalt einer derartigen Aufgabe liegt daher auch im Unsichtbaren, das heißt beispielsweise in der Reduktion auf ein für Mitteleuropäer unvorstellbares ökonomisches und soziales Minimum. Er liegt aber auch in der Tatsache, daß sowohl der Container als auch die Baracke in typologischer Hinsicht verworfen wurden.

Das Konzept sieht vielmehr ein pavillonartiges Gebilde vor, das aus sechseckigen Zellen, die eine Seitenlänge von zwei Metern aufweisen, zusammengefügt wurde. Hier spielen bereits Aspekte der Konstruktion und des Zusammenbaus mit hinein, deren Beachtung Teil des entwerferischen Lernprozesses war, aber noch geht es uns um Raum und Form. Indem an zwei Stellen beim Zusammentreffen von drei Zellenecken die tragenden Trennwände in Stützen aufgelöst werden, entsteht ein größerer Aufenthaltsraum, dessen Mitte von einem fix montierten großen Tisch eingenommen wird.

An der einen Seite schließen ein Sanitärraum und die Küche an; an der anderen sind drei sechseckige Kojen angelagert, die jeweils auf zwei Stockbetten vier Schlafplätze enthalten, sodaß der ganze Pavillon für zwölf Jugendliche ausgelegt ist.

Die Sechseckform mag auf den ersten Blick unpraktisch erscheinen, weil dreieckige Restflächen entstehen, die allerdings mit einer fest eingebauten Tischplatte vor den Fenstern geschickt genützt werden.

Räumlich entsteht durch die zur Rundhütte tendierende Form jedoch eine spezifische Geborgenheit und zugleich Autonomie, die bei aneinandergereihten rechteckigen Zimmern nicht aufkommt. Es handelt sich trotz der existentiellen Minimierung um ein „besonderes“ Bauwerk, das im Gegensatz zur Baracke und zum Container über Identität verfügt und Identifikation zu vermitteln vermag, was bei der sozialen Desintegration und der wegen vielfältiger äußerer Zwänge vorhandenen Aggressivität der Straßenkinder von nicht geringer Bedeutung sein dürfte.

Die Konstruktion besteht aus hölzernen Rahmen, die, beidseitig mit Brettern verschalt und innen wärmegedämmt, als Sandwichelemente addiert werden. Jene für die Wände haben die Maße zwei Meter mal 2,26, sodaß ein Element zu zweit problemlos bewegt werden kann. Für Boden und Dach sind die Elemente dreieckig und auf einer einfachen Konstruktion aus drei sternförmig zusammengeschraubten V-förmigen Bandstahlelementen aufgelegt, die strahlenförmig zu den Ecken verlaufen.

Die Wandelemente werden an den Gebäudekanten mit einem massiven Holzsteher verschraubt, der zugleich die offene Fuge schließt. Das flache Dach ist mit einer verklebten Folie gedichtet. Unter den Wandelementen gibt es sowohl geschlossene als auch solche mit hohen Fenstern in halber Elementbreite. Diese sind fixverglast.

Als dritter Typ finden sich niedrig liegende Öffnungen, die beim Sitzen das Hinausschauen erlauben und sich zum Lüften ausklappen lassen. Das kleine Format der Isolierglasscheiben rührt nicht etwa von einer Anlehnung an Josef Hoffmann her, sondern hat mit Standardisierung und geringerer Bruchgefahr zu tun.

Als Material dient vornehmlich Holz, das sich einmal mehr als Freund der Bedürftigen erweist, als Halbfabrikat zur Verfügung steht und mit einfachster Technologie verarbeitbar ist. Dies kommt den Möglichkeiten der Schüler ebenso entgegen wie einer künftigen Reparier- und Veränderbarkeit am neuen Standort. Das geringe Gewicht erleichtert Transport und Montage ohne Kran und andere Hilfsmittel an Ort und Stelle.

Die Erfahrungen, die von den Schülern im Rahmen dieses ausgedehnten Projektunterrichts gesammelt wurden, führen über das übliche Schulwissen weit hinaus. Die praktische Erprobung eines Bausystems erlaubt Einsichten, zu denen man weder am Zeichentisch noch am CAD-Bildschirm vorzudringen vermag: Das ist unmittelbares Leben. Die enorme Beschränkung durch ökonomische und technisch-organisatorische Aspekte erhöhte die Findigkeit für einfache Detaillösungen.

Das Beispiel zeigt aber auch, daß in den jungen Menschen enorme Energien schlummern, die, durch Begeisterung geweckt, im Zusammenwirken große Taten möglich machen. Daß diese Kräfte auch ungerichtet verpuffen können, ist bekannt.

In verantwortungsvoller Weise wurde hier diese Begeisterungsfähigkeit hervorgerufen und die Schüler zu Leistungen hingeführt, die sie wohl kaum je vergessen werden. Dazu gehört auch die Erfahrung von Zusammenarbeit. Richard Vakaj, der nicht zufällig aus der Meisterschule Roland Rainers stammt, ließ nicht locker, bis das Projekt realisiert war. Natürlich wurde die gesamte Arbeit von Schuldirektor und Abteilungsvorstand sowie von Professorenkollegen unterstützt. Darüber hinaus hat eine ganze Reihe Firmen mit Materiallieferungen und Dienstleistungen die Realisierung möglich gemacht.

Während im Krisengebiet - neben einer Soforthilfe - die Arbeit dort einsetzen muß, wo die heranwachsende Jugend in ihrer positiven Entwicklung bedroht ist, konnten im verhältnismäßig stabilen Wien unserer Tage Jugendliche derselben Generation ihrer Kräfte beim Aufbau einer guten Sache gewahr werden. Bauen hat eben ganz allgemein mit dem Übernehmen von Verantwortung zu tun. Auch das ist Architektur.

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