Bauwerk

Strassenbahnhaltestelle »Sergio Cardell«
Subarquitectura - Alicante (E) - 2006
Strassenbahnhaltestelle »Sergio Cardell«, Foto: Subarquitectura
Strassenbahnhaltestelle »Sergio Cardell«, Foto: Subarquitectura
Strassenbahnhaltestelle »Sergio Cardell«, Foto: Subarquitectura

Geheimnisvolle Architektur – hohe Ingenieurkunst

Ein Park, der eigentlich eine Straßenbahnhaltestelle ist, silberne »Käsestangen«, die in der Luft zu schweben scheinen, in Alicante wurde, nach Bürgerprotesten, aus notwendiger Infrastrukturarchitektur ein Ort des Erlebens und Verweilens.

1. November 2007 - David Cohn
Subarquitectura, das sind Andrés Silanes, Fernando Valderrama und Carlos Bañón, drei junge Absolventen des erst kürzlich eingerichteten Architekturstudiengangs der Universität von Alicante. Für den Entwurf einer Haltestelle der neuen Linie 4 der Tram Metropolitano im spanischen Alicante, die mehrere Küstenstädte miteinander verbindet, bediente sich das ortsansässige junge Büro eines weniger in der Architektur als in der TV-Werbung erfolgreichen Ansatzes, dem Spiel mit der Verführungskraft traumartiger Bilder, dem scheinbar Unmöglichen, der Kraft des Rätselhaften.
Die Station Sergio Cardell Plaza stellt das Bindeglied zwischen dem Stadtzentrum und den Wohngebieten von San Juan dar. Schon ihre Lage ist einzigartig, eine Verkehrsinsel inmitten eines großzügig bemessenen Kreisels, den die Architekten in einen kleinen Stadtpark verwandelten. Zwischen Palmen und Olivenbäumen scheinen, futuristischen Waggons gleich, zwei silbermetallisch schimmernde Lichtkörper schwerelos entlang der Gleise zu schweben.
Die 36 Meter langen Metallstränge sind durchstanzt von unzähligen Löchern unterschiedlichster Größe, die neben funktionaler auch konstruktive Bedeutung haben. Sie spenden tagsüber Schatten im heißen Klima der Küstenregion, sind durchlässig für leichte Brisen und leuchten des Nachts durch »tanzend« diagonal im Inneren angeordnete Neonröhren.

Der besondere Reiz, und das führt zum eingangs erwähnten Vergleich mit der Newtons Gesetz der Gravitation enthobenen Welt der Werbespots, liegt in der scheinbaren Schwerelosigkeit der metallenen Körper. Auf den ersten flüchtigen Blick ist vom Tragwerk nichts zu spüren und man wird – wie in einem Werbespot – zum wiederholten, intensiven Hinschauen gezwungen. Die Metallboxen werden jeweils nur von zwei flachen, verspiegelten, außermittig im ersten Drittel angeordneten Fachwerkstützen getragen. Ihr extrem schlanker Querschnitt entspricht der Wanddicke der Boxen. Zwei Abspannseile halten, fast unsichtbar, die beachtliche Auskragung von 22 Metern in der Balance.

Hohe Ingenieurkunst

Die Lastverteilung gelingt über ein komplexes Zusammenspiel: Die Oberflächen der doppelwandigen Scheiben sind auf Fachwerkträgern befestigt. So konnte die notwendige Queraussteifung der Boxen minimiert werden. Außerdem werden zur Aussteifung auch die Laibungen der Löcher herangezogen: Ihre Ränder sind jeweils mit der inneren und der äußeren Stahlplatte biegesteif verbunden. So erklärt sich, dass die Anzahl der Löcher dort am höchsten ist, wo die größten Lasten auftreten. Für zusätzliche Stabilität sorgen schlanke, diagonal im Luftraum der Körper befestigte Stabstähle.
Diese Konstruktion wurde von den Architekten nicht nur selbst entwickelt, sondern auch berechnet. Einen hinzuge-zogenen Bauingenieur hätten sie, so das selbstbewusste Statement, bei der Suche nach einer Lösung eher als Hemmnis empfunden. Sicher auch ein Resultat der sehr tiefgehenden und intensiven konstruktiven Ausbildung, die sie an der neuen Architekturfakultät in Alicante erfahren haben. Schließlich gehörten sie 2002 zu den ersten sechs Absolventen des neuen Studiengangs. Aber auch ein Zeichen für die nach wie vor umfangreichen Befugnisse und Verantwortlichkeiten spanischer Architekten. Trotzdem ließ der Bauunternehmer die ihm vorgelegten Berechnungen noch einmal von einem Bauingenieur gegenprüfen – nur zur Sicherheit –, bevor er sie dann in Zwölf-Meter-Modulen fertigte, die auf der Baustelle montiert wurden.
Die Löcher ermöglichen nicht nur die Belüftung der schwebenden Metallstränge, sie geben dem Ort auch zu jeder Tageszeit eine eigene Identität. Schon heißt es bei den Bewohnern der umliegenden, meist von jungen Familien bewohnten neuen Wohnkomplexe, wenn man sich in den Cafés rund um die Haltestelle verabredet, ganz salopp: »Wir sehen uns beim Gruyere.« Wobei man wissen muss, dass Gruyère im Spanischen als Synonym für Schweizer Käse verwendet wird; ausgerechnet die Sorte, die nun mit Abstand die wenigsten Löcher aufweist.

Thema mit Variationen

Noch ist der Anblick der im Juni in Betrieb genommenen Haltestelle ungetrübt von Beschilderungen. Damit auch künftig kein Schilderwald den Eindruck der in einer Parklandschaft schwebenden Boxen verzerrt, wird sich das Leitsystem dezent auf frei stehende transparente Tafeln beschränken.
Entlang des verästelten Wegenetzes zu beiden Seiten der Bahnsteige haben die Architekten rechteckige Sitzbänke aus Metallgitter »verstreut«, die abends ebenfalls beleuchtet sind; eine spielerische Wiederholung des Themas der schwebenden Metallkörper. Die Zwischenräume der sorgfältig um den Baumbestand geführten Wege wurden mit Erde aufgefüllt und bilden kleine, grasbewachsene Inseln – ein großer Luxus im trockenen Klima der Region.
Ebenso wie die schwebenden Boxen der Haltestelle schaffen auch die gräsernen Hügel und die diagonal geführten Wege einen klar definierten Ort, ohne diesen von der Umgebung abzugrenzen. Vom Rand der Verkehrsinsel aus gesehen verstärken die Hügelchen sogar noch die scheinbare Loslösung der Metallkörper vom Untergrund.

»Väter« und Söhne

Andrés Silanes, Fernando Valderrama und Carlos Bañón gründeten Subarquitectura 2004. Schon 2005 wurden sie auf besonderen Wunsch von Javier García-Solera, einem ihrer früheren Professoren, zur Teilnahme am Wettbewerb für die Haltestelle eingeladen. García-Solera war von der Stadt Alicante als Berater beauftragt worden, nachdem es unter den Anwohnern des Viertels Proteste gegen einen ersten Entwurf gegeben hatte, den das für das Gesamtprojekt verantwortliche Ingenieurbüro vorgestellt hatte. García-Solera selbst hatte einen der U-Bahnhöfe im Stadtzentrum entworfen.
Die Drei präsentieren die zweite Generation der so genannten Alicante-Schule mit ihren sehr eigenen regionalen Bezügen. Die »Elterngeneration«, dazu zählen maßgeblich Jose García-Solera, Alfredo Payá, Dolores Alonso und die im benachbarten Murcia ansässige Architektin María Torres Nadal, die sich alle mittlerweile einen Namen gemacht haben, gehörten zu den ersten Lehrern der Fakulität und hatten, so erinnern sich Silanes, Valderrama und Bañon, einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Ausrichtung des Lehrplans.
Obwohl sie sich alle der klassischen Moderne verpflichtet fühlen, hat jeder von ihnen eine sehr eigene Sprache entwickelt. Während García-Soleras Architektur geprägt ist von einem geradlinigen, an Mies orientierten Funktionalismus und seine Bauten sich durch eine sehr sorgfältige Detailplanung auszeichnen, zeigt Alonso in ihren Entwürfen formale Experimentierfreude. Payá hingegen hat sich, das wird an seinen Bauten deutlich, im Laufe der Zeit eher den sozialen und psychologischen Aspekten des Entwerfens zugewandt und Torres Nadal ist sicher mit ihren auffälligen, fast schon flamboyanten Arbeiten der Paradiesvogel unter den Vieren.
Die Arbeiten von Subarquitectura stehen zwar klar erkennbar in der Tradition ihrer Lehrer und damit der Moderne, haben aber einen bewussten Schritt in eine sehr eigene Richtung genommen; als jünger, unbeschwerter und fast beiläufig spielerisch könnte man ihren Ansatz beschreiben.
Augenblicklich arbeiten sie gemeinsam mit Torres Nadal an einem sozialen Wohnbauprojekt in Valencia im Entwicklungsgebiet Sociopolis, entwarfen ein energieoptimiertes Laborgebäude mit gläsernen Atrien für die Miguel-Hernández-Universität in Orihuela (Alicante), eine Sporthalle für Pedrequer und ein Wohnhaus außerhalb von Madrid.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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