Bauwerk

Dachgarten Integrationshaus Wien
Gregor Holzinger - Wien (A) - 2010
Dachgarten Integrationshaus Wien, Schaubild: Gregor Holzinger

„... Dächergarten ...“

Auszeichnung Outstanding Artist Award 2010

11. November 2010 - newroom
W. A. Mozarts letzter Auftritt wenige Tage vor seinem Tod galt einer kleinen Kantate, der letzen, die er zur Wiedereröffnung der „neugekrönten Hoffnung“ – seiner Freimaurerloge – komponierte und auch selbst dirigierte. 215 Jahre später überschreibt der Regisseur Peter Sellars das Jahr 2006 mit neuer Hoffnung, mit dem Festival „New Crowned Hope“: „da wo Mozart aufhören musste, machen wir weiter …“ , sagt Sellars und versammelt Musiker, Filmemacher, Gärtner, Köche, Architekten und Wissenschaftler, um eine neue Gesellschaft zu skizzieren. [1]

180 Jahre nach Mozarts Auftritt, um 1971, stellt John Cage „Demonstration of the Sounds of the Environment“ fertig. 300 Leute wandern dabei an zufallsbestimmten Wegen durch den Campus der Universität von Wisconsin und sammeln Geräusche und alles, was Sinne aufnehmen können.

Im Rahmen von „New Crowned Hope“ entsteht Gregor Holzingers Projekt „Dachgarten Integrationshaus Wien“, lieber würde ich von W. A. Mozart und Peter Sellars „new hope“ oder zumindest „hope“, Hoffnung, als Titel ausleihen, da dieses Projekt wohl ein Dachgarten ist, aber zuerst und zuallererst über Hoffnung berichtet. Einmal im politischen Sinn und einmal im künstlerischen Sinn, indem es exerziert was Sellars sagt: “Jede wichtige Kunst ist politisch und die Politik unserer Zeit braucht die Kunst überaus dringend …“. Indem es das bewerkstelligen kann, was Politiker unserer Zeit wie scheuende Springpferde verweigern, indem es Asylsuchenden (Ortsuchenden) eine Perspektive und einen Horizont gibt, der nicht einer irgenwo am Rand ist – nicht aus Minimalkonstruktionen, nicht aus temporären Konstruktionen, nicht für die allerwichtigsten Bedürfnisse – sondern ein Horizont, der den unseren übersteigen könnte, an wichtigster Lage, an der höchsten nämlich, die ansonsten Strategen, CEOs, Penthäusern, Kirchtürmen und Sendemasten vorbehalten ist - die des Ausblicks und des Überblicks über eine Stadt und eine Gesellschaft.

Und welcher Überblick, welcher Ausblick ist das nun? Es ist kein strategischer Ausblick, es ist kein politischer Ausblick, es ist kein Ausblick der missbraucht werden will, es ist auch kein Ausblick, der mit minimalsten Bedürfnissen argumentiert werden könnte – im Gegenteil, hier wird eine Atmosphäre spielerischen Überflusses erzeugt, von Gemüsen, Früchten, Gerüchen, Zeit und Entspannung, wie sie eben nur Gärten verbreiten können. Vielleicht ist es auch die Umkehrung von Christoph Schlingensiefs genialem, tiefschwarzen Containerprojekt vor der Wiener Staatsoper. Um noch einmal zu extrahieren, Gregor Holzinger macht klar, dass eine grundsätzlich architektonische Aktion, nämlich das Positionieren von gewählten Funktionen an gewählten Orten mit gewählt geformten Größen, Konstruktionen, Räumen und Blicken, politisch ist, und dass dort, wo Politker nicht mehr sprechen können, das eintrifft, was Sellars postuliert: “… die Politik unserer Zeit braucht die Kunst überaus dringend …“. Das ist das Eine.

„Demonstration of the Sounds of the Environment“, explizit „musical composition“ genannt, ist das Andere. John Cage verrückt hier 1971 seine Position des Komponisten einmal mehr, er stellt keine Musik zur Verfügung, sondern gebietet Schweigen, wenn er „300 Leute über einen zufallsbestimmten Weg in Schweigen“ über eine Stadt / Landschaft schickt. Was immer (u.a. auch an Tönen) wahrgenommen wird, ist Teil der Komposition, Musik? Ja? / Nein? Jedenfalls schiebt Cage hier einen beachtlichen Teil der Autorenschaft über den Tisch zum Hörer / Seher / Geher, verunklärt und öffnet das, was Musik ist.

Gregor Holzingers Dachgarten trägt davon einiges in sich. Sein sich materialisiertes Tun wird in einem ca. 300 m² messenden und detailiert konfigurierten „Blickpunkt“ konzentriert. Das Feld, das von diesem speziell konfigurierten, Blicke leitenden, Blicke organisierenden, Blicke definierenden „Punkt“ ausgeht, ist jedoch weit größer. Es umfasst ein bestimmtes Niveau der gesamten sichtbaren Stadt (oder des gesamten Sichtbaren überhaupt) und es legt Stadt frei – nicht im Sinne Camillo Sittes oder Colin Rowe´s, nicht im Sinne der Futuristen oder Situationisten, nicht im Sinne einer Promenade – sondern, indem es den Blick (nicht die Promenade) zum Werkzeug nimmt und die Oberfläche, die Dächer, als neuen Grund (Boden) und weiter die Dächer der Stadt als Garten definiert. Deswegen müsste dieses Projekt nicht „Dachgarten“ sondern „Dächergarten“ heißen, denn dieser „Dachgarten“ ist nicht Garten, sondern ein Instrument, das aus den Dächern der Stadt die Oberfläche eines großen Gartens macht und das Projekt beschränkt sich nicht auf das Integrationshaus, sondern es ist ein Projekt zur Art und Weise, wie wir Städte lesen und wem es möglich gemacht wird, Stadt zu lesen. Peter Sellars sagt in der Diskussion von „New Ground Hope“ Film sei die umfassendste aller künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, die wir zur Verfügung haben. Wie immer man dazu steht, das was Gregor Holzinger auf und um das Integrationshaus definiert, hat auch filmische Qualität.

Nun, es muss gemacht werden, auf das rote Wien könnte das Wien der offenen Plattformen folgen. Neue Blicke auf die Stadt! (Jurytext: Outstanding Artist Award 2010)
[1] Peter Sellars, http://www.newcrownedhope.org/fileadmin/popup1.php (101015) Statement zu „new crowned hope“ 2006

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