Bauwerk

Aussichtsturm an der Mur
terrain:loenhart&mayr - Gosdorf (A) - 2010
Aussichtsturm an der Mur, Foto: Marc Lins
Aussichtsturm an der Mur, Foto: Hubertus Hamm
10. Dezember 2010 - HDA
In einer Gesellschaft, die den Blick gerne direkt auf das Resultat heftet, geht zunehmend das Gespür für das langsame Werden, den Prozess und den Weg zum Ziel mit all seinen Entdeckungen verloren. Konfuzius beschrieb das bereits vor 2500 Jahren mit: „Der Weg ist das Ziel“. Und wenn manche Zeitgenossen dies für eine freundliche Umschreibung von Orientierungslosigkeit halten, kann man nur entgegnen, dass Getriebenheit auch kein Idealzustand ist. Die Architektur ist ein wunderbares Mittel menschliche Zustände abzubilden, zu forcieren oder zu erwecken. Und also nicht allein das an der Spitze angelangt sein, als Erlebnis zu empfinden, sondern auch die Etappen dieses Weges zu würdigen, ist Teil des Konzeptes des Murturms der Architekten Klaus K. Loenhart und Christoph Mayr.
Ein bewusster Fremdkörper aus Stahl und Aluminium rankt sich aus dem Auwald in der Südsteiermark in die Höhe, ein geometrisch anmutender Aussichtsturm, der sich doch so schlüssig in das Landschaftsbild einfügt wie ein harmonischer Kontrapunkt. In diesem Bereich der Südsteiermark nahe Bad Radkersburg verläuft die Grenze zu Slowenien, die Mur ist der Grenzfluss. Entlang der Grenzen zum ehemaligen Eisernen Vorhang verläuft auch der „European Green Belt“, das Grüne Band Europas, ein einzigartiges Naturgebiet, das aus der Situation der rigiden Abgrenzung entstanden ist. Heute ist es ein entspannter Ausblick an das andere Ufer, das Ziel, das man gemeinsam verfolgt ist die Renaturierung des Flusslaufes und der Aulandschaft. Vom Naturschutzbund unterstützt sollte der Turm zuerst lediglich als bauliches Zeichen für den „European Green Belt“ dienen, geworden ist daraus eine architektonische Skulptur und eine Blickmaschine auf die Landschaft.

168 Stufen lang geht man seinen eigenen Weg und doch ist man ineinander verschlungen, sieht die Landschaft in verschiedensten Etagen, blickt immer wieder unverhofft dem gegenläufigen Gegenüber ins Auge: zwei Treppenläufe schrauben sich ineinander verdreht in Richtung Himmel empor. Am höchsten Punkt dieses signifikanten visuellen Ankers, auf 27 Meter Höhe, entdeckt man schließlich, dass es sich um einen kontinuierlichen Weg handelt. In der Doppelung des Auf und Ab, mit einer räumlichen Verschraubung wird so das Gegenüber erzeugt.
Das System der doppelten Wendeltreppe mit sich begegnenden Stiegenläufen für Auf- und Abstieg hat eine prominente Ahnin in relativer Nachbarschaft. In der Grazer Burg zeugt sie seit 1499 von Experimentierlust und architektonisch-konstruktivistischer Virtuosität ebenso wie von einem räumlichen Erlebnis besonderer Art das den Ort zu einer kleinen Pilgerstätte Architekturschaffender werden ließ.
Auch Klaus Loenhart, der das Institut für Architektur und Landschaft an der Grazer TU leitet, war beeindruckt und inspiriert. Gemeinsam mit seinem Kollegen Christoph Mayr gelang es den Planern, die Poesie dieses historischen Ortes in die Landschaft zu übertragen.
Das Tragwerk des Aussichtsturmes orientiert sich am Prinzip eines Baumes. Unten der festere Stamm, nach oben hin immer zarteres Astwerk, besteht hier die Stahlkonstruktion aus Formrohren mit geringer werdendem Querschnitt. Eine statische Herausforderung für das Frankfurter Office for Structural Design war der Turm allemal.

Umso größer die Überraschung, als die auf den ersten Blick überraschend massiv wirkende und mehrfach verspannte Konstruktion sanft schwingt unter den Schritten. Betrachtet man die Konstruktion vom Boden aus, so stechen die elegant gelösten Knotenpunkte ins Auge. Die Form, die entsteht, durch die Art wie die Stahlträger aufeinander treffen und miteinander verbunden sind, ist mit Gestaltungslust durchdetaillierte Geometrie in der die Räumlichkeit des Turms zum Ausdruck findet.
Der Schimmer der aluminiumverkleideten Treppenbrüstung verändert das Kleid des Bauwerks mit jeder Witterung und Tageszeit. Die gekanteten Aluminiumtafeln schaffen einen Körper und ein Flächenspiel, ohne dabei die Durchlässigkeit zu zerstören. Das Fließende des umgebenden Elements, des eingegrabenen Flussbetts und des angeschwemmten, sie türmenden Treibguts, ist gleichsam aufgegriffen in der Struktur, der Bau entwickelt sich ebenso sanft wie prägnant aus der Topographie.

terrain:loenhart&mayr haben mit diesem Projekt mitten in der Naturlandschaft, die dem Biotopverbundsystem „Grünes Band Europa“ angehört, ein Zeichen gesetzt, das Natur in zweierlei Hinsicht inszeniert. Zum einen werden beim Durchschreiten des kontinuierlichen Treppenlaufs, durch das Motiv der Windung, sowohl hinauf als auch hinab, drehende Bilder der umgebenden Landschaft erzeugt. Der Blick ist gleichermaßen nach innen und nach außen gerichtet. Während aus der Ferne die Umrisse des Turmes von der Landschaft durchwirkt sind, entsteht beim Besteigen durch die Umschreibung eines Raumes mit den eigenen, gelenkten Schritten eine Art gefühlter Innenraum.

Zum anderen thematisiert das skulpturale Bauwerk in sich die Essenz der Natur, die Doppelhelix-Struktur, an der die Bausteine der DNA im Parallelschwung aufgefädelt sind. Organische Formen sind, dass lässt sich nicht nur mit dem Mikroskop beobachten, in vielen Fällen eine beeindruckende Allianz von Kurve und Kante, von Geometrie und freier, grenzenloser Ausuferung.

Nicht Berg-Gipfel sind es also, wie bei Goethe, sondern Baum-Wipfel des wunderbaren Auwaldes am Murufer bei Gosdorf sind es, die sich am höchsten Punkt vor dem Auge jener ausbreiten, die den Turm besteigen. Aber über allem ist Ruh´, es ist ein Ort zum Innehalten, für jene, die eben mit dem Fahrrad den Turm angesteuert haben, im Zuge des Morgenlaufs oder des Sonntagsspaziergangs. Es ist auch ein Ort, der schnell von der Bevölkerung in Beschlag genommen wurde, ebenso wie vom, hauptsächlich radelndenen touristischen Publikum. Grund für den hohen Grad an Identifikation mit dem Projekt ist unter anderem die Möglichkeit der Partizipation der Mitglieder umliegender Gemeinden in Form einer Spendenaktion. Man besucht das neue Bauwerk nun wie einen alten Bekannten, liest mit Stolz den eigenen Namen auf einer Tafel, lässt das Umfeld immer wieder und in allen Stimmungen des Jahres vom selben Punkt aus auf sich wirken. Zudem kann man auch die Fortschritte und Bemühungen um die Renaturierung dieser einzigartigen Aulandschaft beobachten, an der terrain:loenhart&mayr ebenso beteiligt sind.
Landmark und Steiermark haben sich an diesem also Ort gefunden. So wie Graz seinen Uhrturm, hat Gosdorf nun seinen Murturm. Der architektonische Wettstreit wird zugunsten des zeitgenössischen Beitrags entschieden. (Text: Lilli Hollein)

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Für den Beitrag verantwortlich: HDA

Ansprechpartner:in für diese Seite: Karin Wallmüllerbaudatenbank[at]hda-graz.at

Akteure

Architektur

Bauherrschaft
Gemeinde Gosdorf Orts- und Infrastrukturentwicklungs KG

Tragwerksplanung

Fotografie