Bauwerk

Bildungscampus Deutschordensstraße
SHIBUKAWA EDER ARCHITECTS - Wien (A) - 2022

Sag nicht Schule zu mir

Ein Campus kombiniert verschiedene Aufgaben – beim neuen Campus Penzing gehören dazu ein Inklusions-Cluster für Kinder mit Hörbehinderung und eine Musikschule. Infrastrukturen dieser Art werden wir in den nächsten Jahrzehnten vermehrt brauchen.

17. November 2022 - Christian Kühn
Wien wächst. Nach einem Tiefpunkt im Jahr 1988 mit unter 1,5 Millionen Einwohnern bewegt sich die Stadt gerade wieder auf die Zwei-Millionen-Grenze zu, die sie schon einmal, im frühen 20. Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg, überschritten hat.

Mit dem Wachstum einher geht der Bedarf an zusätzlichem Wohnraum, der entweder an der Peripherie in Stadterweiterungsgebieten befriedigt wird oder durch Verdichtung im Inneren, etwa auf den Flächen aufgelassener Industrie- und Gleisanlagen. Mit den zusätzlichen Wohnungen steigt die Nachfrage nach dem, was Planer gern „soziale Infrastruktur“ nennen, also nach Gesundheitseinrichtungen, Schulen oder Kindergärten.

Der Begriff „Infrastruktur“ kommt eigentlich aus dem militärischen Bereich und bezeichnet heute Einrichtungen, die im Hinter- und Untergrund für das Funktionieren einer Gesellschaft nötig sind. Schulen und Kindergärten in einen Topf mit Kanälen, Schnellstraßen und Brücken zu werfen ist aus architektonischer Sicht allerdings kein glücklicher Gedanke. Als wichtige soziale Einrichtungen sollten sie ja alles andere als im Hintergrund wirken – nämlich zu den schönsten und prägendsten Bauten eines Stadtteils gehören.

Die Entwicklung des Bildungsbaus in der Stadt Wien über die vergangenen Jahrzehnte war in dieser Hinsicht durchaus erfreulich. Die erste Welle ambitionierter Schulbauten geht auf das Jahr 1991 zurück, als unter Stadtrat Hannes Swoboda das „Schulbauprogramm 2000“ lanciert wurde, in dessen Rahmen über 30 neue Volks- und Hauptschulen errichtet wurden. Geplant wurden sie von renommierten Architekten, die vor dem EU-Beitritt noch in Direktvergabe zu ihren Aufträgen kamen, danach über Wettbewerbe.

Wiener Campusmodell

Die Spannweite der Lösungen war typologisch bescheiden, da man sich vom traditionellen Modell der Gangschule nicht trennen wollte; architektonisch lagen freilich Welten zwischen den Resultaten, zu denen Hermann Czechs im besten Sinne „manieristische“ Schule in der Fuchsröhrenstraße ebenso gehört wie Helmut Richters „gläserne“ am Kinkplatz, deren Schicksal nach Jahren des Leerstands ungewiss ist.

Da sich das Bevölkerungswachstum Ende der 1990er-Jahre überraschend abflachte, kam es auch im Bildungsbau zu einer kurzen Stagnation, in der unter der Ägide der Stadträtin und ausgebildeten Lehrerin Grete Laska ein neuer Typ von Schulgebäude erfunden wurde, das „Wiener Campusmodell“. Mit dem angelsächsischen Modell eines Campus, der in der Regel aus mehreren isolierten Gebäuden besteht, die in einen großzügigen Freiraum komponiert sind, hat der Wiener Campus nichts zu tun. Er besteht zwar aus mehreren Institutionen, meist Kindergarten, Volksschule, Hauptschule und anderen Einrichtungen wie etwa einer Musikschule. Diese Institutionen sind aber nicht auf der grünen Wiese verteilt, sondern in ein sehr großes Gebäude verpackt, in dem sich bis zu 1100 Kinder unterschiedlicher Altersstufen und mit unterschiedlichen Talenten beziehungsweise Förderbedarf tummeln. Die Verbindung der Einrichtungen soll unterschiedliche Betreuungskompetenzen zusammenführen und das Arbeiten in Teams erleichtern. Als erste Realisierung dieses Modells gilt der Bildungscampus Monte Laa von NMBP-Architekten, der 2010 eröffnet wurde.

Seit damals ist die Wiener Bevölkerung um rund 200.000 Einwohner gewachsen, und die Stadt hat neben der Sanierung und Erweiterung bestehender Schulen ihr Campusprogramm auf 14 Standorte erweitert. Ein wichtiger Meilenstein für die Entwicklung war der Campus Sonnwendviertel von PPAG-Architekten, der erstmals im Wiener Kontext eine Cluster-Typologie verfolgte, bei der mehrere Klassenräume um eine gemeinsame Mitte, den „Marktplatz“, angeordnet sind. Die Klassenräume sind keine Schachteln, sondern über Verglasungen mit dem Marktplatz verbunden. Kleine Annexräume zur Klasse bieten den Kindern eine Rückzugsmöglichkeit, und zu jedem Klassenraum gehört eine Terrasse für den Unterricht im Freien. Während im Sonnwendviertel der Kindergarten und die Volksschule separiert bleiben, befinden sich bei den jüngeren Projekten Räume für den Kindergarten und die Volksschule in einem gemeinsamen Cluster, wodurch der Übergang zwischen den beiden Institutionen unterstützt wird.

Der mit dem laufenden Schuljahr in Betrieb gegangene Campus Deutschordensstraße in Penzing ist das jüngste in einer Reihe von Campusprojekten, die durch ihre städtische Figur und eine Gebäudehöhe von bis zu fünf Geschoßen auffallen. Das Grundstück liegt nordseitig direkt an der Westbahn und südseitig an einem Grünzug, der parallel zur Bahn alte und neue Wohnhäuser verbindet. Die Architekten Misa Shibukawa und Raphael Eder setzen ihren Bau an die nordwestliche Ecke ihres Grundstücks und treppen ihn südseitig über vorgelagerte Terrassen ab. Dabei entsteht ein öffentlicher Vorplatz mit dem Haupteingang in den Campus, der in ein Foyer mit doppelter Raumhöhe führt. Von hier aus geht es über zwei Treppen, die jeweils einen Cluster erschließen, nach oben. Diese Treppen haben Aufenthalts- und Entdeckerqualität: Die Architekten haben angrenzend jeweils über zwei Geschoße reichende Lufträume implantiert, in denen Pflanzen nach oben wachsen.

Platz für Visionen

Seinen besonderen Charakter bekommt der Campus durch die südseitigen Terrassen. Aus dem einfachen rechteckigen Grundriss wächst hier eine vertikale Landschaft von großer Heiterkeit nach oben. Das liegt nicht zuletzt an den minzgrün gestrichenen Geländern, die leicht diagonal zu einem Muster verschweißt sind, dessen Geometrie von der nächsten Fassadenebene, den Rankgerüsten, aufgenommen wird. Außen liegende Jalousien und Sonnensegel schützen die Klassenräume und die Freibereiche vor sommerlicher Überhitzung. Während sich die älteren Kinder, die in beiden obersten Geschoßen einquartiert sind, eher auf diesen Terrassen aufhalten werden, steht der Kleinkindergruppe ein großzügiger Freiraum zur Verfügung, der auf den ehemaligen Bahndamm Bezug nimmt und von den Simma Zimmermann Landschaftsarchitektinnen als kleinteilige Spiellandschaft gestaltet wurde.

Zur Nordseite gibt sich das Campusgebäude mit schmalen Fensterschlitzen eher zugeknöpft. Dass die Bahngleise hier auf ewige Zeiten bestehen bleiben, ist allerdings nicht zu erwarten. Wahrscheinlich reichen hier wenige Gleise als Zubringer zum Westbahnhof, und dann wäre Platz für Visionen: ein Westpark auf der Strecke von Hütteldorf bis zum Gürtel, gemischt mit Wohnbebauung an den richtigen Stellen. Dann wird auch die neue soziale Infrastruktur nicht mehr ausreichen und um neue Campusstandorte ergänzt werden müssen.

Einen Bildungscampus als „Schule“ zu bezeichnen ist für die Pädagogen der Stadt Wien übrigens fast ein Sakrileg. Tatsächlich ist das Besondere eines Campus die Kombination vieler Funktionen, die früher separiert waren. Beim Penzinger Beispiel gehören dazu ein Inklusions-Cluster für Kinder mit Hörbehinderung und eine Musikschule. Vielleicht schafft es die Stadt Wien eines Tages, noch einen Schritt weiterzugehen und weitere Institutionen zu integrieren, etwa ein Tageszentrum für Senioren. Das ist die „soziale Infrastruktur“, die wir in den nächsten Jahrzehnten brauchen werden.

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