Bauwerk

Museum Franz Gertsch
Jörg + Sturm - Burgdorf (CH) - 2002

Der Triumph des Marathonmalers

Franz Gertsch gehört mit seinen grossformatigen Bildern und Holzschnitten zu den wichtigsten Gegenwartskünstlern. In Burgdorf erhält er nun ein eigenes Museum. Ein Porträt

20. Oktober 2002 - Gerhard Mack
«Es ist schon etwas Besonderes, wenn man ein eigenes Museum erhält», sagt Franz Gertsch, und in seinem Lächeln liegt ein stiller Triumph, der an die langen Durststrecken öffentlicher Missachtung erinnert. Wenn am kommenden Sonntag in Burgdorf bei Bern die Sektkorken knallen und das Franz-Gertsch-Museum zur Eröffnung lädt, steht der Maler auch in der öffentlichen Meinung der Schweiz endlich da, wo er hingehört. Welcher Künstler hat hierzulande schon ein eigenes Museum? Ernst Ludwig Kirchner in Davos, der Bildhauer Hans Josephsohn in Giornico und jetzt Franz Gertsch in Burgdorf. Der 72-Jährige ist ein Klassiker der internationalen Gegenwartskunst. Wer mag da daran erinnern, dass die Presse im Land noch 1980 geiferte, als Gertsch im Kunsthaus Zürich eine grosse Ausstellung hatte. Dass er bereits acht Jahre zuvor zu Documenta-Ehren gekommen war, half damals nichts, er wurde als Fotorealist abgestempelt und als Souvenirsammler der Zeitgeschichte beschimpft.

Gertsch photographierte Menschen aus seiner Umgebung, die Familie, die Freunde, andere Künstler, projizierte die Lichtbilder übergross auf Leinwand und malte präziser und greller, als die Photographie es konnte, im Cinemascope-Format junge Menschen, die vor Lebenslust und Unsicherheit vibrierten. Gleich, ob Kinder am Strand spielen, Langmähnige auf der Älggi-Alp Rast machen oder die Rockmusikerin Patti Smith Texte ins Mikro haucht: Wer heute auf diese Bilder schaut, spürt in jeder noch so beiläufigen Geste den Aufbruch der sechziger und siebziger Jahre. Für diese Ikonen einer Epoche bezahlt man, wenn sie überhaupt auf den Markt kommen, auch mal einen siebenstelligen Betrag.

Inzwischen verzichtet Gertsch auf dieses Zeitkolorit; seit er 1976 mit der Familie von Bern nach Rüschegg ins Berner Oberland umgezogen ist, sind seine Bilder ruhiger und intensiver geworden. An der Stirnwand des Ateliers im alten Bauernhaus hängen die Druckplatten für einen monumentalen Holzschnitt, an dem der Künstler gerade arbeitet. Eine schlafende Frau liegt im Vordergrund am Strand. Ihr nackter Körper wirkt verführerisch und entrückt zugleich. Die Natur verflüchtigt sich, als wäre sie ein Traum, den die Schlafende gerade träumt.

Franz Gertsch hat das Foto von seiner Frau vor dreissig Jahren bei einem Ferienaufenthalt gemacht und vor einiger Zeit wieder gesehen. Aus der Vorlage ist sein erstes Aktbild entstanden. Als Gemälde wäre es ihm zu aufdringlich gewesen, sagt er; als Holzschnitt wirkt es verhalten. Man denkt an die klassischen liegenden Aktfiguren von Tizian bis Goya und Ingres, doch keine besitzt die Scheu einer flüchtigen Erinnerung, die Gertsch ausdrückt.

Seinen ersten grossformatigen Holzschnitt hat Franz Gertsch 1986 gemacht. Damals malte er «Johanna II» zu Ende, eines jener grossformatigen Frauenporträts, denen er sich Ende der siebziger Jahre zugewandt hatte, und suchte nach einem Weg, realistische Bilder zu schaffen, die monochrom sind. Der Holzschnitt bot eine Technik, die es überdies erlaubte, den Figuren eine hohe räumliche Präsenz zu geben und sie dennoch zu unnahbaren Erscheinungen zu machen.

Dieser meditative Sog verdankt sich nicht zuletzt einer extrem langsamen Arbeitsweise. Wenn Gertsch auf ein Motiv stösst, fertigt er davon zunächst viele Photographien. Die Auswahl ist eine Qual. Was schliesslich als Malvorlage dient, zeigt ein besonderes Licht, einen hellen Schimmer auf Grashalmen, die Reflexe von Reifkristallen in einem Fluss oder die Offenheit eines Frauengesichts, das noch nicht die Bestimmtheit von Cover-Schönheiten aufweist, sondern eher nach seinem Platz in der Welt zu fragen scheint. Die Anzahl der Sujets ist begrenzt: Die Porträts junger Frauen, Szenerien aus Wasser und Steinen, Pflanzen wie der Pestwurz und Waldgräser machen das Repertoire der letzten achtzehn Jahre aus. Sie alle besitzen eine dingliche, vorbewusste Präsenz, die sich einer genauen Bestimmbarkeit entzieht. Dieses «Wunder gilt es dann in das Bild zu übertragen», sagt Gertsch.

Stück für Stück arbeitet er sich mit dem Pinsel oder dem Hohleisen voran. Die Farbe wird auf die unbehandelte Baumwolle aufgetupft, die Holzschnitte entstehen durch Tausende von kleinen Lichtpunkten, die Gertsch aus der dunkel eingefärbten Holzplatte sticht. Sie konturieren Licht und Schatten, Flächen und Linien. 20×25 Zentimeter sind ein Tagwerk. «Tageslandschaften» nennt Gertsch solche kleinen Flächen. Jede Fläche wird für sich perfekt zu Ende geführt, Teilstück fügt sich an Teilstück wie die Elemente eines Puzzles, das der Künstler in sich trägt. Bis zu einem Jahr kann es dauern, bis ein Bild fertig ist.

Diese Intensität ist es vor allem, die Gertschs Frauen-Bildnisse von den Fotoporträts Thomas Ruffs unterscheidet, die mit ihm gelegentlich in Verbindung gebracht werden. «Man kann beides nicht vergleichen, ein Photograph fährt mit dem Schnellzug nach Berlin, ich gehe zu Fuss und nehme bei der Wanderung sehr vieles mit», sagt Gertsch. Seine Porträts erinnern in ihrer psychologischen Tiefe eher an Bildnisse aus der Renaissance. Dürer und Leonardo da Vinci haben ihn in Kunstbüchern schon als Bub fasziniert. «Malerei braucht Tradition», sagt Gertsch.

Dabei kommt neben der Verwendung von Fotoprojektionen vor allem die Sinnlichkeit des Materials zum Tragen. Das vierte Bild von Grashalmen, das im Atelier zuletzt fertig wurde, ist ganz mit Mineralfarben gemalt, die Gertsch selbst mischt. Die kleinen Kristalle von Gelb, Lapislazuliblau, Grün, Orange und Ocker geben den Gräsern einen matten Glanz, der sich mit industriell produzierter Farbe aus der Tube nicht erreichen liesse. Die Pigmente kauft Gertsch teilweise in Japan. Von dort bezieht er auch die grossformatigen Papiere für seine Holzdrucke. Papier, Farbe, Sujet müssen zusammenstimmen, nur dann scheint Schönheit auf. «Und die ist von Anfang gewollt», sagt Gertsch, als müsse er eine Oase gegen das Elend der Welt errichten. Für Gesellschaftskritik ist ihm Kunst nicht geeignet.

Draussen schlägt der Regen gegen die Fenster. Die Hügel verschwinden hinter Dunstschleiern. Die Natur entzieht sich und bleibt dennoch spürbar. Alles ist stille Gegenwart. Wie die Sujets auf Gertschs Bildern.


Raue Schale, weicher Kern: das Gertsch-Museum

Willy Michel hat sein Vermögen mit Infusionssystemen erworben. Als er 1998 mit dem Künstler Franz Gertsch bekannt gemacht wurde, war das ein Glücksfall. Der Unternehmer suchte eine Gelegenheit zur guten Tat in seinem Heimatort, der Künstler wollte sein Werk möglichst zusammenhalten. Die Chemie zwischen beiden stimmte. Michel erwarb alle fünf Gemälde und fünfzehn Holzdrucke, die Gertsch seit 1987 geschaffen hat, und brachte sie in eine Stiftung ein. Dann kaufte er von der UBS ein Grundstück und beauftragte die Berner Architekten Jörg + Sturm, ein Museum zu bauen.

Hansueli Jörg und Hans Martin Sturm hatten bereits einen Nutzungswettbewerb der Bank für sich entschieden. Das ehemalige Milka-Areal markiert städtebaulich eine Gelenkstelle. Auf der einen Seite lockt die historische Oberstadt von Burgdorf mit ihren Arkaden, auf der anderen Seite erstreckt sich die Unterstadt in einem rechtwinkligen Raster. Die neue Bebauung des Grundstücks sollte zwischen beidem vermitteln.

Jörg + Sturm entschieden sich für das Prinzip der Implosion und setzten einen brachialen Betonbau ins städtische Gewebe, der vielleicht durch seine Fremdheit Gravitationskräfte fürs Quartier entfaltet. Kunst wird diesem Ort implantiert wie ein künstliches Hüftgelenk und ist erst einmal gegen Abstossungsreaktionen zu schützen.

Das Museum besteht aus zwei schlichten Betonkuben, die an einen Treppenturm angelagert sind. Hangaufwärts öffnet sich der zweigeschossige Baukörper mit der Verglasung von Cafeteria und Empfangsbereich zur neu geschaffenen kleinen Plaza. Das talseitige Volumen dagegen ist verschlossen wie eine Trutzburg für das kostbare Gut Kunst. Im Innenhof, den beide Betonkuben mit einem benachbarten Wohn- und Geschäftshaus umschliessen, wirkt diese Abgeschiedenheit fürs Erste etwas bedrückend.

Die abweisende Hülle birgt wunderbarerweise Räume, die bestens auf die stillen Werke Franz Gertschs abgestimmt sind, die sich hier in einzigartiger Dichte bewundern lassen. In enger Zusammenarbeit mit dem Künstler wurden auf drei Etagen fünf Ausstellungsräume mit insgesamt tausend Quadratmetern Fläche geschaffen. Sie halten vom Kabinett bis zum grossen Saal eine Fülle von Präsentationsmöglichkeiten bereit und können bei Bedarf auch für Videoprojektionen genutzt werden. Die klassischen «white cubes» strömen eine angenehme Ruhe aus. Signalelemente sind in die Durchgänge gelegt. Für die Belichtung wurde auf seitliche Oberlichtbänder und Kunstlichtflächen in der Decke zurückgegriffen, wie Herzog & de Meuron sie andernorts entwickelt haben.

Finanziell steht das neue Haus vorerst auf einem komfortablen Fundament. Der Mäzen Willy Michel bezahlt nicht nur die zwanzig Millionen Franken für den Bau des Museums, er kommt vorerst auch für die laufenden Kosten und für Sammlungsankäufe auf.

Auf längere Sicht soll ein neuartiges Trägermodell für die notwendigen Mittel sorgen. Die Stiftung Willy Michel wird ergänzt durch einen Freundeskreis und vor allem durch die «Galerie im Park», die oberhalb des neuen Museums domiziliert ist. Ihr hat Gertsch die Exklusivrechte für die Schweiz übertragen. Daneben soll internationale junge Kunst gezeigt werden. Die Gewinne kommen direkt dem Museum zugute. Galerie und Museum werden beide von Reinhard Spieler in Personalunion geleitet.

[ Museum Franz Gertsch, ab 27. 10., Di-Fr 11-19, Sa+So 10-17 Uhr, 034 421 40 20 ]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Akteure

Architektur

Bauherrschaft
Willy Michel